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Thomas Manns (1875–1955) drei Elternschuldbekenntnisse
ОглавлениеErstes Mannsches Bekenntnis
Am 13.11.1918 notiert Mann in sein Tagebuch:
„Dem Kindchen wurde das Ohr verbunden, als ich zurückkam. Es warf sich und schrie, dass es mir das Herz zerriss. [...] Setzt man Kinder in die Welt, so schafft man auch noch Leiden außer sich, objektive Leiden, die man nicht selber fühlt, sondern nur fühlen sieht, und an denen man sich schuldig fühlt.“ (Mann, Tagebücher 1918-1921, S. 76 f. Fund: GK)
Wir stehen vor einem Elternschuldbekenntnis, zu dem das Gros aller Eltern vielleicht gar nicht in der Lage ist. Gilt es doch als Daseinsbegleitmusik, dass Kinder aus seelischer Not oder vor körperlichem Schmerz schreien, wie sie eben überhaupt laut sind (sofern die Eltern ihnen lautes Spielzeug kauften). „Kinder schreien schon mal“ offenbart eine erschütternde Notlagen-Hermetik, die dem Schreien der Kinder den ihm gebührenden Ernst nehmen will. Wobei übersehen wird, dass Kinder – anders als Erwachsene – mehr oder weniger ganz in ihrer Notsituation aufgehen und vom Schmerz beherrscht werden.
Zweites Mannsches Bekenntnis
Aufgrund „eigentümlichen“ Verhaltens seines Sohnes Klaus (1906–1949) notiert Th. Mann in seinem Tagebuch: „Wie wird das Leben des Jungen sich gestalten? Jemand wie ich ‚sollte’ selbstverständlich keine Kinder in die Welt setzen. Aber dies Sollte verdient seine Anführungsstriche. Was lebt, will nicht nur sich selbst, weil es lebt, sondern hat auch sich selbst gewollt, denn es lebt.“ (Tagebücher 1918-1921. Eintrag vom 20.9.1918 (S. 11), Fund: GK)
Was mag Mann im Sinn gehabt haben, als er schrieb, was lebt, hat sich selbst gewollt, da es nun einmal lebt? Gab es in der Vergangenheit einen Zeitpunkt, zu dem wir uns selbst wollten und das Sein dem Nichtsein vorzogen? Aus logischen Gründen ist ersichtlich, dass wir nicht deshalb ins Dasein traten, weil „wir“ sein wollten. Schon Nietzsche kritisierte in seinem „Zarathustra“ die Rede vom „Willen zum Dasein“ und sagte: „diesen Willen – gibt es nicht! Denn: was nicht ist, das kann nicht wollen; was aber im Dasein ist, wie könnte das noch zum Dasein wollen!“ (Nietzsche, Werke in 3 Bd. 2, S. 372)
Alternativ könnte Mann auf den Umstand anspielen, dass das Dasein eines jeden Lebewesens allzeit gefährdet ist: Das Fortbestehen eines Lebewesens bezeugte dann ein Daseinwollen, insofern es sich in der Vergangenheit erfolgreich gegen den eigenen Untergang aufgelehnt haben muss, etwa Krankheiten überstand oder Verfolgern entkam.
Am plausibelsten indes scheint eine Deutung, wonach Mann hier auf den Selbstmord anspielt: Jeder Mensch, der noch da ist, muss sich wollen – andernfalls hätte er bereits Selbstmord begangen und existierte nicht mehr.
Busch, Marquard
Drittes Mannsches Bekenntnis
Ein weiteres Th. Mannsches Bekenntnis zur Elternschuld findet sich in dem von Erika Mann herausgegebenen Band „Klaus Mann zum Gedächtnis“. In dem von ihm beigetragenen Vorwort schreibt Th. Mann:
„Mein Herz ist ohne Bitternis, weil er zum Schluss nicht mehr unser gedenken konnte. Es fehlte nur, dass man von Undank spräche für ein so zweideutiges und schuldhaftes Geschenk, wie das des Lebens.“ (Mann, Mein Sohn Klaus, S. 11. Fund: GK)
Diese Formulierung ist natalethisch revolutionär; bestreitet sie doch, dass Kinder den eigenen Eltern Dank dafür schulden, von ihnen verursacht worden zu sein. Ganz im Gegenteil findet sich bei Mann eine Natalschuldumkehr: Das Kind steht nicht bei seinen Eltern in der Schuld, weil es von ihnen das Leben geschenkt bekommen hat, sondern die Eltern stehen beim Kinde in der Schuld, da sie ihm mit dem Leben ein zweideutiges „Geschenk“ gemacht haben.