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SEI EINS MIT DEINER UMWELT, WO ZUM TEUFEL DU AUCH IMMER GERADE STECKST


On ne peut pas connaître un pays par la simple science géographique … On ne peut, je crois, rien connaître par la simple science; c’est un instrument trop exact et trop dur … Le monde a mille tendresses dans lesquelles il faut se plier pour les comprendre avant de savoir ce que représente leur somme.


JEAN GIONO, „L’EAU VIVE“

Und nun, da wir auf dem Weg zur Wein-Zen-Erleuchtung sind, fragst du dich vielleicht: Wie um alles in der Welt soll ich denn all diese verrückten Geschmäcker und Aromen in meinem Wein erkennen? Auf die Gefahr hin, komplett durchgeknallt oder völlig naiv zu klingen, läuft es auf Folgendes hinaus: Mit NUR EINER VERÄNDERUNG in deiner täglichen Routine kannst du deinen GESCHMACKSSINN so trainieren, dass er wahrnimmt, verarbeitet und analysiert wie der eines Topsommeliers. Und was ist dieser kleine Unterschied? Aufmerksamkeit und Gedächtnis. Die einzige Disziplin, die einen Profisommelier von einem Hobbyweintrinker unterscheidet, ist, dass wir jeden Augenblick darauf verwenden, alle vorhandenen Aromen, alle Düfte, jeden Gestank, jeden Eindruck bewusst zu registrieren. Sie umgeben uns ja unentwegt, Tag für Tag. Die Frage ist nicht, ob es sie gibt, sondern ob du darauf achtest, sie wahrzunehmen. Wir „Somms“ reservieren in unserem Arbeitsspeicher ungeheuer viel Platz für die „Werkzeuge“ unseres Berufs: Sinneswahrnehmungen. Zum Beispiel, um den Rebsortencharakter, das Alter und die Qualität von Weinen zu identifizieren, und zwar nicht nur in Blindverkostungen, sondern auch, wenn wir Weine beurteilen: Soll man sie kaufen, haben sie Fehler, wie weit sind sie entwickelt, sind sie gut genug zum Servieren, haben sie das Potenzial zum Einkellern? Und wir versuchen, auch neue oder unbekannte Weine auf diese Weise zu verstehen. Und wie kommst du dahin? Mach einen Spaziergang.

Halt an und rieche die Rosen

Wenn ich hinausgehe, drehen sich augenblicklich die Rädchen in meinem Kopf und in meinem Riechzentrum. Ich komme an einer Baustelle vorbei und rieche frischen Asphalt, doch das ist nur der Anfang. Schnell wird dieser erste Eindruck zu einem lebhaften Bild von Barolo. Asphalt ist mein persönlicher Trigger für den teerartigen Charakter der Nebbiolo-Traube; mit diesem rauchigen Hauch assoziiere ich Röstkaffee und in Weinbrand eingelegte Sauerkirschen. Nimm dann noch getrocknete Rosen, Leder, Trüffel und ein bisschen trockenen Waldboden mit Herbstlaub dazu, und voilà: Nebbiolo – in seiner vornehmsten Heimat, dem Piemont. Ich laufe dann durch den Park, wo die Gärtner gerade das Gras mähen. Dieses scharfe, stechend grüne Aroma erinnert mich an grüne Paprikaschoten; es mischt sich mit dem Duft der Zitronenbäume in der Nähe und verbindet sich zu einem lebhaften Bild von Zitronengras. Nimm dazu noch etwas Grapefruit und Katzenpisse, und peng: Ich spaziere geradewegs durch eine Flasche Sauvignon Blanc aus Neuseeland.

Meine Gedanken schweifen weiter zurück, an meine Zeit an der Uni. Ich schwimme im kühlen Baggersee eines Kalksteinbruchs und rieche, wie moosiges Wasser über feuchten Kalkstein schwappt: ein ungemein knackiger, steiniger, charakteristischer Duft. Auf einer Decke zwischen weißen Wildblumen am Ufer schneide ich einen säuerlichen Granny-Smith-Apfel auf. Dann merke ich, dass dieser Tagtraum in Wirklichkeit von Chablis handelte. Der Chardonnay, der in diesem Teil Frankreichs wächst, hat so eine typische Flusskiesel-Mineralität, die Mischung aus Kalkstein und Kreide wie im Steinbruch, mit einer frischen Säure wie von Äpfeln und einem eleganten, schlanken floralen Reiz. Du siehst, Weinbeschreibungen müssen nicht besonders technisch oder sogar intellektuell sein; manchmal kommen sie einfach aus dem Gefühl heraus. Je mehr du diese bleibenden Eindrücke mit den Gerüchen und Aromen in deinem Glas verbinden kannst, umso weiter bist du schon auf deinem Weg zum „aktiven“ Verkosten, achtest auf Tendenzen in deinem Schmecken und kannst die „Trigger“ für verschiedene Trauben, Orte und Weinstile genau erkennen.

Viele der wirksamsten „Aufhänger“, die du dir zum sofortigen Erkennen von Trauben, Stilen, Jahrgängen oder Regionen anlegen kannst, ergeben sich aus nichts anderem als aus Erinnerungen. Diese Emotionen waren in einem bestimmten Moment stark genug, um sich dir ein Leben lang einzubrennen, also nutze sie! Nimm etwa den folgenden Text, den ich vor ein paar Jahren für eine französische Literaturzeitschrift geschrieben habe. Er ist sehr viel mehr eine Erzählung als eine Verkostungsnotiz, aber ein Beispiel dafür, wie eine Erinnerung, die nur aus wenigen Sekunden besteht, das Wesen eines Ortes ganz und gar erfassen kann. Sie hat die Verkostungsnotiz im Endeffekt dauerhaft in meinen Gaumen eingraviert:


Nebbiolo und frischer Asphalt

In der Toskana bretterte ich in einem deutschen Sportwagen durch dichte Wälder und sanft geschwungene Täler in halsbrecherischem Tempo die Straßen hinunter; ich hatte es eilig, noch etliche Termine warteten auf mich. Welche Gefahren vor mir lagen, ahnte ich kaum.

Später an diesem Vormittag ging ich ein paar Schritte über das Anwesen eines Chianti-Winzers und durch die gepflegten Gärten seiner Villa. Ich kam zu einem breiten Weg, der zu den Kellern führte. Doch nach ein paar Schritten merkte ich, wie sich mir die Nackenhaare sträubten. (Offenbar haben sich in mir noch ein paar primitive Instinkte erhalten, trotz meiner furchtbaren Domestizierung.) Im hellen Mittagslicht stand direkt auf dem Weg vor mir eine Familie von Wildschweinen: Mutter, Vater, drei Kinder, das volle Programm. Die nackte Angst ließ unser aller Bewegung und die Zeit selbst erstarren, während unsere Blicke sich trafen. Die Frischlinge schlugen sich eilig in die Büsche, ich erwartete das drohende Urteil. Das leere, eisige Starren der Muttersau rief eine tiefe Ruhe in mir hervor, trotz meines heftig klopfenden Herzens. Die Ganzheit der Toskana blitzte vor mir auf, ihre ungezähmte Schönheit und wilde Romantik. Die vertrauten Aromen von Herbstlaub, schwelenden Feuern und ziehendem schwarzem Tee drangen in meine Nase. In den Hufen des Tiers steckte feuchte Erde, wilder Rosmarin, der sich im borstigen Fell verfangen hatte, und Überreste von reifen Sauerkirschen versüßten den stechenden Moschusgeruch – sie garnierten den bitteren Cocktail dieses Augenblicks. Die Realität nahm eine seltene Schärfe an, fuhr mir in die Glieder mit all der enttäuschten Wut eines noch nicht entdeckten Stars: So stand ich da, ein veritables Fabergé-Ei der Verletzlichkeit vor dieser Ankündigung von Zähnen und Hauern. Doch trotz des frischen Geruchs nach Schweinefleisch in meinem Frühstücksatem sprangen die Wildschweine davon, und die Lebensgeister kehrten zurück in meinen irdischen Körper.

Und so wird mein Geist immer dorthin zurückschweifen; mit jedem Glas rotgewandetem Chianti Classico, das ich einschenke, kommt mir dieser Weg wieder in den Sinn. Eine ruhelose Seele auf der Suche nach dem Teil von mir, das immer noch dort in den toskanischen Hügeln gefangen ist. Und auch wenn man wohl niemals wirklich „ist, was man isst“, kann man sicher sagen, dass „wir waren“, was wir trinken. Denn ehrlicher Wein ruft Erinnerungen wach. Er ist nicht nur ein Produkt von Emotion, sondern auch ihr Auslöser.

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