Читать книгу Antinatalismus - Karim Akerma - Страница 187
ОглавлениеDaseinsschuldgefühl
Seltenes Gegenstück zum Daseinsnarzissmus. Bekannt sind Daseins-Schuldgefühle überlebender Opfer natürlicher oder geschichtlicher Katastrophen. Die Überlebenden werden von der Frage bedrängt: Warum habe ausgerechnet ich es geschafft? Daneben ist ein metaphysisches Daseins-Schuldgefühl dergestalt zu veranschlagen, dass jeder von uns sich die Frage vorlegen kann, warum gerade er gezeugt wurde und zu existieren begann, wo doch die eigenen Eltern jemanden anderes hätten zeugen können, hätten sie zu einem von der tatsächlichen Zeugung abweichenden Zeitpunkt gezeugt. Thomas Nagel führt diesbezüglich aus: „There can also be a taste of survivor’s syndrome, guilt toward all those others who will never be born.“ (Nagel, The View from Nowhere, S. 211) Belege für dieses unbegründete Daseins-Schuldgefühl gegen „Ungezeugte“ (die man ja nicht am Existenzbeginn hinderte) bietet auch Nagel nicht.
Adorno (1903–1969)
Bis in seine Träume hinein litt Adorno unter Daseinsschuld. Adorno begreift seine Existenz zumal deshalb als schuldbeladen, da er als Jude überlebte, während zahllose andere umgebracht wurden: „Jedenfalls ist zu sagen, dass die Schuld, in die man fast schon / dadurch, dass man überhaupt weiterlebt, verstrickt ist, mit dem Leben selbst kaum mehr zu versöhnen ist. (…), man kann sehr schwer nur dem Gefühl sich entziehen, dass man eigentlich bereits dadurch, dass man weiterlebt, gewissermaßen einem anderen, dem das Leben versagt worden ist, die Möglichkeit wegnimmt, ihm das Leben stiehlt. (…) Und wenn man dann weiterlebt, dann hat man gewissermaßen das statistische Glück gehabt, das auf Kosten eben derer ging, die in den Vernichtungsmechanismus hineingeraten sind und, wie man fürchten muss, noch hineingeraten werden. Die Schuld reproduziert sich in jedem von uns…, weil wir unmöglich dieses Zusammenhangs in jedem Augenblick unseres wachen Lebens ganz gewärtig sein können.“ (Adorno, Metaphysik, S. 175f; siehe ähnlich Negative Dialektik, S. 357) [Panempathiedefizit]
Adornos Grenze liegt darin, dass er zwar den negativ-metaphysischen Gedanken der Daseinsschuld formuliert, dass er es aber versäumt, die Daseinsschuld auf die jedesmaligen Primärverursacher je eigenen Daseins: die jeweiligen Eltern, zurückzuwerfen. Indem Adorno die Menschen im Blick hat, die künftig auch künftig in Vernichtungsmechanismen hineingeraten werden, hätte er von der zumal nach Auschwitz manifesten Elternschuld nicht schweigen sollen. Als Nichtkritiker der Elternschuld verfällt Adorno der Fortzeugungsschuld.