Читать книгу Heinrich in Canossa gedemütigt! - Karin Schneider-Ferber - Страница 6

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+++ Der Büßer im Schnee – ein König kniet nieder +++

Eisiger Wind fegt in der letzten Januarwoche des Jahres 1077 von den Abhängen des Apennin in die Poebene hinab. Die wie ein Adlernest auf ihrem Felskegel thronende Festung Canossa, südwestlich von Reggio Emilia gelegen, wird trotz der ungünstigen Witterung in diesen Tagen zum Schauplatz einer »unerhörten« Begebenheit.Der deutsche König Heinrich IV. marschiert auf sie zu. Sein Ruf ist ihm vorausgeeilt. Doch er kommt nicht als Herrscher und gefürchteter Feldherr, sondern als Sünder und Büßer, der um Vergebung für seine Verfehlungen bittet. Er sucht sie bei jenem Mann, der zu dieser Zeit als Gast auf der Burg Canossa weilt.

+++ Papst Gregor VII. ist ein ältlicher, knapp sechzigjähriger Herr, dem die Kälte mit jedem Lebensjahr mehr zu schaffen macht. Er steht am offenen Kaminfeuer, um sich die Hände zu wärmen und mit halb geschlossenen Augenlidern das so ereignisreiche vergangene Jahr Revue passieren zu lassen. »Der Apostel Petrus ist mein Zeuge«, murmelt der Oberhirte leise vor sich hin, »ich habe mich stets um Frieden und Gerechtigkeit bemüht«. Gregor mag gar nicht ans Fenster treten, denn er weiß, wer draußen auf ein Zeichen seiner Güte wartet. Heinrich, der König aus dem Hause der Salier, das schwärzeste Schäfchen aus Gottes großer Herde. Dieser Heißsporn, mit dem er sich seit über einem Jahr einen handfesten Machtkampf liefert, den er exkommuniziert und seines Amtes enthoben hat, treibt ihm regelmäßig die Sorgenfalten auf die Stirn. »Was ich fordere, ist doch nur das Recht der Kirche«, beruhigt sich Gregor selbst, »das Recht, die eigenen Amtsträger selbst zu bestimmen und den Einfluss der Laien auf die Belange der Kirche zu begrenzen. Schuldet nicht jeder aufrechte Gläubige mir, dem obersten Hirten und Stellvertreter Christi auf Erden, Gehorsam und Respekt? Zählt nicht auch jeder Fürst und jeder König vor Gott als einfacher Mensch, unterworfen seinem Gericht am jüngsten Tag? Ist es denn so eine Zumutung, auch von einem gesalbten König diese Gehorsamspflicht gegenüber dem Heiligen Stuhl einzufordern? Von meinen Bischöfen verlange ich sie doch auch, obwohl sie murren und sich gelegentlich störrisch zeigen.« Der alte Herr knetet seine rot gefrorenen Fingerspitzen. Dass ihn sein Sorgenkind nun auch noch vor Canossa abgefangen hat, passt ihm gar nicht in den Kram. Lieber wäre er der Einladung der deutschen Fürsten nach Augsburg gefolgt, um in einer Art Schiedsgericht über Heinrichs Zukunft als Herrscher zu entscheiden. Nun steht der voreilige Delinquent schon vor dem Burgtor und holt sich den Tod, wenn der oberste Seelenhirte nicht endlich christliche Barmherzigkeit walten lässt. Langsam und gebeugt geht der Papst zur Tür. Hat er eine andere Wahl? Er kann den Büßer im Schnee doch nicht ewig warten lassen.

Im zweiten Mauerring der stark befestigten Burg Canossa steht barfuß und im wollenen Büßerhemd ein athletischer Mann. Er ist jung, erst 26 Jahre alt, und sein guter Gesundheitszustand versetzt ihn in die Lage, der Kälte trotz dünner Bekleidung und fehlenden Schuhwerks standzuhalten. Seit drei Tagen bereits unterzieht sich Heinrich IV. diesem Buß- und Unterwerfungsritual, das seine Vermittler für ihn ausgehandelt haben. Gewiss – kein angenehmes Procedere, doch dem jugendlichen Herrscher ist in diesem Moment nicht allzu bang ums Herz. Die Initiative zur Aufnahme der Gespräche mit dem Papst ist schließlich von ihm selbst ausgegangen, und er hofft so eine Verbindung seiner Gegner im Reich mit der höchsten moralischen Autorität der Christenheit zu verhindern. Ein solches Treffen, für den 2. Februar 1077 in Augsburg geplant, würde ihn zum Verhandlungsobjekt machen und ihm keine politischen Spielräume mehr lassen. Allzu geschlossen steht die Phalanx seiner Gegner im Reich, allzu mächtig sind seine Widersacher, die nur darauf warten, ihn aus dem Amt zu drängen. Da sucht er lieber gleich den Ausgleich mit Gregor. Mit warmen Gefühlen denkt Heinrich an alle, die für ihn ein gutes Wort beim Papst einlegen: an seine Schwiegermutter Adelheid von Turin, an seinen Taufpaten Hugo von Cluny, an Markgräfin Mathilde von Tuszien, seine Verwandte, vor deren Burg er gerade steht. »Sie werden es schon richten«, denkt Heinrich, »sie werden den gestrengen Alten dazu überreden, mich vom Bann zu lösen.« Vor allem die fromme Mathilde pflegt ein enges persönliches Verhältnis zu Papst Gregor, sodass ihren Bitten ein besonderes Gewicht zukommt. Auf sie setzt Heinrich seine Hoffnung.

In diesem Moment öffnen sich die Flügel des Burgtores. Heinrich tritt ein und steht unversehens dem Papst gegenüber. Für eine Sekunde blicken sich die beiden Männer in die Augen: hier der prinzipientreue, sendungsbewusste, bis zum Starrsinn kompromisslose Oberhirte, da der junge, temperamentvolle, taktisch geschmeidige König, der zu Zugeständnissen allenfalls in Notlagen bereit ist. Die höchsten Repräsentanten der abendländischen Christenheit treffen im Burghof von Canossa aufeinander, doch es ist kein prunkvoller Staatsakt, der sie zusammenführt. Die Umstehenden werden vielmehr Zeugen eines ausgeklügelten Rituals. Der König wirft sich vor dem Papst mit kreuzförmig ausgestreckten Armen zu Boden, bis ihm der Papst mit den Worten »Sei nicht mehr verflucht!« aufhilft und seine Hand ergreift, um ihn in die Kirche zu führen. Friedenskuss, Messfeier und die Darreichung der Hostie vollenden das Zeremoniell.

Das Misstrauen begleitet jede Minute dieses Tages wie die allgegenwärtige Winterkälte. Der sittenstrenge Papst glaubt den Demutsgesten seines Seelenschäfchens nämlich nicht uneingeschränkt und stellt den König noch während der Messe auf die Probe. Er solle doch die Einnahme der Hostie zum Gottesurteil ausrufen, rät er ihm, wenn er reinen Herzens sei, könne er den Leib des Herrn gefahrlos genießen. Doch wehe dem verstockten Sünder! Heinrich erschrickt, berät sich mit seinen Getreuen und lehnt unter Ausflüchten dieses Ansinnen ab. Der Papst geht still über die Szene hinweg, doch zu retten ist der Tag von Canossa nun endgültig nicht mehr. Die Atmosphäre ist frostig und bleibt es auch während des Versöhnungsmahls, das Mathilde von Tuszien den beiden Kontrahenten ausrichtet. Ein gemeinsames Mahl bedeutet im Allgemeinen den Auftakt zu einem friedlichen, ja freundschaftlichen Miteinander, doch davon sind König und Papst weit entfernt. Bei Tisch rührt Heinrich die Speisen kaum an, er sitzt missmutig und mit hängenden Schultern da und zerkratzt mit den Fingernägeln die Tischplatte. Nein, Canossa gereicht ihm nicht zum Ruhm. Er weiß, dass er seine Ziele nicht alle erreicht hat. Sicher, vom Bann ist er gelöst und in die Gemeinschaft der Gläubigen wieder aufgenommen – das stärkt zumindest für den Moment seine Position im Reich –, aber seine Vermittler haben vor der Absolution einen Eid für ihn geleistet, der ihm schwer im Magen liegt, denn er musste dem Papst freies Geleit ins Reich zusagen und den Vorsitz einer Fürstenversammlung zugestehen, bei der über seine, Heinrichs, Lebens- und Amtsführung erst noch ein Urteil gesprochen werden würde. Über seine weitere Zukunft als König ist daher auch nach dem Bußritual noch nicht endgültig entschieden.

So wird der Tag von Canossa kein Freudentag, kein Tag des Triumphes oder des dauerhaften Ausgleichs. Als die beiden hohen Herren abends getrennt in ihre Betten steigen, will bei keinem rechte Siegeslaune aufkommen. Gregor hat sich mit einem festen Vorsatz in seine Gemächer zurückgezogen: Er muss unbedingt seine Reise ins Reich fortsetzen und die Bedenken der Fürsten gegen König Heinrich hören. »Aufgeschoben ist nicht aufgehoben«, denkt er. »Gleich morgen schreibe ich den Mächtigen des Reiches einen Brief, um meine Lage zu erklären. Heinrich hat mich mit seinem Verhalten überrascht, und ich wäre als hartherziger Tyrann dagestanden, hätte ich ihn nicht vom Bann gelöst.« Er hofft, die Fürsten mit diesem Argument überzeugen zu können, denn diese werden über sein voreiliges Handeln kaum erfreut sein. Ihre Pläne hat Canossa vorerst einmal durchkreuzt. Aber auch der junge König sinkt nach diesem anstrengenden Tag müde in die Kissen. Hat er überhaupt etwas gewonnen? Ist er einer stabilen Herrschaft im Reich auch nur ein winziges Stück näher gekommen? Sicher, er hat eine der Hauptforderungen der Fürsten, die Lösung vom Bann innerhalb eines Jahres, erfüllt, aber kann er damit alle seine Kritiker zufriedenstellen? Und was ist mit dem noch ausstehenden Schiedsgericht? Auch König Heinrich fasst an diesem Abend ein festes Ziel ins Auge: Um alles in der Welt wird er dieses Treffen zu verhindern wissen, er wird sich keinem Gericht beugen, schon gar keinem unter päpstlichem Vorsitz, und er wird um seine Krone kämpfen. Notfalls auch mit Waffengewalt. »Im Zweifelsfall«, ist sich Heinrich sicher, »war der liebe Gott noch immer mit den stärksten Bataillonen.« Und ein listiges Lächeln huscht um seine Lippen.

Heinrich in Canossa gedemütigt!

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