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ОглавлениеWEIN: WIE MUSIK AN DEINEM GAUMEN
Wein ist eines der zivilisiertesten Dinge der Welt und eines der natürlichsten Dinge der Welt, das zu größter Vollkommenheit gebracht worden ist, und es bietet dem Vergnügen und dem Verständnis weiteren Spielraum als vielleicht irgendein anderes rein sinnliches Ding…
ERNEST HEMINGWAY
Die wahre Schönheit und das Privileg, einen gut gemachten, ehrlichen, authentischen Wein zu trinken, ist wie der Unterschied zwischen einem Klingelton fürs Handy und einer Komposition in mehreren Sätzen. Ich meine nicht die sauteure Luxuskreszenz, die dein reicher Onkel auf seiner Yacht schlürft. Ich meine einfach handwerklich bereitete Weine, die es in jeder Form, Größe und Preislage gibt. Sie müssen nicht teuer sein, nur gut. Gut kann 8 Euro, aber auch 800 Euro bedeuten, das liegt ganz bei dir. Aber zurück zum Vergleich mit dem Klingelton: Der ist ein Wegwerfartikel, kurz ganz lustig, während die Komposition Aufmerksamkeit, Nachdenken und Besinnung erfordert. Wenn die richtigen Saiten angeschlagen werden, werden Gefühle geweckt, kommen Ideen, fließt die Inspiration. Es sind Offenbarungen, die mehr bewirken als nur stumpfsinnige Sättigung. Doch um die Tiefe solcher Schöpfungen verstehen zu können, sollten wir beim Beispiel der Musik bleiben. Professionell betrieben oder einfach als Hobby: Musik spielt im täglichen Leben zweifellos eine wichtige Rolle. Sie macht die Spannung in einem Film spürbar, indem sie Angst, Freude oder Beunruhigung hervorruft. Sie unterstreicht einige unserer liebsten Erinnerungen, begleitet einige unserer größten Erfolge und hilft uns, mit Niederlagen fertigzuwerden. Sie ist eine universelle Ausdrucksform, die wir alle auf einer bestimmten Ebene verstehen können.
Ich möchte den „Weinsprech“ in leichter verständliche musikalische Begriffe übersetzen. Es gibt bestimmte Elemente, die jeden Wein einzigartig machen, selbst bei Weinen von der gleichen Rebsorte, aus demselben Jahrgang oder sogar demselben Weinberg: DER WINZER, DER JAHRGANG, DER WEINBERG, DIE REBEN SELBST sowie DAS PUBLIKUM sind die fünf Säulen, auf denen der Charakter eines Weins beruht. Eine veritable Symphonie für deinen Gaumen!
Der Weinberg (die Komposition)
Überlege zunächst, welches Musikstück du in deinem Glas hast. Ist es Beethovens „Neunte“, Dvořáks Symphonie „Aus der Neuen Welt“ oder Bizets „Carmen“? Das sind ja nun ganz unterschiedliche Kompositionen, und genauso verschieden sind die Weinlagen Wehlener Sonnenuhr an der Mosel, Richebourg in Vosne-Romanée oder Viña Bosconia in Rioja. Das Stück ist festgelegt, ebenso wie der Boden unter den Füßen, sei es von Ludwig van oder Van Halen. Genauso zeitlos ist die Komposition der Natur. Wir erwarten in tonaler Hinsicht sicherlich andere Dinge von diesen verschiedenen Komponisten, so wie wir auch davon ausgehen, dass die Aromen in der Flasche dem Etikett entsprechen – doch jede Aufführung ist einzigartig. Die Noten auf dem Papier sind für die Ewigkeit; sie werden in der gleichen Reihenfolge, im gleichen Register, mit den gleichen Tönen gespielt. Das bleibt unverändert. Ebenso wie die außergewöhnliche Säure der Chenin-Blanc-Weine vom Tuffstein der Coulée de Serrant an der Loire, wie die packenden Tannine im Nebbiolo von den aktiven Kalksteinböden im piemontesischen Serralunga oder die unglaublich verfeinerten floralen Noten vom Kreideboden der Lage Les Clos in Chablis. Diese „Aufführungen“ sind vorhersagbar, und auch wenn sie im Einzelnen immer etwas unterschiedlich ausfallen: Das „Stück“ ist für unseren Gaumen erkennbar und hochwillkommen.
Weinberge in Serralunga, Piemont und Les Clos in Chablis, Burgund.
Der Winzer (der Dirigent)
Wenn du dich nun entschieden hast, eher in der Stimmung für Strauss als für Strawinsky oder Sinatra zu sein, dann ist der nächste Schritt, die richtige Aufnahme auszuwählen. Und hier kommt der Winzer ins Spiel. Wenn Herbert von Karajan mit den Berliner Philharmonikern den „Don Juan“ spielt, fiel die Interpretation – selbst mit denselben Musikern – sicher völlig anders aus als die von Essa-Pekka Salonen, Leonard Bernstein oder Zubin Mehta. Auch mit demselben Stück und im selben Konzertsaal. Denn jeder Dirigent hat, wie auch ein Winzer, seinen eigenen, unverwechselbaren Stil, seine Signatur. Ob die Interpretation streng, gemessen und kämpferisch ist oder lebhaft, heiter und zart, kann für deinen Hör- (Trink-)Genuss einen riesigen Unterschied machen. Wie lang sind die Pausen? Gibt es bombastische Crescendos? Ändert sich das Tempo immer wieder abrupt, knallen die Stakkati wie Pistolenschüsse oder kommen sie weich und rund? Der Winzer kann die Partitur der Symphonie, die sein Weinberg ist, nicht ändern, doch er interpretiert, was wir in unserem Mund „hören“. Jede Entscheidung, die im Weinberg oder Keller getroffen wird, ist ein Schlag mit dem Taktstock für die Ausführenden. Das kann die Herkunft der verwendeten Fässer sein, deren Zusammenstellung oder Größe, der Grad des Toastings und die Dauer der Reifung in ihnen. Und das ist nur eine mögliche „Interpretation“ des vorgegebenen Stücks. Eine lange kalte Maischestandzeit für eine üppigere Textur oder eine heiße, schnelle Gärung für einen wilderen, eckigeren Geschmackseindruck? Massive Grünlese und Ertragsbeschränkung, um dickere, gewichtigere, dunklere Weine mit mehr Konzentration zu bekommen – wie schwelgerische Leggiero-Streicherpassagen, die untermalt werden von nachdrücklichen Largo-Sätzen und skandierenden Blechbläser-Stößen?
Die Reben (die Musiker)
Als junger, hoffnungsvoller Kontrabassist hatte ich die Ehre, unter dem renommierten Dirigenten Daniel Lewis an der damals noch relativ neuen Colburn School of Music in Los Angeles zu spielen – ein Elite-Jugendorchester, das zum Großteil von 9- bis 15-jährigen Schülerinnen und Schülern aus Korea, Japan und China dominiert wurde. Ich konnte sicherlich mithalten, doch die technische Perfektion, mit der diese KINDER spielten, war oft geradezu unheimlich. Sie zupften und strichen ihre Instrumente mit der Präzision eines Schnellfeuergewehrs. Zu Tränen rührend war ihr Spiel dagegen selten. Zeitsprung nach vorn: Jahre später erfüllte ich mir einen lang gehegten Traum mit dem Besuch eines Konzerts der Wiener Philharmoniker im Musikverein, vielleicht der Saal mit der makellosesten Akustik der Welt. Das Durchschnittsalter der Besucher dürfte so um die 70 gelegen haben, und die meisten von ihnen schliefen im ersten Satz ein. Die Musiker waren kaum jünger. Manche sahen tatsächlich so aus, als könnten sie im nächsten Moment aus den Latschen kippen. Aber dieser Klang: der Schmerz, die Sorge, die Siege und Enttäuschungen, der Verlust, der Jubel und das Elend, die aus jeder Note herausbrachen! Beethoven selbst wäre zu Tränen gerührt gewesen. Die Lehre daraus? Schreiben wir es der Erfahrung zu. Diese kampferprobten Veteranen hatten wahrhaftig gelebt und überlebt, um mit jeder Note davon zu künden. Alte Reben sind nicht anders. Es sind masochistische Biester, die nicht viel von Bequemlichkeit halten. Alte Reben sind Kämpfer; je härter die Bedingungen, je elender und karger der Boden, je mehr Sonne und je weniger Wasser, umso stärker schalten sie auf Überlebensmodus. Das bedeutet, dass sie ihre Energie nach unten richten statt nach oben. Weniger Blätter und Trauben, mehr Selbsterhaltung. Die verzweifelte Suche nach Nährstoffen um jeden Preis. Wenn sie sich dafür 15 Meter tief durch soliden Fels kämpfen müssen, dann muss das eben sein. Nur die unnachgiebig fightende Rebe findet Wege, um durch meterdicken Kalkstein, Schiefer oder was auch immer zu kommen, indem sie winzige Haarrisse oder Verwerfungen ausnutzt. Sobald sich ihre Wurzeln durch einen Spalt gezwängt haben, dehnen sie sich aus, sprengen den Fels und machen weiter mit der Suche nach Nahrung.
An einigen Stellen, etwa an den Schieferklippen der Mosel, liegt der Grundwasserspiegel bis zu 400 Meter unterhalb der 74-Grad-Steilhänge. Die Bedingungen sind so hart, dass man noch in 70 Meter Tiefe Rebenwurzeln gefunden hat! Stell dir die Zeitreise vor: buchstäblich Millionen und Abermillionen von Jahren, Epochen, Ereignissen und Katastrophen sind in den unzähligen Schichten enthalten und werden nun langsam im Zellgewebe der Wurzeln verdaut. Sie fressen buchstäblich die Geschichte von Mutter Erde auf, schicken sie nach oben in den Fluxkompensator und wandeln sie in Nährstoffe für die Trauben um. Und so landen sie schließlich in unserem Glas. Im Endeffekt ist eine alte Rebe die Leitung, die uns Menschen, die wir gerade mal an der Oberfläche der Erdgeschichte kratzen, eine ursprüngliche, wunderbare Verbindung zur Vergangenheit unseres Planeten schenkt. Wenn dich das nicht völlig umhaut, dann weiß ich nicht, was sonst.
Der Jahrgang (der Konzertsaal)
Wir wollen für einen Moment mal annehmen, dass alle Variablen in der Gleichung konstant sind: dieselben Musiker unter einem bestimmten Dirigenten, die alle dasselbe Stück spielen. Das sollte ähnliche Ergebnisse hervorbringen, stimmt’s? Nicht ganz. Denn die vierte unserer Säulen ist ebenso wichtig wie die anderen, auch wenn sie leider am wenigsten beachtet wird. Jeder Konzertsaal auf der Welt hat seine eigene, unverwechselbare Akustik, was mit Vor- und Nachteilen, Stärken und Schwächen verbunden ist. Wie gut sich bestimmte Tonhöhen oder Klangfarben abheben, die Klarheit jeder Stimme, die Wärme des Klangs, der Nachhall am Ende einer Passage – sie sind überall verschieden. Das hängt einfach mit der Struktur zusammen, der Bauweise. „Dieselbe“ Aufführung wird im Symphony Opera House anders klingen als im Wiener Musikverein oder im Disney Center in Los Angeles – im Guten wie im Schlechten. Genau das macht auch die Faszination der Jahrgänge beim Wein aus. Ein Saal mit perfekter Akustik kann eine schlechte Darbietung nicht in etwas wunderbar Virtuoses verwandeln, und ebenso wenig kann ein Jahrgang mit perfekten Bedingungen einen stümperhaft gemachten Wein zu etwas Herrlichem erheben. Umgekehrt kann ein schwieriger Jahrgang etwas beeinträchtigen, was sonst eine grandiose Performance des Weinbergs hätte werden können. Gute Musiker werden trotzdem jede Note treffen, und zwar mit Leidenschaft, trotz der akustischen Limitiertheit einer unterdurchschnittlichen Bühne. Das mag dann zwar nicht die beste Aufnahme aller Zeiten werden, aber immer noch eine sehr gute Vorstellung abgeben. Die Musiker müssen nur warten, bis sie auf ihrer Tour nach Wien kommen, um das zeitlose Opus Magnum aufzunehmen, von dem sie wissen, dass es in ihnen steckt.
Das Publikum (du!)
Sollte ich es noch nicht oft genug gesagt haben, sage ich es gern noch einmal: Nichts von dem, was ich bisher geschildert habe, wäre wichtig, wenn es kein Publikum gäbe. Der Geschmack eines Apfels bedeutet nichts, wenn keiner da ist, der den Apfel isst. Ohne jetzt zu sehr ins Philosophische abzudriften: Du bist die wichtigste der fünf Säulen! Und natürlich gibt es nicht nur diese vier anderen Pfeiler; es ist nur so, dass sie für mich die Quintessenz darstellen. Sowieso verkünde ich nicht das Evangelium, also biege dir bitte alles, was du hier liest, so hin, dass es für dich am besten passt. Am wichtigsten ist, dass du am Ende, wenn du dieses Buch gelesen hast, deine eigene Sprache, deine eigenen Interpretationen und dein eigenes Repertoire entwickelst. So, dass du deine nun geschulten Instinkte einsetzen kannst, um der selbstbewusste, stolze Weinliebhaber zu werden, von dem du eigentlich schon weißt, dass er in dir steckt.