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Elternschuld

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Elternschuld{64} bezeichnet eine nichthintergehbare Schuld, die alle Initiatoren menschlicher Existenz auf sich laden. Die Nichthintergehbarkeit der Elternschuld korrespondiert dem Umstand, dass ausnahmslos alle Kinder dazu verurteilt sind, die mit Geburt, Leben und Sterben einhergehenden Leiden durchzumachen. Das Maß der Elternschuld bemisst sich am Gegebensein antinatalistischer Aufklärung und dem Stand der Elternfreiheit, das heißt an der Wahlfreiheit, sich für oder gegen die Fortpflanzung zu entscheiden. Der Elternschuld haftet ein sozialgeschichtlicher Index an: Je verfügbarer Verhütungsmittel einerseits sind und je allgegenwärtiger Informationen über die Conditio in-/humana andererseits sind – die Gattungsselbstbekanntschaft –, desto erheblicher die Elternschuld. Die arme Frau im Niger oder in Bangla Desh heute oder die deutsche Fabrikarbeiterin um 1900 trifft weniger Elternschuld als die Männer ihrer Zeit oder als wohlhabende Westler um die letzte Jahrtausendwende, die Gelegenheit hatten, sich ausgiebig über Vergangenheit, Gegenwart und die wahrscheinliche Zukunft von Menschheit und Neugeborenen von der Krippe bis ins Gerontolager oder Sterbebett im Krankenhaus zu informieren.

Im Zeitalter der Information lebende Eltern wissen nicht bloß um die Verletzlichkeit ihrer Kinder, deren Zeugung oder Zurweltkommen sie relativ einfach hätten verhindern können, sondern auch um die wahrscheinliche Art und Weise ihrer Erkrankungen und ihres Sterbenmüssens. Sie nehmen all dies vielleicht mit ähnlichen Überlegungen in Kauf wie der Fleischesser das letztliche Sterbenmüssen von Nutztieren: „Aber vorher haben sie doch ein schönes Leben gehabt!“ und: „So schlimm ist es doch nun auch nicht!“ Dem widerspricht der Arzt Sherwin B. Nuland. Mit seinem Buch „Wie wir sterben. Ein Ende in Würde?“ wendet er sich nicht zuletzt gegen Standesgenossen, die unseren Sterbeprozess mit fadenscheinigen Angaben schönreden:

„Mich machen solche Behauptungen ratlos. Ich habe zu oft erlebt, wie Menschen qualvoll starben und wie ihre Angehörigen unter ihrer Hilflosigkeit litten, als dass ich meine klinischen Beobachtungen für eine Missdeutung der Wirklichkeit halten könnte. Die letzten Wochen und Tage der Mehrzahl meiner Patienten – das kann ich bezeugen – waren von Höllenqualen geprägt. [...] Eine gewisse Scham sorgt dafür, dass der Gedanke an ein elendes Ende verdrängt wird.“ (Nuland, Wie wir sterben, S., 214f) Um was für eine Art von Scham handelt es sich hierbei? Offenbar schämt man sich in Anbetracht Sterbender deshalb, weil man weiß, dass man an der Propagation der Lebens-Lüge beteiligt ist, unser Dasein sei ein Tanz auf Rosen und die Agonie des Lebensendes mehr als wettgemacht und zumutbar in Ansehung die genossenen Freuden. Schriftstellern gelingt es immer wieder die verdrängte Wahrheit in Worte zu kleiden:

„Wenn es soweit war, und daran dachte ich ohne Unterlass, erwartete uns ein klumpiges, pestverseuchtes Elendslager in einem zwielichtigen Krankenhaus, eine tägliche Folter, Kränkungen, Diebstahl unserer persönlichen Sachen, infizierte Nahrung. Allheilmittel mit abgelaufenen Gebrauchsdaten und brackiges Wasser, unaufhörlich quälende Erschöpfungszustände, steppenartige Wartezeiten in Zugluft an unmöglichen Orten, in nicht enden wollenden Untergeschossen oder weit abgelegenen Nebengebäuden, dann der Todesstoß in einer Nacht großen Röchelns, und die lange Agonie in eisiger Stille bis zum grauen Morgenlicht...“ (Boualem Sansal, Rue Darwin, S. 17f)

In dem Maße, in dem Eltern diesbezüglich informiert sind – und wer hätte nicht schon von den Höllenqualen und -umständen Sterbender gehört? –, nehmen sie auf dem Wege der Fortpflanzung schlimmste Agonien für die eigenen Kinder billigend in Kauf. Durch das Argument, die Kinder hätten doch vorher ein schönes Leben gehabt, schimmert eine einseitige Voreingenommenheit für die Gegenwart oder nähere Zukunft bei willkürlicher Ausblendung der ferneren Zukunft durch. Aber der Umstand, wann etwas erlebt wird, in diesem Fall „Höllenqualen“, verändert nicht die Qualität des zu Erlebenden. Dadurch, dass große Schmerzen erst am Lebensende zu durchleiden sind, werden sie nicht weniger grauenhaft. Zudem haben wir es hier mit einer verbreiteten Entwertung des Alters zu tun: Eltern rechtfertigen das nichthintergehbare Leiden und Sterbenmüssen ihrer einmal alt sein werdenden Kinder damit, dass es ja „nur“ alte Menschen sein werden, die da leiden.

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