Читать книгу Hurra, die Lichtfilzlinge kommen - Julianne Becker - Страница 18

Der nackte Bauch

Оглавление

Als nächstes entschied ich mich ohne jegliche Inspiration ein dickes Kuscheltier zu filzen. Zu den Eigenschaften „dick und kuschelig“ fiel mir eine Raupe ein. Das war auch kein Wunder, denn zu der Zeit hing ich mit Theo zusammen essend und krümelnd vor dem Fernseher herum. Ich liebte die Geschichte von der kleinen Raupe Nimmersatt und träumte von einer mindestens ebenso gravierenden Veränderung meines Körpers, ich wollte so gerne abnehmen und viel beschwingter so durchs Leben dahinschweben. Währenddessen konzentrierte ich mich auf die Raupe. Richtig groß und dick sollte sie werden. Es gab keinen drängenden Wunsch in mir und ich musste auch nicht ständig daran weiterarbeiten, so wie ich das bei Theo erlebt hatte. Sie wurde sehr weich und kuschelig, aber vor allem riesig. Mit einem Kopf so groß wie ein kleiner Kohlkopf kam sie auf eine stattliche Länge von 60 cm. Süß sah sie aus.

Aber als ich sie stolz betrachtete, merkte ich deutlich, dass sie mich langweilte, sie wirkte nämlich nur nett. Und nette Püppchen, die einfach als Staubfänger rumsaßen, interessierten mich eigentlich überhaupt nicht, das war mir zu wenig. Nächstes Mal wollte ich doch lieber wieder meiner Inspiration folgen. Ich drapierte die fertige Raupe in mein Werkstattfenster und es dauerte nicht lange, da konnte ich sie an eine Nachbarin verkaufen. Und die Raupe passte: Eigentlich war diese Nachbarin auch eine sehr nette.


Ich hatte die Raupe kaum ins Fenster gelegt und noch nicht überlegt, was ich als nächstes filzen sollte, da erhielt ich einen Anruf meiner Freundin Mara, ob ich wohl einer jungen Frau aus ihrem Bekanntenkreis helfen könne, die kein Geld hatte. Sie dachte dabei an eine Atemsitzung. Mara kannte das von mir. Man konnte damit alte Traumata heilen. Das war eine tolle Sache und ich damals außerdem immer bereit, mit meinen Talenten zu dienen. Wir vereinbarten einen Termin drei Tage später und Mara erzählte dann noch ein wenig von der Frau. Sie war HIVpositiv ohne bisherige Symptome, aber ihr zweijähriger Sohn hatte lebensbedrohliche Krebssymptome. Nach dem Telefonat ging mir der kleine Junge mit HIV nicht aus dem Kopf. Es spielte keine Rolle, wie müde ich mich fühlte, ich hatte nur noch den dringlichen Wunsch, eine kleine Puppe zu filzen, und sonderbarerweise sollte der Bauch nackt bleiben. Sie bekam wilde, rote Wuschelhaare und strotzte nur so vor Lebenskraft und Lebenslust.

Die mittellose Mutter hatte die Puppe nicht bestellt, also würde ich sie verschenken müssen. Ich schlief nur kurz und arbeitete am nächsten Tag bis abends an dem kleinen Knirps, ich fühlte mich dabei so angetrieben wie bei Theo, diesmal aber von Gott selbst oder zumindest von der Seele des echten kleinen Jungen, denn ich achtete nun peinlich genau darauf, womit ich mich verband. Endlich saß die Puppe im Regal. Zwei Tage hatte ich für sie gebraucht. Nun wollte ich zu Bett gehen, das hatte ich mir verdient, aber nein, es ließ mich nicht los, ich konnte nicht schlafen. So stand ich resigniert wieder auf und folgte meinem Impuls: Ich sollte auch noch einen kleinen Engel machen, süß und rosa. Nun gut, auch der war fertig, als der Samstag kam...


Ich bat die Frau herein und wir redeten zum Warmwerden ein wenig über dies und das. Dabei fand ich heraus, dass sie Hilfe suchte für ihre überforderte und gebeutelte Psyche, ohne etwas Bestimmtes zu erwarten. Und so wechselte ich spontan in die klientenzentrierte Gesprächstechnik und ließ sie erzählen. Nach einer Stunde brachte ich die Sitzung zu Ende und schenkte ihr die beiden Puppen für ihren Sohn. Die junge Mutter war sehr gerührt und ich natürlich auch. Und ich erklärte ihr, dass es ihren Sohn vielleicht unterstützen könnte, wenn sie die Puppen zu ihm ins Bett legen würde. Zum Spielen seien sie vielleicht nicht haltbar genug. Die Mutter lachte, als sie den nackten Bauch der Puppe sah.

„Mein Junge liebt seinen Bauch besonders. Er würde am liebsten nur mit nacktem Bauch herumlaufen und wenn ich nicht aufpasse, zieht er sich immer aus. Und rote Haare hat er auch.“

Whow, ich staunte nicht schlecht: Da hatte ich die Haarfarbe und die Angewohnheit des Kindes genau getroffen. Dann würde ihr Sohn ja die Puppe bestimmt mögen. Ich verabschiedete die junge Mutter in dem Gefühl, alles getan zu haben, was in meiner Macht stand, um ihr und dem Kind zu helfen. Später hörte ich von Mara, dass der kleine Sohn seine Puppe „starker Junge“ getauft hatte und sie gefiel ihm tatsächlich sehr.

Lange hörte ich nichts von Mutter und Sohn, bis nach vielen Wochen irgendwann ein Brief eintraf. Sie hatte mit dem Kind in eine Spezialklinik ins Ruhrgebiet wechseln müssen. Tagelang blieb das Fieber gefährlich hoch, egal was die Ärzte machten, und die Mutter sorgte sich sehr. Da erinnerte sie sich schließlich daran, dass in ihrem Koffer in der Elternwohnung noch die beiden Puppen lagen und sie spürte auch, es sei dringlich sie zu ihrem Sohn ins Bett zu legen. Und obwohl es schon spät am Abend war, fuhr sie noch einmal ins Krankenhaus und legte ihrem Kind die Puppen ans Fußende. Am nächsten Morgen war das Fieber verschwunden und sie so froh, dass sie mir augenblicklich schreiben musste.

Das rührte mich zu Herzen, denn gab es etwas, was mich mehr mit Sinn erfüllen konnte? Ich fühlte mich in Gnade. Gerne hätte ich der jungen Frau geantwortet, aber das schien wohl nicht vorgesehen, denn die Mutter hatte zwar um eine Antwort gebeten, aber ihre Adresse nicht angegeben.

Auf meinem spirituellen Weg waren mir viele Menschen begegnet, die auf die eine oder andere Weise als Heiler oder Therapeuten arbeiteten. War ich eine Puppenheilerin? Konnte ich in Filz formen, was ein anderer Mensch brauchte? Denn diese Puppe signalisierte Gesundheit und strotzte nur so vor Kraft. Und ich kannte diesen Jungen nicht einmal und hatte doch den richtigen Impuls mit dem nackten Bauch! Vielleicht hatte dann auch Barbara die Feuerfrau gebraucht und Sonja den Dionysos? Ich war auf einem guten Weg, so viel stand fest. Aber damit begann ich auch, mich mit den Puppen zu identifizieren. Ich machte solche besonderen Puppen und ich wollte so gerne heilen! Ich stellte mir vor, dass meine Puppen unendlich viel Gutes bewirken würden. Das scheint aus heutiger Sicht natürlich maßlos überzogen, denn einmal Fieber senken war ja noch keine Heilung.

Ich erzählte auch begeistert davon in meinem Freundeskreis und erhielt prompt zwei Bestellungen von besorgten Müttern, weil ihr Kind so oft erkältet war. Ich mühte mich redlich und verband mich mit dem Allerhöchsten. Auch handwerklich wurde ich immer besser, zwei niedliche kleine Püppchen entstanden, aber die Bestellung machte mir keine Freude. Und die Resonanz auf meine Puppen blieb dann auch eher mäßig, wie eigentlich nicht anders zu erwarten war, denn es fehlte mir jegliche Inspiration beim Tun. Die Püppchen wurden nur ganz nett. Aber die Kinder waren genauso oft erkältet wie vorher.

Erst als ich öfter Bestellungen ausführte, erkannte ich den Unterschied: Die einen entstanden „zufällig“ aus mir selbst heraus und stimmten; die Wirkung der anderen wollte ich erzwingen und arbeitete aus Gefälligkeit oder für Geld, und dann filzte ich auch relativ lustlos vor mich hin. Der starke Junge passierte mir einfach, mit den anderen Puppen wollte ich selbst Heilung erzeugen. Aber nicht ich, nur Gott allein blieb für Heilung zuständig, und durch mich fand er nur seinen Weg in die Puppen. Diesen Hintergrund vermutete ich bei Puppen, die nichts bewirkten. Ich selbst konnte das nicht, auch nicht auf Bestellung, nur Gott konnte das durch mich. Oder anders gesagt: Meine Puppen wurden banal, wenn ich mich auf Bestellungen einließ und bestimmte Eigenschaften wie „Heilung von Erkältungen“ hineinzaubern wollte.

Hurra, die Lichtfilzlinge kommen

Подняться наверх