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Lagebesprechung unterm Mangobaum

Als die Freunde sich vor der Bar treffen, ist dort bereits die ganze Dorfjugend vertreten und treibt ihre Späße. Ibrahim signalisiert seinen Freunden mit einer Kopfbewegung in Richtung Straße, woanders hinzugehen. „Lasst uns die Getränke mitnehmen und irgendwo ein ruhiges Plätzchen suchen.“

Sie trödeln wortlos mit ihren Softdrinks, den Flaschenhals lose zwischen zwei Fingern, über den kleinen Dorfplatz. In seiner Mitte sitzen unter dem uralten Baobab reglos die Alten zwischen dem riesigen Wurzelwerk und verfolgen aus alterstrüben Augen das sonntägliche Treiben um sich herum. Von weitem wirken sie wie eine Gruppe unter dem Baobab ausgestellter, aus seinem Stamm geschnitzter Figuren. Man muss schon genau hingucken, um überhaupt etwas Lebendiges an ihnen zu entdecken, denn mit den Jahren werden sie dem Baobab immer ähnlicher, sie scheinen in ihren verblichenen Boubous Wurzeln zu schlagen und mit ihm eins zu werden. Die Freunde grüßen sie im Vorübergehen ehrerbietig mit verhaltener Stimme, und die Alten antworten, indem sie mit abwesendem Blick vor sich hin murmeln, oder sie heben leicht die Hand zum Gruß.

Als sie das Dorf hinter sich gelassen haben, betreten sie die dornige Weite und Stille der Sahelzone. Der Steppenwind wispert im

trockenen Gras und eine harmloe kleine Schlange flüchtet raschelnd vor den Menschenfüßen. Gezielt steuern die Freunde den Mangobaum auf dem Friedhof an und lassen sich an seinem Stamm auf dem roten Laterit-Boden nieder. Hier kann ihr Blick in die Ferne schweifen, können sie ihre Träume auf die Reise schicken. Lange Zeit sprechen sie kein Wort, hocken da wie die Alten.

Erst als Amadou plötzlich mit der flachen Hand ausholt und sie laut klatschend auf Sekous Nacken niedersausen lässt, um eine Mücke zu erledigen, erwachen sie aus ihrer Wortlosigkeit.

„Sag mal, spinnst du?“ Sekou streicht über seinen Nacken, während Amadou ihm triumphierend die rechtzeitig erwischte Mücke zwischen Daumen und Zeigefinger präsentiert.

„Okay, okay, ist ja gut.“

„Also“, beginnt Ibrahim bedächtig, „habt ihr nachgedacht, wie wir unsere Lage verbessern können?“

„Ich habe mit meinem Onkel geredet“, antwortet Sekou als Erster, „er würde mir einen Kredit verschaffen, damit ich wieder mit meiner Arbeit anfangen kann. Und du Ibrahim, hast du endlich mit deinem Vater gesprochen?“

„Nein, das hätte auch keinen Sinn. Solange er lebt, und ich wünsche ihm ein langes Leben, kann ich nichts Neues anfangen. So ist das eben.“

Sekou nickt zustimmend. Er sieht die Trostlosigkeit in Ibrahims Augen und möchte ihn so gerne trösten. „Vielleicht kannst du später, wenn mein Laden wieder läuft, bei mir einsteigen. Das wird zwar eine Weile dauern, aber wer langsam läuft, kommt auch zum Ziel.“

Amadou rollt mit den Augen und stöhnt theatralisch: „ Das ist typisch für euch. Ihr benehmt euch schon jetzt wie die Alten; nur nichts übereilen. Wenn ihr so weiter macht, sitzt ihr noch in zehn Jahren hier und teilt euch eine Fanta.“

„Ach, höre ich richtig?“, pflaumt Sekou seinen Freund an, „ du beziehst dich nicht mehr mit ein? Demnach hast du wohl eine bessere Idee?“

„Ja, allerdings. Ich werde nach Deutschland gehen.“ Trotzig und gleichzeitig erschrocken über die Tragweite seiner Aussage schweigt Amadou. Intuitiv hat er sich selbst überlistet, um den Mut aufzubringen, den in seinem Kopf schon lange existierenden Plan zu verwirklichen.

„Wie denn? Du hast weder Geld für die Papiere noch für die Reise.“ „Und wer versorgt dann deine Eltern?“ „Und was wird mit Miriam?“ „Wer wird die Medikamente für deine Mutter bezahlen?“

Erst reden sie alle durcheinander, dann schweigen sie geschockt, und in die nun eintretende Stille traut sich nicht einmal ein Grashalm, zu rascheln. Irgendwo am Rand der Steppe versinkt die Sonne unbeachtet und taucht die Federwölkchen am Himmel in zartes Rot. Wie um Amadou umzustimmen, zeigt sie sich von ihrer mütterlichen, weichen Seite, umschmeichelt ihn sanft im schwindenden Abendlicht.

„Ich kann nicht mehr“, stöhnt Amadou. Und das klingt endgültig. Selbst die Sonne streckt ihre Waffen und schickt zum Abschied einen letzten schwachen Lichtschein auf die violette Steppe.

Ibrahim und Sekou blicken betreten auf ihre Zehen in den abgetragenen Ledersandalen. Amadou schaut in die Ferne. Ausdruckslos fixiert er einen imaginären Punkt am Horizont, der sich hinter seinen Augen im Kopf realisiert und für ihn Vergangenheit und Zukunft gleichzeitig symbolisiert. Das ist seine Art, die Gedanken in seinem Kopf zu sortieren und die Freunde wollen ihn dabei nicht stören.

So vergehen einige Minuten bedächtigen Schweigens. Dann richtet Amadou sich auf, nimmt quasi Haltung an und sagt mit entschlossener Stimme: „Ich werde mir in der Stadt Geld leihen.“ Die Freunde starren ihn entsetzt an.

„Bei dem Wucherer, diesem Kriminellen?“

„Ja, warum nicht? Wenn ich erst Arbeit in Deutschland habe, kann ich alles mit Links zurückzahlen.“

„Und wer versorgt bis dahin deine Eltern?“

„Ich werde mir genügend Geld leihen, um meine Eltern für ein paar Monate finanziell abzusichern.“

„Und Miriam? Was sagt sie dazu?“

„Die weiß es noch nicht.“ Fassungslose Ungläubigkeit aufseiten der Freunde provoziert Amadou wieder zu Gegenwehr: „Hey, ich weiß gar nicht, was ihr habt; noch bin ich nicht verheiratet.“

Während das Abendlicht verblasst und die Erde sich langsam der Nacht zuwendet, schauen die Freunde hinüber zum Dorf, wo die kleinen Lichter von Petroleumlampen und Kochfeuern Löcher in den schwarzen Mantel der Dunkelheit stanzen. Eine Grille nutzt die Stille, um ganz groß rauszukommen. Ihr Zirpen katapultiert die mit Gedanken schwangere Stille zurück in die Normalität.

„Dabei kann man ja keinen klaren Gedanken fassen“, murmelt Sekou.

Amadou taucht aus seinen Träumen vom Paradies auf und schaut seine langjährigen Gefährten lauernd an. „Erinnert ihr euch noch an das letzte Jahr in der Schule?“ Sie nicken.

„Du meinst, an den Dokumentarfilm über Europa?“ „Klar“, intonieren Ibrahim und Sekou verhalten.

Amadou dagegen verdreht schwärmerisch seine Augen und seufzt: „Ich erinnere mich noch gut an die wunderschönen Häuser und die asphaltierten Straßen mit den blitzsauberen Autos; und die Menschen verdienen dort so gut, dass manche Familien sogar zwei Autos haben. Und erst die großen Einkaufszentren, wo du von der Babywindel bis zum Sofa einfach alles kaufen kannst. Dort kacken die Kinder nicht einfach auf den Boden. Denkt doch mal nach. Wie viele der schönen Dinge, die wir hier haben, kommen aus Europa, sei es ein geiler Allradantrieb, tolle Klamotten, oder?“

„Ja, das stimmt schon, aber das heißt doch noch lange nicht, dass alle Europäer reich sind“, gibt Sekou zu bedenken.

Amadou ist nicht mehr zu bremsen. „Kennst du auch nur einen Weißen hier bei uns, der arm ist? Und in Europa ist es nicht anders. Dort bekommt jeder, ob er nun arbeitet oder nicht, monatlich seinen Scheck. Und wenn du krank wirst, bezahlt der Staat deinen Lebensunterhalt.“

„Mensch, Amadou“, schnauzt Ibrahim, „sei doch nicht so naiv! Du beziehst deine Weisheiten doch nur aus Filmen und Zeitschriften mit blonden Pin-up-Mädchen auf der Titelseite. Das hat doch mit der Realität nichts zu tun.“ Wütend wendet er sich ab.

„Willst du damit sagen, dass die Fotos lügen, dass sie nicht echt sind?“, brüllt Amadou nun aufgebracht.

„Nein, das wohl nicht, aber du siehst die Bilder ohne ein Vorher und Nachher; sie sind nur Ausschnitte, erzählen nie die ganze Geschichte.“

„Die interessiert mich auch nicht!“, kreischt Amadou mit versagender Stimme, „ich werde meine eigene Geschichte haben, eine Erfolgsgeschichte.“ Schwer atmend zieht er mit verkniffenen Lippen die Luft ein.

Sekou versucht, die aufgeputschte Stimmung zu entschärfen: „Vielleicht hat Amadou ja recht. In Europa wird man vom Staat gut versorgt, und wenn man sich anstrengt, kann man Geld sparen und sich damit hier zu Hause eine Existenz aufbauen. Schaut euch doch um; in fast jedem Dorf gibt es junge Männer, die in Europa arbeiten. Sie waren es, die den ersten Farbfernseher ins Dorf brachten und einen echten Lederfußball.“ Und zur Untermauerung des Gesagten fügt er noch hinzu: “So wie es der Typ mit dem Jeep macht und all die anderen, die in der Umgebung nach und nach ihre Häuser bauen.“

Ibrahim schüttelt den Kopf, „ich fass es nicht, seid ihr denn beide total übergeschnappt? Auch in Europa gibt es Arbeitslose. Was machst du, wenn du keine Arbeit findest?“

„Das ist ja das Tolle“, triumphiert Amadou, „dann bekomme ich trotzdem genug Geld zum Leben. Außerdem habe ich dann Zeit, um mich um meine Karriere zu kümmern.“.

„Ach, träum' weiter. Du denkst, wenn du im Fernsehen Afrikaner auf Europas Bühnen singen und tanzen siehst, dass du das auch kannst. Aber so einfach ist das nicht.“

„Und woher willst du das wissen? Bist du vielleicht schon einmal dort gewesen?“

„Nein, aber mein gesunder Menschenverstand sagt mir, dass in Europa auch nur mit Wasser gekocht wird. Ich verfolge regelmäßig die Nachrichten aus aller Welt; und wenn du das auch tun und gut zuhören würdest, dann müsste dir auffallen, dass es kein Land auf dieser Erde gibt, das nicht irgendwelche Probleme hat.“

Sekou wirft mit ironisch verzogenen Mundwinkeln ein: „Nur dass die Reichen andere Probleme haben als die Armen.“

„Wieso, was für Probleme können denn die Reichen haben?“

Sekou und Ibrahim schauen Amadou konsterniert an. „Das zu beantworten, ist mir jetzt wirklich zu blöd“, entgegnet Ibrahim, und Sekou fügt hinzu: „Ja, es wird Zeit, dass du die Scheuklappen abnimmst. Du siehst nämlich nur, was du sehen willst und hörst nur, was du hören willst.“

Amadou schweigt verkniffen. Alle drei sind in Gedanken versunken und lauschen auf die Geräusche der erwachenden afrikanischen Nacht.

„Du bist also fest entschlossen?“, ergreift Ibrahim als Erster wieder das Wort.

„Ja.“

„Dann solltest du wenigstens mit denen reden, die schon einmal dort waren oder dort leben.“

„Ich soll mit dem Angeber reden, der hinter Miriam her ist? Das könnt ihr nicht von mir verlangen.“

„Wir kommen mit“, mischt sich Sekou eilig ein „und helfen dir. Schließlich sind wir Freunde. Und abgesehen davon interessiert es mich auch, aus erster Hand etwas über ein europäisches Land zu erfahren.“

Ibrahim nickt beifällig und erhebt sich. „Okay, aber alles zu seiner Zeit. Jetzt habe ich erst mal Hunger. Lasst uns nach Hause gehen.“ Den schwachen Lichtschein des Dorfes wie eine einladende Laterne vor sich, tigern die Drei zielsicher den Wohlgerüchen der vollen Kochtöpfe entgegen. Am Ortseingang trennen sie sich. „Bis nachher in der Bar“, sagt Ibrahim und seine Freunde nicken zustimmend.

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