Читать книгу ZUGVOGEL - K. Uiberall-James - Страница 8

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Warnung und Chance

Nach und nach füllt sich die kleine hölzerne Bar mit zufriedenen, satten Vätern, Brüdern, Nachbarn und Cousins, die vor dem Schlafengehen noch einen kleinen Plausch halten wollen. Die jungen Mädchen bilden Grüppchen draußen am Rande der Sandpiste, kichern und flirten scheu mit riesigen Rehaugen und schlenkern mit ihren dünnen, langen Armen und Beinen. Sie spielen ‚fangen’ oder necken die Jungs. Als Ibrahim, Sekou und Amadou ihren Weg kreuzen, machen sie den drei etwas Älteren respektvoll Platz.

Vor der Bar angekommen, stellen die Freunde fest, dass diese hoffnungslos überfüllt ist. „Dann gehen wir eben ins ‚Paradies’“, schlägt Amadou vor, „da waren wir schon lange nicht mehr.“

„Ja und warum wohl?“, beanstandet Ibrahim und schiebt die Antwort gleich hinterher: „Weil der Besitzer arrogant ist und die Gäste denken auch, dass sie etwas Besseres sind.“

Sekou mischt sich beschwichtigend ein: „Wo sollen wir denn sonst hingehen? Ich möchte jedenfalls in Ruhe etwas trinken, und zwar im Sitzen.“ Ohne ein weiteres Wort machen sie sich auf den Weg. So war es schon immer: Die Drei ergänzen sich seit Jahren hervorragend; manchmal auch ohne Worte.

Das ‚Paradies’ ist eine klimatisierte Bar mit taschentuchgroßer Tanzfläche, schummerigem Licht, Nischen mit niedrigen Tischen und rotem Velours bezogenen Sitzbänken; ein kuscheliges Plätzchen für frisch Verliebte und solche, die sich vornehm geben. Letztere Spezies unterhält sich leise und bewegt sich sehr sparsam, um nur ja nicht die teure Kleidung zu verschwitzen.

Beim Betreten der Bar müssen die Freunde ihre Augen erst an das dort herrschende Dämmerlicht gewöhnen. „Wollen wir an die Bar?“ „Okay.“

Als sie gerade ihre Drinks in Empfang genommen haben, kommt eine Gruppe junger Männer herein, die alle brandaktuelle amerikanische Sportmode tragen. Bewundernd und ein wenig neidisch schaut Amadou in ihre Richtung; doch dann ändert sich sein Gesichtsausdruck. „Schaut mal, der Typ, der Miriam nach Hause gefahren hat, ist auch dabei.“

„Tatsächlich, das passt ja gut“, meint Ibrahim und fügt flüsternd hinzu: „Aber warte erst Mal ab; du musst auf eine gute Gelegenheit warten, um ihn anzusprechen.“

„Die scheinen etwas zu feiern; da kannst du nicht stören“, warnt auch Sekou in Amadous Richtung.

Mühsam versuchen die Freunde, ihr abgebrochenes Gespräch über Europa wieder in Gang zu bringen, aber ihre Konzentration ist hin. Das Eintreten der anderen Gruppe hat sie erheblich abgelenkt. Angespannt starren sie auf ihre Drinks; in Wirklichkeit horchen sie aber mit gespitzten Ohren auf das Gelächter und die Wortfetzen hinter ihrem Rücken.

Es dauert nicht lange, da löst sich die lärmende Gruppe um den Jeepfahrer schon auf; die plötzlich eintretende Stille lässt alle verlegen aufhorchen. Nervös beeilt sich der Barkeeper, eine Kassette mit dem Hit der Saison in den Rekorder einzulegen. Schließlich ist der Abend noch lang.

Der vereinsamte Jeepfahrer entschließt sich, an die Bar zu gehen. Als die drei Freunde dem leicht Schwankenden Platz machen und ihn freundlich begrüßen, breitet er die Arme aus, so als wollte er die ganze Welt umarmen. „Jungs, ich gebe einen aus. Meine Freunde haben mich einfach alleine sitzen gelassen.“

Hocherfreut über diese günstige Gelegenheit, vielleicht etwas über Deutschland in Erfahrung zu bringen und dazu noch einen Drink spendiert zu bekommen, strahlen Ibrahim, Sekou und Amadou den Ankömmling an. Sie stellen sich manierlich vor und erfahren nun den Namen des Jeepfahrers; er heißt Malik.

„Ich fliege morgen zurück. Mein Urlaub ist zu Ende“, nuschelt Malik missmutig in sein Glas.

„Wohin fliegst du denn?“, beeilt sich Amadou zu fragen.

„Nach Deutschland. Ich wohne in Hamburg.“

„Und? Freust du dich darauf, wieder dorthin zu fahren?“, hakt Amadou mit einer Stimme nach, die vor Enthusiasmus fast platzt.

Malik starrt ihn einen Moment verwundert mit glasigen Augen an; dann blickt er wieder konzentriert auf sein Glas. „Lass mich mal nachdenken“, murmelt er und zieht angestrengt die Stirn kraus.

Ibrahim, Sekou und Amadou denken schon, dass Malik mit offenen Augen eingeschlafen ist, so lange lässt er sich Zeit mit der Antwort. Gerade wollen sie sich enttäuscht von ihm abwenden, als Malik aus seiner Erstarrung auftaucht und mit schwankender Stimme mitteilt: „Jein.“

„Was???“

„Das ist die Antwort auf deine Frage. Ja und nein, oder, ich weiß nicht.“ Er gibt sich große Mühe, deutlich zu sprechen. „Wenn ich in Deutschland bin, habe ich Heimweh nach Afrika, nach meiner Familie und meinen Freunden; wenn ich in Afrika bin, sehne ich mich nach dem aufregenden, sauberen Hamburg, wo das Leben bis ins Kleinste durchorganisiert ist und wo viele weiße Frauen ganz scharf auf schwarze Männer sind.“ Als er die weißen Frauen erwähnt, schließt er sehnsüchtig die Augen und seufzt tief.

„Demnach müsstest du dich doch freuen, wieder in diese tolle Stadt zu fahren“, folgert Ibrahim, „aber das Gegenteil scheint mir der Fall zu sein.“

Malik bestellt sich einen Kaffee, schüttet Unmengen von Zucker hinein und beginnt mechanisch in der Tasse zu rühren. Sein Blick ruht irgendwo auf der Theke. Er rührt und rührt, ohne zu bemerken, dass der Zucker sich längst gelöst hat, bis Amadou der Geduldsfaden reißt und er Maliks meditative Tätigkeit unterbricht.

„Komm schon, was brauchst du denn noch, um glücklich zu sein? Du hast einen Job in Deutschland, kannst deine Familie in Afrika unterstützen, fährst ein geiles Auto und die Mädchen laufen dir in Scharen hinterher.“

„Ja, solange ich alle einlade und sie mit teuren Klamotten versorge.“ Die versteckte Kritik scheint bei den Jungs nicht anzukommen, also fährt er fort: „Es ist gar nicht so schlecht hier, wenn du nur zu Besuch bist und viel Geld mitbringst; wenn das Geld aber ausgegeben ist, stehst du wieder alleine da.“

„Ich wäre an deiner Stelle jedenfalls glücklich“, sagt Amadou entschieden.

Sekou, der bisher nur schweigend dem Gespräch gefolgt ist, entschließt sich nun doch noch, daran teilzunehmen.

„Was stört dich denn so an deinem Leben in Deutschland?“

„Dass es kein Leben ist!", stößt Malik theatralisch jedes Wort betonend aus. Ibrahim, Sekou und Amadou signalisieren einmütig Verständnislosigkeit; deshalb fügt Malik etwas ruhiger hinzu: „Die westliche Zivilisation kennt nur Arbeit und den Konsum. Unsere Werte, unsere traditionellen Lebensweisen zählen dort nichts. Wir geraten in diese Mühle und werden langsam aber sicher von ihren Mahlsteinen zerrieben. Was bleibt, ist, wenn man Glück hat, ein Drecksjob zu sechs Euro 50 die Stunde.“

„Ist doch klasse.“ Amadou triumphiert etwas zu euphorisch, um seinen Freunden mit ihrer Destruktivität gleich den Wind aus den Segeln zu nehmen. Aber Malik fährt unbeirrt fort: „Mein Leben ist zu einem Balanceakt zwischen zwei Welten geworden, und das ist eine anstrengende Sache. Ich versuche es allen recht zu machen, aber es ist nie genug. Stück für Stück werden mir in der westlichen Zivilisation die Wurzeln wie faule Zähne gezogen, bis ich irgendwann wie ein toter Baobab umfalle, haltlos und nirgendwo mehr richtig zu Hause.“ Er beugt sich mit eindringlicher Miene vor: „Versteht ihr, was ich meine?“

Die Freunde versuchen, Maliks Alkoholfahne auszuweichen, indem sie ihre Oberkörper, soweit es geht, auf dem Hocker zurücklehnen. „Nein“, antwortet Amadou und verzieht angewidert das Gesicht, „ich will es auch gar nicht verstehen. Wenn es dir dort nicht gefällt, dann komm doch einfach zurück.“

„Ihr habt keine Ahnung von dem Leben in Europa. Aber bevor wir weiterreden, gehe ich erst ‚mal pinkeln“, weist Malik Amadou zurecht und wurstelt sich schwerfällig von seinem Barhocker.

Als er zurückkommt, wirkt er nüchterner, bestellt für alle noch einen Softdrink und nimmt das Gespräch da wieder auf, wo er es unterbrochen hatte. „So einfach, wie ihr euch das vorstellt, funktioniert die westliche Welt nicht. Ich kann nicht einfach wieder zurückkommen; jedenfalls nicht die nächsten 15 Jahre; ich habe dort einen drei-jährigen Sohn und einen hohen Kredit abzuzahlen.“ Übellaunig macht er eine Pause. Er hat schon viel zu viel gesagt. Wenn das im Dorf herumgetratscht wird, verliert er sein Gesicht und seine armen Eltern schämen sich für ihn.

Hin und her gerissen zwischen dem Wunsch, sein Image als erfolgreicher Afrikaner mit den entsprechenden Insignien zu erhalten und dem Bedürfnis, endlich jemandem die Wahrheit zu sagen, entschließt er sich zu Letzterem. Vielleicht kann er damit diese netten Jungen vor allzu unrealistischen Vorstellungen und den mit Sicherheit daraus resultierenden Enttäuschungen bewahren.

„Glaubt mir, die westliche Welt ist kompliziert, freudlos und kalt, ihr idealisiert sie zu Unrecht“, und kopfschüttelnd fügt er hinzu: „Das Paradies findet ihr dort nicht.“

„Ich hab’s euch ja gesagt“, räsoniert Ibrahim, was Amadou gar nicht gefällt; er schnauzt seinen Freund von der Seite an:

„Und wo hat Malik das Geld für sein Haus, sein Auto und das alles verdient? Doch wohl in Deutschland. So schlecht kann es da ja dann nicht sein.“

„Na ja, wie man’s nimmt. Die Vorteile können sich sehr schnell zu Nachteilen entwickeln. Ihr seht jetzt nur das Haus, das ich hier baue, das Auto, mit dem ich herumfahre und die Geschenke, die ich mitbringe. Aber in Deutschland schufte ich von morgens bis abends sechs Tage in der Woche, um meinen Kredit abzubezahlen. Da ich einen festen Arbeitsvertrag habe, gab mir die Bank gerne Kredit. Sie ist bei der Vergabe auch nicht kleinlich; schließlich leben die davon, und das nicht schlecht. Die Zinsen, die ich zu zahlen habe, machen am Ende einen höheren Betrag aus, als der ganze Kredit. Das müsst ihr euch mal vorstellen! Ich werde die nächsten Jahre jeden Cent umdrehen müssen, bevor ich ihn ausgebe; mein ganzes Gehalt geht für Wohnen, Essen, meinen Sohn, Kredit abzahlen, Auto, Telefon und Unterstützung für zu Hause drauf. Da ist nichts übrig.“ Und leise fügt er mit gesenktem Kopf hinzu: „Wer weiß, wann ich meine Mutter wieder besuchen kann.“

„Oh, das ist hart“, murmelt Ibrahim mitfühlend. Malik schaut ihn dankbar von unten herauf an. Er fühlt sich verstanden und fährt deshalb mit seinen Betrachtungen an Ibrahim gerichtet, fort.

„Du denkst, du bist frei, wenn du ins Ausland gehst; dabei bist du nur ein argloses Tier in der Savanne, das die Falle im Elefantengras nicht sieht. Du denkst, Afrika ist weit weg, doch die Probleme von zu Hause holen dich ein, wo immer du auch hingehst. Sie sind permanent da und verlangen nach Abhilfe.“ Er macht eine Pause, wie um seiner nächsten Aussage noch mehr Wirkung zu verschaffen. „Du kannst dir nicht einfach ein schönes Leben in der Fremde machen.“

Der Barkeeper wischt vor den Jungs den Tresen trocken und sein etwas seitlich geneigter Kopf lässt die Vermutung zu, dass er die Ohren spitzt. „Frag einen Afrikaner in Deutschland, ob er dort glücklich ist. Ich kenne keinen.“ Ruckartig hält er in seiner Tätigkeit inne und schaut Malik verblüfft ins Gesicht; Amadou schnalzt als Reaktion ärgerlich mit der Zunge. Er will so etwas nicht hören. Ihn interessiert an dem vorangegangenen Gespräch nur die Information, dass es einfach ist, von der Bank viel Geld zu bekommen.

„Aber mit dem Kredit kommst du wenigstens zu was.“ Beifall heischend blickt er in die Runde. „Wenn du hier geblieben wärest, hättest du wahrscheinlich kein Haus bauen und kein Auto kaufen können. Vielleicht hättest du nicht einmal einen Job. Hier passiert rein gar nichts.“ Er verschluckt sich fast vor Aufregung, denn Malik hat doch alle seine Vorstellungen bestätigt. Das ist der Silberstreifen am Horizont, auf den er gewartet hat, seine Chance. Er muss nur zugreifen.

Also bittet er Malik mit lässiger Handbewegung um dessen Adresse in Deutschland. Der durchwühlt seine Taschen und zaubert nach erfolgreicher Suchaktion stolz eine arg ramponierte, mit goldener Schrift versehene Visitenkarte zutage. ‚Produktionshelfer’ steht da drauf und zwei Telefonnummern. „Ich komm dann mal vorbei“, sagt Amadou betont cool und seine Hand zittert etwas, als er die Karte entgegennimmt.

Ibrahim und Sekou ärgern sich über Amadou. Ihr Freund ist so besessen von der Idee, in einem europäischen Land sein Glück zu machen, dass sein Wahrnehmungsvermögen alles Kritische sofort ausblendet und nur die Informationen an sich heranlässt, die seinen Traum nicht gefährden. Wozu sollen sie noch mit ihm über Für und Wider einer Reise nach Europa diskutieren? Sie haben ihn bereits verloren. Jetzt gilt es, nur noch Schadensbegrenzung zu betreiben.

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