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Eine Zeit der Umbrüche – das bewegte 11. Jahrhundert

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Dieser tiefgreifende Umschwung vollzog sich auf unterschiedlichen Ebenen: Zunächst innerhalb der Kirche, die sich ausgehend von der Klosterreform des 10. Jahrhunderts auf ihre eigentlichen Wurzeln zu besinnen begann, nach spiritueller Erneuerung strebte und den Einfluss der Laien auf ihre Belange zurückzudrängen suchte. Allzu häufig und allzu heftig hatte die Welt mit ihren Verlockungen von Macht und Geld an die Türen der Klöster und Kirchen geklopft, sie in die irdischen Bezüge hineingezogen und damit für allerlei Irritationen gesorgt. Die reformfreudigen Kreise innerhalb der Kirche waren nicht mehr bereit, skandalöse Zustände wie Ämterkauf, Priesterehe und Laieninvestitur hinzunehmen. Letzteres, die Vergabe kirchlicher Ämter durch Laien, zu denen man zunehmend auch den König rechnete, gab dieser Umbruchphase auch den Namen »Investiturstreit«, obwohl es nie ausschließlich um das Problem der Einsetzung in geistliche Ämter ging. Den Anhängern der Kirchenreform lag ganz grundsätzlich an einer klareren Abgrenzung von weltlicher und kirchlicher Sphäre. Diese Grenzziehung musste sich in besonderem Maße auf das Verhältnis von Königtum und Papsttum auswirken, verstanden die Könige ihre Herrschaft doch als »gottgegeben« und mischten in der Personalpolitik der Kirche kräftig mit, wobei nicht nur Bischofs- und Abtstühle, sondern auch das höchste Amt der Christenheit, das Papsttum selbst, in ihr Visier geriet. Dem Reformpapsttum ging es darum, diese Zugriffe auf allen Ebenen abzuwehren, sodass die Frage der Ämterbesetzung zu einer Machtprobe zwischen weltlicher und geistlicher Gewalt anwachsen konnte. Die Durchsetzung der Kirchenreform bedeutete dabei auch eine Stärkung der päpstlichen Stellung, denn der Papst forderte nicht nur Gehorsam von seinen Bischöfen und Erzbischöfen in Fragen der Kirchendisziplin, sondern beanspruchte generell die geistliche Führerschaft über alle Laien, einschließlich der Fürsten, Könige und Kaiser.

Damit kam die zweite Ebene ins Spiel, auf der sich die Umwälzungen des 11. Jahrhundert abspielten, nämlich die hohe Politik. Das Königtum konnte sich bei der Legitimation seiner Herrschaft nicht mehr allein auf das Gottesgnadentum berufen, wenn es in geistlichen Dingen dem Primat des Papstes unterworfen war. Mächtig und laut stellte das Jahrhundert die Frage, was einen König zu einem gerechten Herrscher machte, welchen Spielregeln er unterworfen war und bei welchen Vergehen er seiner königlichen Stellung verlustig ging. Von Beginn seiner Regierung an machte man Heinrich IV. nämlich schwere Vorwürfe wegen seiner persönlichen Lebensführung und seines Amtsverständnisses. Die Fürsten des Reiches pochten auf ein Mitspracherecht bei der Regierung des Gemeinwesens und fühlten sich berechtigt, ein Gottesgnadentum, das nicht mehr auf christlichen Werten beruhte, zu verwerfen. Im Notfall nahmen sie für sich in Anspruch, einen »ungerechten« König abzusetzen und einen neuen zu wählen, wobei sie den Papst als obersten Schiedsrichter in Fragen von Sitte und Moral anzuerkennen bereit waren. Die Vorstellung vom Reich als transpersonaler Größe, losgelöst von der Person des jeweiligen Herrschers, nahm hier erste Gestalt an. Die Fürsten fühlten sich mehr denn je als »Häupter des Reiches«, als die ehrlichen Makler der Politik, während dem Königtum mit seiner dynastischen Ausrichtung eher eigennützige Motive bei der Verwaltung des Reiches unterstellt wurden. Der Investiturstreit bedeutete daher nicht nur einen Prinzipienstreit zwischen »Kirche« und »Staat«, sondern eröffnete auch eine Grundsatzdebatte über die Rechtmäßigkeit von Herrschaft und über die Kontrolle der Mächtigen – ein höchst moderner und aktueller Ansatz!

Der Austausch von Argumenten und Gegenargumenten führte schließlich auf einer dritten Ebene zu tiefgreifenden gesellschaftlichen und mentalen Veränderungen. Beide Parteiungen, Reformanhänger wie Königstreue, mussten ihre Positionen argumentativ untermauern, wozu sie die Rechtswissenschaften bemühten, alte Texte neu interpretierten und neue Grundsätze formulierten. Eine Argumentation, die sich ausschließlich auf die Bibel bezog, genügte auf beiden Seiten nicht mehr. Während kirchliche Autoren das kanonische Recht ausarbeiteten und verfeinerten, mühten sich die königlichen Parteigänger um eine erste Aufarbeitung des römischen Rechts, das helfen sollte, königliche Vorrechte zu legitimieren. Um die jeweiligen Standpunkte in der Öffentlichkeit bekannt zu machen, entstand auf beiden Seiten eine vielfältige Streitliteratur, die beweist, wie lebhaft zu dieser Zeit um grundsätzliche Fragen gestritten wurde. Dieser Diskurs machte erstmals eine fortschreitende Rationalisierung des Denkens erkennbar, die eine vernunftmäßige Begründung des Glaubens einschloss.

Heinrich in Canossa gedemütigt!

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