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WENN DICHTUNG FLIEßT WIE WEIN

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Man muss immer trunken sein. Das ist alles … Doch womit? Mit Wein, mit Poesie oder mit Tugend? Womit ihr wollt. Aber berauscht euch.


CHARLES BAUDELAIRE

Natürlich könnte ich jede Menge Philosophisches auf diesen Seiten ausbreiten, mich über dies oder jenes auslassen, versuchen, die Widerspenstigen zu bekehren, die Willigen zu bestärken und die Überheblichen zu züchtigen. Nur ist das einfach nicht mein Stil. Ich fange lieber da an, was Wein für mich ist: in Flaschen gefüllte Dichtung. Besser gesagt: pure Emotion. Denn genau das kann eine simple Flüssigkeit in uns bewirken: zu Tränen rühren, zum Lachen bringen, glühende Begeisterung entfachen oder zu stillem Nachsinnen führen.

Nimm zum Beispiel den nächsten Abschnitt. Er ist mein Versuch, die unzähligen Bilder zu fassen, die mir im Frühjahr 2016 nach einer besonders überwältigenden Verkostung in der Quinta do Vallado in Portugal durch den Kopf gingen. Ich war einer der wenigen Auserwählten, die einen unglaublich seltenen Portwein verkosten durften, der seit 1888 im Fass reifte. Der ursprünglich nur für mich selbst geschriebene Text erwies sich als so überzeugend, dass ihn das Weingut als Hommage in seiner Festschrift zum 300. Jubiläum abdruckte. Er ist auch der bis heute reinste Ausdruck meiner persönlichen Philosophie und meiner aufrichtigen Verehrung für dieses geheimnisvolle, magische Geschenk, das man als Wein kennt. Mit höchster Kunst bereitet und gepflegt, ist Wein eine der unmittelbarsten Verbindungen, die wir Menschen mit der Natur eingehen können. Ich hoffe, dass die folgende Prosa in deiner Seele eine bestimmte Saite anschlägt, wie und in welchem Rhythmus auch immer. Und wenn nicht jetzt, dann vielleicht nachdem du dieses Buch gelesen hast und auf dem Weg zur echten Kennerschaft bist: Verlass dich drauf, auch in dir wird der Beat zu grooven beginnen.


Quinta do Vallado im Douro-Tal

Ich blicke auf diese majestätische Flüssigkeit aus scheinbar uralten Zeiten und frage mich, wo ich überhaupt anfangen kann. Wie nur soll ein einfacher Sterblicher, der erst kurze Zeit auf diesem Planeten verbracht hat, etwas über ein Monument wie dieses aussagen? Ein wahrer Monolith, der dem unerbittlichen Zahn der Zeit widerstanden und nicht schlechter, sondern eher noch besser daraus hervorgegangen ist.

Allein schon aus der zeitlichen Perspektive betrachtet, kann man nur versuchen sich vorzustellen, wie die Welt zu jener Zeit aussah, als dieser Wein seinen außerordentlichen Anfang nahm. All das, was er gesehen und ausgehalten hat, seit er von seinen mütterlichen Wurzeln getrennt wurde. Thomas Edison hatte gerade sein Patent für den Filmprojektor eingereicht, der erste Säugling wurde in einen Inkubator gelegt, der Trinkstrohhalm erschien und zum allerersten Mal wurde klassische Musik aufgenommen. Die erste moderne Abstimmung fand statt, Jack the Ripper hielt London in Angst und Schrecken, während Van Gogh mit frisch abgesäbeltem Ohr noch nichts von diesem seltsamen neuen Schreibgerät wusste, dem Kugelschreiber.

Weine wie diesen zu verkosten sind im Leben einmalige Gelegenheiten, und es sind tatsächlich auch die Momente, in denen man sich spürt. Sich erinnert. Den Schmerz fühlt. Sich sehnt. Schwelgt. Sie erzwingen … nein, regen eher an, sich mit der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Und jeder dieser vom Himmel gesandten Tropfen bringt eine Transzendenz mit sich, eine Flüssigkeit aus Körpererfahrung, die so viele kostbare, lang vergessene Augenblicke wieder deutlich aufleben lässt.

Das unverwechselbare Krachen eines Ahornholzschlägers auf einen staubigen Baseball, der bei meinem ersten Spiel in der Little League direkt in meinen frisch geölten Lederhandschuh fliegt. Die Belohnung dafür, dass ich das Spiel gewonnen habe: eine Handvoll der besten English Butter Toffees meiner Mutter, die ich wie einen gefundenen Schatz in meiner kleinen heißen Hand halte. Die Heimkehr an ein prasselndes Feuer, in die heimelige Umgebung zwischen Fichten- und Zedernholz, das Knacken der Glut, das in den Ohren knistert und den Eierflip an meinen Lippen wärmt. Der feurige Duft von Zimt, Nelken und Anis, der in der schwindenden Glut durch das Zimmer tanzt.

Oder an faule Tage am Meer, den Geruch von frisch geröstetem Kaffee, so bittersüß wie die Kerne einer Chambertin-Traube, die den größten Jahrgang des Jahrhunderts ankündigt. An den Duft, der von der Küche herüberweht und sich mit den warmen Brisen der salzigen Meeresluft vermischt. Die verschwenderische Nussigkeit feiner Marcona-Mandeln flirtet mit der Opulenz getrockneter Feigen, Sultaninen und dekadent üppiger Trockenpflaumen, unterbricht kurz schmutzige Storys und geistreiche Bemerkungen, während der berauschende Duft kubanischer Maduros langsam die Nacht verglimmen lässt. Alter Cognac rinnt schlückchenweise über die Zunge wie von den reifsten Mandarinen, der aufregende Biss der Blutorange beschwört ostindische Expeditionen vergangener Jahrhunderte herauf. Überirdische Aromen, mehr Fabel als Wirklichkeit.

An die frischen Morgen auf dem Schloss eines Freundes, die dicken Mauern voller Geschichte, Triumphe, Grausamkeiten, packend wie die Aromen in diesem Glas. Sie schweben um mich herum, sind da, mehr ein Gefühl als etwas Fassbares. Ein Spaziergang durch die Anlagen im Herbst, der Duft von Laub auf dem moosigen Boden, frischer Tau glitzert auf dem Unterholz. Wie eine prachtvolle Mahagonitäfelung, behängt mit alten Tapisserien, deren Moschusduft betört und ebenso zeitlos ist wie ihr ehrwürdiges Erbe.

Weine wie diesen kann man besser mit Emotionen ausdrücken als mit Worten. Mit Impressionen einer fantastischen Reise statt mit sterilen Fakten, Punkten und Potenzialen. Denn Momente wie dieser haben mit bloßem Wein nichts mehr zu tun. Es sind ganz eigene Erfahrungen. Momente, in denen die Zeit stillsteht, und doch die gesamte Zeit auf einmal abzulaufen scheint. Sie sind wahrhaftig außergewöhnlich und selten und müssen von den Wenigen, die das Privileg und das Glück haben, sie zu erleben, hoch geschätzt werden. Natürlich könnte ich noch seitenweise weiter die herrlich berauschende Schönheit dieses außergewöhnlichen Exemplars feiern, doch eine absolute Wahrheit zwingt mich zur Kürze: Alle Schönheit liegt am Gaumen des Schmeckenden. Meine Geschichte ist hiermit geschrieben, nun es ist Zeit, dass Sie die Ihre schreiben.

Quinta do Vallado „A.B.F“ 1888

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