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Daseinselastizität (Bescheidenheit) des Menschen, negative und Elendsbereitschaft

Gegen die antinatalistische Moraltheorie wird häufig vorgebracht: Allerorten finden Menschen sich mit der Conditio in/humana ab und bekunden, es sei doch immer noch besser oder sogar gut, erbärmlich zu leben als gar nicht. Der ontologisch aufgeklärte Antinatalist wird sich durch diese Bekundung von Daseinsaffinität nicht beeindrucken lassen. Wer sagt, es sei doch besser, erbärmlich zu leben, als gar nicht, bringt zum Ausdruck: Besser am erbärmlichen Leben festhalten, als sterben. Indes beansprucht der Antinatalismus etwas anderes, nämlich: „Besser niemals existiert haben, als erbärmlich“, was onto-ethisch transformiert heißt: Besser keine Menschen zeugen, von denen niemals auszuschließen ist, dass sie erbärmlich leben werden.

Zumindest teilweise erklärt sich die negative Daseinselastizität wohl daraus, dass die Einräumung besseren Niegewesenseins als Bedrohung für das aktuelle Leben empfunden wird und nicht als alternativer Weltzustand vorgestellt wird, in dem die eigene miserable Existenz nicht vorkommt. Wäre es aber für Personen immer noch gut genug, miserabel zu leben und ein Weltzustand mit ihnen besser als ein Weltzustand ohne Miserable: müsste man dann nicht für die Hervorbringung möglichst vieler auch miserabler Existenzen plädieren?

Mill, John Stuart (1806–1873)

Mills klassische Schrift über die utilitaristische Ethik dient zugleich unserer Einübung in Bescheidenheit. Gemäß klassischer utilitaristischer Ethik sollen wir stets so handeln, dass das Glück aller von unseren Handlungen Betroffenen möglichst gemehrt wird. Anders als zahlreiche seiner Gegner, verstand Mill unter Glück keineswegs Glückseligkeit, sondern gemeinsam mit den alten Philosophen etwas Basaleres: „Das Glück, das sie meinten, war nicht ein Leben überschwenglicher Verzückung, sondern einzelne Augenblicke des Überschwangs inmitten eines Daseins, das wenige und schnell vorübergehende Phasen der Unlust, viele und vielfältige Freuden enthält… und dessen Grundhaltung es ist, nicht mehr vom Leben zu erwarten, als es geben kann. (…) Allein die Erbärmlichkeit der gegenwärtigen Erziehung und die elenden gesellschaftlichen Verhältnisse verhindern, dass es für nahezu alle erreichbar wird.“ (Mill, Der Utilitarismus, S. 23)

Mehr als ein Jahrhundert später ist dem nichts hinzuzufügen als die Frage: Wenn es eine offenbar unverbesserliche Konstante menschlichen Daseins ist, bei ungeheuren Unkosten höchstens schale Zufriedenheit zu bieten, warum dann so handeln, dass neue Menschen zu existieren beginnen?

Nietzsche (1844–1900)

Um die negative Daseinselastizität des Menschen, die ihn sich rasch an die unmenschlichsten Zustände anpassen und sie gutheißen lässt, wusste auch Nietzsche:

„Bescheidenheit des Menschen. – Wie wenig Lust genügt den meisten, um das Leben gut zu finden, wie bescheiden ist der Mensch!“ (Nietzsche Werke in drei Bänden, Bd. 1, S. 881) Diese von Nietzsche Bescheidenheit genannte Daseinselastizität ist es, die den Antinatalismus häufig wie ein exotisches Öl an den Wassermühlen des Lebens abprallen lässt. Als einer der schärfsten Kritiker christlicher Elendsbereitschaft ist Nietzsche nolens volens latenter Antinatalist. Zieht man von seinen Äußerungen zur Conditio in-/humana das Theorem vom Übermenschen ab, so führt die Nichtbereitschaft, das Leben als Leiden anzuerkennen zurück in den (Schopenhauerschen) Antinatalismus.

Wildgans, Anton (1881–1932)

In seinem Stück Dies irae erläutert uns der Dramatiker Anton Wildgans die negative Daseinselastizität und menschliche Bescheidenheit als Momente der Conditio in/humana so:

HUBERT in bezug auf den Applaus im nahen Heurigengarten. Wie's die Bestien treiben! Woher sie den Humor nehmen? Gibt es wirklich so viele fidele Kreaturen auf der Welt?

ROSL. Sind halt bescheiden in ihren Ansprüchen.

HUBERT verbissen. Eine ironischere Nachbarschaft als diesen Lustgarten könnte unser Haus nicht haben! Fiedeln, Johlen und Klatschen täglich bis um Mitternacht. Villa Pax ist übrigens auch kein übel-diabolischer Einfall meines Begründers. Pax – zu deutsch: der Friede! (Anton Wildgans, Dies irae, S. 18f)

Brecht, Bertold (1898–1956)

In seinem Gedicht „Die Hoffnung der Welt“ verzweifelt Brecht an der negativen Daseinselastität der Menschen, die doch als ungefragt Daseiende allen Anspruch hätten, nur das Beste zu verlangen:

„[…] Es ist furchtbar, dass der Mensch sich mit dem Bestehenden so leicht abfindet, nicht nur mit fremden Leiden, sondern auch mit seinen eigenen.“ (Brecht, Die Gedichte S. 739)

Elendsbereitschaft als Nativitätsmotor

Außer sie leiden unerträgliche Schmerzen hegen wohl die allermeisten Menschen zu jedem Punkt ihres Daseins den Wunsch, weiterzuleben (Lebenwollenmüsen). Wer aber davon überzeugt ist, unter allen erdenklichen – auch unmenschlichen – Bedingungen weiterleben zu wollen, wähnt, dass es unter allen Umständen moralisch vertretbar ist, neue Menschen hervorzubringen. Aus der eigenen, häufig unerprobten, Elendsbereitschaft wird – fälschlicherweise – geschlossen, es sei legitim, neue Menschen zu zeugen, auch wenn zu befürchten steht, dass diese früher oder später oder zeitlebens leiden werden.

Antinatalismus

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