Читать книгу Antinatalismus - Karim Akerma - Страница 190
ОглавлениеDaseinstäter
„Daseinstäter“ ist ein von Carl Spitteler in seinem „Prometheus“ für den Welturheber geprägter Terminus, den wir zur Bezeichnung von Personen verwenden, die willkürlich den Existenzbeginn eines Menschen bewirken. Spitteler führt über seinen übermenschlichen Daseinstäter aus:
„Doch wehe mir, kein Zaubersaft, kein Segen heilt / Den Daseinstäter, den der Friede nie ereilt! / Eh dass des wilden Weltenwirbels Kreisel steht, / Eh dass der letzte Klagelaut im Raum verweht, / Eh dass der letzte Hass im Aug des letzten Bösen / Vergrinst, gibt’s keine Macht, kein Mittel, mich zu lösen.“ (Spittler, Prometheus, S. 134)
Welchen Gott der griechischen Mythologie Spitteler hier anspricht, bleibt unklar. Umso expliziter ist seine Darlegung einer verfehlten Schöpfung und die Selbstverurteilung des Verantwortlichen. Spittelers Zeilen sind eine Allegorie auf die objektive Komplizenschaft aller sich Fortzeugenden mit künftigem Unheil.
Daseinstäter-Mörder-Relation (Gravitätsinversion)
Bei Flauberts Roman „November“ handelt es sich um einen Bericht, dessen fiktiver Verfasser eine reflektiert antinatalistische Position zur Daseinstäterschaft einnimmt: „Er war ernsthaft davon überzeugt, dass es weniger unrecht sei, einen Menschen zu töten, als ein Kind zu zeugen. Im ersten Fall nimmt man nur das Leben, nicht das ganze Leben, sondern bloß die Hälfte oder ein Viertel oder den hundertsten Teil dieses Daseins, das ja ohnehin zu Ende gehen musste und auch ohne unser Dazutun zu Ende ginge. Im zweiten Fall dagegen, pflegte er zu sagen, sind wir / da nicht verantwortlich für alle Tränen, die dieser Mensch von der Wiege bis zum Grabe vergießen wird? Ohne uns wäre er nicht geboren, und warum kommt er zur Welt? Nur um unserer Lust willen, ganz gewiss nicht um der seinigen. Um unseren Namen zu tragen, den Namen eines Dummkopfs. Genausogut könnte man ihn auf eine Mauer schreiben, wozu bedarf es eines Menschen, um die Last von drei oder vier Buchstaben zu tragen?“ (Flaubert, November, S. 105f)
Das von Flaubert vorgestellte antinatalistische Argument zielt darauf ab, dass ein Daseinstäter einen leiderfahrenden Menschen zuallererst beginnen lässt, die ein Mensch durchmachen muss, während ein Mörder ein immer auch leiderfülltes Dasein abkürzt. Geht man davon aus, dass durchgemachte Leiden nicht durch erlebte Freuden kompensiert werden (Kompensationsinkompetenz des Glücks), wird man Flauberts Antinatalismus-Argument eine gewisse Triftigkeit nicht versagen. Flauberts Erörterung der Daseinstäter-Mörder-Relation lässt indes unbedacht, dass eine Gesellschaft, in der Morde als Mittel zur Leidensabkürzung gang und gäbe wären, von unerträglichen neuen Leiden und Ängsten heimgesucht würde: der Trauer der Hinterbliebenen und den Ängsten der Lebenden, dass es auch sie treffen könnte. Allein als Robinsonade gedacht, ist Flauberts Gravitätsinversion triftig: Lebe ich vom Rest der Welt vergessen und isoliert auf einer Insel und werde ich dort hinterrücks und mit augenblicklichem Todeseintritt erschossen, so lässt sich in der Tat sagen, dass hierdurch verhindert wurde, dass ich unweigerlich bevorstehende Leiden durchmachen musste.