Читать книгу ZUGVOGEL - K. Uiberall-James - Страница 20
ОглавлениеToucou als Fremdenführer
Draußen haben sie ein Gefühl, als wenn ihnen ein gigantischer Diffuser die feuchte Luft bis tief in ihre Lungen pustet. Eklig! Die Feuchtigkeit erreicht jede noch so kleine ungeschützte Stelle der Haut, lässt den Jackenkragen im Nacken unangenehm kratzen und ihre Gesichter vor Nässe glänzen.
Nicht nur die frisch Angekommenen empfinden das Wetter als scheußlich, auch die wenigen Menschen, die ihnen begegnen, hasten mit missmutigem Gesichtsausdruck an ihnen vorbei. Vorwurfsvoll mustert Amadou Toucou.
„Mussten wir unbedingt heute rausgehen?“
Toucou lacht. „Ja, allerdings; denn wir haben nichts Anständiges mehr zu essen im Haus. Hier sagt man zwar: ‚Bei solch scheußlichem Wetter schickt man nicht mal einen Hund vor die Tür’, aber manchmal muss es eben sein“, und tröstend fügt er hinzu: „Morgen soll es schön werden.“
Stunden später kommen sie schwer beladen mit Tüten heim und schleppen sich müde die vier Stockwerke hoch. Toucou amüsiert sich über die ‚Neuen’.
„Ihr pfeift ja aus dem letzten Loch“, zieht er sie auf.
„Lach’ nicht. Ich habe jetzt schon einen tierischen Muskelkater vom Treppen steigen“, stöhnt Ibrahim.
„Ich auch“, jammert Amadou.
Toucou gibt ihm verständnisvoll einen freundschaftlichen Klaps auf den Rücken. „Ihr werdet euch schon daran gewöhnen“, sagt er.
„Weißt du, Toucou, wir hatten in unserem Dorf leider keine Möglichkeit zu trainieren“, sagt Sekou ironisch und verzieht, seine Freunde nachahmend, ein wenig leidend das Gesicht. Dafür kassiert er böse Blicke aus zwei Augenpaaren. Gut, dass sie die Wohnung schon erreicht haben.
Nun ist Kochen angesagt. Die Zusammenarbeit klappt hervorragend; schließlich wollen alle dasselbe: essen und dann endlich die müden Beine ausstrecken. Als sie Letzteres tun, kommt Malik nach Hause.
„Hi, wie geht’s? Alles okay?“ Nach einem zuversichtlich abschätzenden Blick in die Runde, geht er, ohne eine Antwort abzuwarten, in die Küche, häuft sich eine große Portion vom Fleisch- und Gemüseeintopf auf einen Teller und kommt damit ins kleine Wohnzimmer. „Mhm, gut“, murmelt er zwischen zwei Bissen, „wer hat heute gekocht?“
„Wir alle“, antwortet Toucou zufrieden. Anerkennend nickt Malik und widmet sich wieder seinem Essen.
Als sie gemütlich beim Tee sitzen, fragt Malik mit einem prüfenden Blick auf seine Gäste: „Und? Hat Toucou euch das Viertel gezeigt?“
„Na klar. Er hat sich sehr viel Mühe gegeben und ich glaube, wir kommen in der Umgebung schon alleine zurecht“, beantwortet Sekou die Frage für alle.
„Und wie hat es euch gefallen?“
„Na ja, das Wetter“, beginnt Ibrahim, wird aber von Sekou unterbrochen.
„Ach, vergiss doch das Wetter. Es wird hier ja nicht immer so schlecht sein, oder?“
„Natürlich nicht. Und sonst?“
Amadou sagt nachdenklich: „Mir ist gestern schon aufgefallen, dass alle Leute auf der Straße es brandeilig haben; das ist doch nicht normal. Sie haben keinen Blick für andere Menschen.“
Malik nickt grüblerisch. „Das hat wohl damit zu tun, dass sie es wirklich eilig haben. Hier sagt man: Zeit ist Geld; und Geld wollen alle verdienen. Ich laufe schon genauso durch die Gegend.“
Toucou lacht und fügt hinzu: „Ja, mir geht es genauso wie Malik, aber im Gegensatz zu ihm werde ich mich nie an diese Gleichgültigkeit gewöhnen, mit der die Leute an einem vorbei oder über einen hinweg sehen, obwohl ich schon seit Jahren in Europa lebe. Im Fahrstuhl, zum Beispiel, schauen sie einem auf die Schuhe, nur, damit sie einem nicht ins Gesicht schauen müssen; oder sie schauen durch einen durch, als wäre man Luft für sie.“
„Das heißt, wenn wir erstmal arbeiten, laufen wir genauso durch die Gegend?“, fragt Amadou ungläubig.
„Sicher. Ihr müsst das verstehen: Wenn ihr nur eine Stunde Mittagspause hättet, in der Zeit essen und noch einige Dinge erledigen wolltet, dann müsstet ihr euch auch beeilen. Und bei dem scheußlichen Wetter heute wollen alle sowieso nur so schnell wie möglich ins Trockene.“
„Das zumindest kann ich gut verstehen“, seufzt Ibrahim.
„Ach übrigens, mein Chef hat mir heute angeboten, dass ich einen von euch auf Probe mit zur Arbeit bringen kann; wer von euch will es versuchen?“, fragt Malik aufmunternd in die Runde. Die Begeisterung der ‚Neuen’ hält sich in Grenzen.
„Das geht mir etwas zu schnell“, antwortet Sekou als Erster, „ich würde auch lieber in einem Restaurant als Küchenhilfe, als im Lager arbeiten.“ Amadou schaut betreten auf seine ineinander verschlungenen Hände und sagt nichts.
„Also“, Ibrahim muss sich erst räuspern, bevor er weiter spricht, „also, dann gehe ich mit; schließlich haben wir uns vorgenommen, uns für keine Arbeit zu schade zu sein, Hauptsache, sie bringt Geld.“ Malik freut sich über Ibrahims Entschluss. Gerade ihn hätte er am liebsten als Kollegen, weil er ruhig und verantwortungsbewusst zu sein scheint und weil er keine unrealistischen Ideen im Kopf hat. Die beiden geben sich die Fünf und wenden sich dem Fernseher zu.
Während eines Werbeblocks fragt Amadou Malik unvermittelt: „Und warum hat Apollinaire nun eigentlich das große Los gezogen? Ihr habt es uns immer noch nicht verraten.“ Sekou und Ibrahim horchen interessiert auf.
„Fragt Toucou, ich bin zu müde.“
„Na gut; ich mach’s kurz. Seine Frau hat Geld. Sie wohnen in ihrem eigenen Haus, müssen sich also nicht mit rassistischen Vermietern herumschlagen; sie sind nicht auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen, weil sie zwei Autos haben; und da Apollinaire vielen nebenberuflichen Tätigkeiten nachgeht, hat sie auch keine Kontrolle über seine Freizeit. Er macht, was er will.“
Malik nickt bestätigend, die Augen dabei auf den Bildschirm geheftet. Seinen Gästen hat es unisono die Sprache verschlagen.
„Und was ist mit Kindern?“, rafft sich Amadou auf zu fragen.
„Sie haben keine.“
„Die Ärmste, das muss ja schrecklich für sie sein!“
„Nein, ganz im Gegenteil; sie wollte nie Kinder und jetzt ist sie auch zu alt dafür. Aber dafür behandelt sie Apollinaire manchmal wie ein Kind.“ Toucous letzte Worte lösen einen Sturm der Entrüstung bei den Neuankömmlingen aus.
„Das würde ich mir nie gefallen lassen.“
„Wer soll dann der Herr im Haus sein?“
„Ein Kind hat nichts zu sagen; willst du das damit sagen?“
„Nein, nun beruhigt euch mal wieder. Es heißt lediglich, dass sie sich um alles kümmert“, sagt Toucou und schubst seinen Mitbewohner ironisch grinsend in die Seite, „nicht wahr Malik?“
„Ja, aber …“, versucht Sekou zaghaft einzuwenden.
„Nichts aber“, wettert Malik, „mit einigen Afrikanern kann man das vielleicht machen, aber mit mir nicht, punkt!“ Er klinkt sich endgültig aus dem Gespräch aus, indem er sich demonstrativ zu dem Fernseher vorbeugt.
Ein neues Gespräch will nicht mehr aufkommen. Toucou und sein Mitbewohner sind einfach zu müde, um auf die bohrenden Fragen der ‚Frischlinge’ einzugehen, und diese fühlen sich durch Maliks schroffe Art nicht zu neuen Fragen ermuntert. Und nachdem sie lustlos immer wieder vor dem Fernseher einnicken, beschließen alle, einfach schlafen zu gehen.
Aber der Schlaf will nicht kommen. Amadou wälzt sich unruhig von einer Seite auf die andere. „Sei endlich still“, mahnt Sekou seinen Freund, „Ibrahim muss morgen früh aufstehen, er braucht seinen Schlaf.“
„Lass ihn, Sekou.“ Verständnisvoll kommt Ibrahims Stimme im Halbschlaf aus dem Dunkel, „er macht sich sicher Sorgen um seine Mutter.“ Amadou stellt sich schlafend.
In dieser Nacht träumt Amadou, dass er in einem ausgetrockneten Flussbett steht und seine Freundin ihm vom Ufer zuwinkt. Voller Freude läuft er auf sie zu, aber je näher er dem Ufer kommt, desto mehr entfernt sie sich von ihm.