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Daseinsmakel (nativistische Daseinssünde)

Antinatalistisches Pendant zur Erbsünde. Jeder Existenzbeginn setzt ethisch verwerfliche Ereignisketten voraus: Viele der im 20. Jahrhundert Geborenen haben Gattungsgroßkatastrophen zum Daseinsgrund. Großkatastrophen wie die Weltkriege sind neganthropische Mahlströme, ohne die das Alltagsleben der Folgejahrzehnte inklusive aller zwischenmenschlichen Begegnungen und Zeugungen ganz anders ausgefallen wäre. Dass wir im Fahrwasser solcher Ereignisketten zu existieren begannen, ist nicht unsere Schuld, wohl aber unser Daseinsmakel. Wer seine Existenz bejaht, bejaht sich als Nutznießer des Ungeheuerlichen. „Absolution“ kann jeder sich nur selbst erteilen: indem er befindet, es wäre besser gewesen, niemals entstanden zu sein: wenn nur die Geschichte einen ganz anderen Verlauf genommen hätte, Menschen nie entstanden wären oder aufgehört hätten, sich fortzuzeugen.

Habermas (*1929)

Wer das Glück hatte, in eine halbwegs funktionierende Demokratie hineingeboren worden zu sein, sollte dieses Glück nicht preisen, ohne sich dessen vergewissert zu haben, dass es auf namenlosen Leiden Vorgeborener gediehen ist, auf einem Leidkompost (siehe auch Existenzgrundlage), den Jürgen Habermas sensibel zur Kenntnis nimmt:

„Gesetzt den Fall, dass die Nachgeborenen nur dank der Leiden und Opfer vergangener Generationen in den Genuß einer institutionalisierten Freiheit, wenn nicht geradezu einer gerechten Ordnung, so doch von Prozeduren gelangt sind, die Unrecht minimieren – dürfen sie eine Welt, die eine solche Entstehungsgeschichte hat, eine ‚gerechte’ nennen?“ (Habermas, Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, S. 515f) So resümiert Habermas einen Gedanken Benjamins, wie ihn Ch. Lenhardt in seinem Vortrag „The Proletariat and its Manes. An Essay on Anamnestic Solidarity“ wiedergegeben habe. Habermas urteilt: „An der Idee einer Gerechtigkeit, die mit dem an früheren Generationen begangenen Unrecht erkauft ist, haftet ein Makel. Der Makel kann nicht abgewaschen, er kann allenfalls vergessen werden; aber dieses Vergessen müsste Spuren des Verdrängten hinterlassen. Der Widerspruch, der der Idee der vollkommenen Gerechtigkeit ihres prinzipiell uneinlösbaren Universalismus wegen innewohnt, kann nicht aufgelöst werden. Hier setzt Benjamins Überlegung an: Die Nachgeborenen können den in der Idee selbst enthaltenen Widerspruch nur dadurch kompensieren, daβ sie den abstrakten, aber uneinlösbaren Gedanken der Universalität durch die anamnetische Kraft eines Eingedenkens ergänzen, welches über die Begriffe der Moral selber hinausgreift. Dieses Eingedenken aktualisiert sich in der mitleidenden Solidarität mit der vergangenen Verzweiflung der Geschlagenen und Gepeinigten, die das Nichtwiedergutzumachende erlitten haben. In dieser Hinsicht ist »Mitleid«, Mitleid mit dem Schmerz einer Verletzung der moralischen und leiblichen Integrität vergangener Generationen, in ähnlicher Weise ein Grenzbegriff der Diskursethik wie »Natur an sich« ein Grenzbegriff der transzendentalpragmatischen Erkenntnistheorie.“ (516f)

Berücksicht man auf dem Boden dieser Überlegungen Habermas’ den von ihm an anderer Stelle (Habermas) ins Spiel gebrachten „Sockel existentiell unvermeidbaren“ Leids, so ist zu konstatieren, dass er eine Antwort auf die Frage schuldig bleibt, warum künftig überhaupt noch so gehandelt werden sollte, dass Menschen zu existieren beginnen: Zum einen ist ihr Dasein unaufhebbar moralisch kontaminiert durch die Leidmassive zurückliegender Generationen, auf deren Gipfeln eine halbwegs gerechte Gesellschaft thronen mag. Zum anderen aber ist sich Habermas – anders als etwa Marcuse – völlig im Klaren darüber, dass auch in einer vollends gerechten Gesellschaft der Sockel existentiell unvermeidbaren Leids riesig bleiben wird. Mit diesem Eingeständnis aber macht der bei Habermas fehlende Einspruch gegen den quasi naturwüchsigen gesellschaftlichen Fortzeugungszusammenhang seine Gesellschaftstheorie fragwürdig. Habermas deutet an, dass sowohl die Vergangenheit wie auch die Zukunft existentiell unzumutbar sind: erstere wegen des kommunikativ unaufhebbaren Leids vergangener Generationen, letztere wegen des für alle Zukunft in Rechnung zu stellenden Sockels existentiell unvermeidbaren Leids. Hieran knüpft die antinatalistische Moraltheorie an: Im Sinne einer kommunikativen Verflüssigung des menschlichen Naturerbes setzt sie Momente Habermasscher Überlegungen fort und gelangt zu einem Ergebnis, zu dem Habermas kraft der sein Denken regierenden vorkommunikativen Intuitionen keinen Zugang hat.

Daseinsnarzissmus, Existenzscham

Antinatalismus

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