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Kapitel 9

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Acht Monate später. (März 2011)

Ich gehe über den Bahnsteig. Massen von Menschen mit Koffern und Reisetaschen laufen eilig umher. Sie alle eilen zu ihren Zügen, oder kommen von dort. Ich stehe am Bahnsteig und vergleiche die Zugnummer. 1606, Berlin – Warnemünde. Korrekt. Abfahrt 18:09. Korrekt. Das ist mein Zug.

Suchend schreite ich die Schilder für die Wagennummern ab. Vor dem Waggon mit der Nummer einundzwanzig bleibe ich stehen. Das ist der Waggon, in den ich einsteigen muss. Die Türen der Wagen öffnen sich und die Ankommenden steigen aus. Erst danach drängeln sich die neuen Passagiere hinein.

Ich habe eine Sitzplatzreservierung. Im dichten Gedrängel suche ich den Sitzplatz sechsundvierzig, der sich an einem Vierertisch befindet. An ihm sitzt bereits ein Reisender. Ein Mann Anfang dreißig, der mit Brille in einem Buch liest und jetzt bemerkt, dass ich hier sitzen werde. Er sieht zu mir auf und springt hoch.

»Kann ich Ihnen behilflich sein?«, fragt er zuvorkommend und entfernt seine Brille. Das Buch landet auf dem Tisch und ich nicke dankbar. Ich lese neunzehnhundertvierundachtzig.

»Ihr Koffer?«, fragt er und wieder bejahe ich. Dabei deute ich auf meinen Kehlkopf und er versteht, dass ich nicht sprechen kann.

»Warten Sie, ich hebe ihn für Sie hinauf.«

Wieder lächele ich ihn dankbar an und berühre ihn, damit er es sieht. Jetzt wird er verlegen und seine Wangen röten sich. Seine blaugrauen Augen mustern mich, als er sich setzt. Doch ich werde von weiteren Passagieren abgelenkt, die den Vierertisch erreichen.

Eine ältere Dame mit einem kleinen blonden Jungen an der Hand steht am Gang.

»Da sind wir Joris. Hier sitzen wir. Du hier und ich dort, dir gegenüber.« Die Frau deutet auf die beiden Sitzplätze, die sich am Gang befinden und lächelt uns an. »Sie müssen nicht getrennt sitzen!«

Womöglich denkt sie, wir sind ein Paar, möchte freundlich sein. Ihre Augen sind klar und rein wie ein Bergsee. Außerordentlich selten in diesem Alter. Trotz ihrer weißen Haare sieht sie frisch wie der Frühling aus und scheint Energie für zwei zu besitzen.

»Wissen Sie, wir sind kein Paar. Danke, also nur, wenn Sie neben ihrem Enkel sitzen möchten«, geht der Mann mit glühenden Wangen auf ihr Angebot ein.

»Oh. Nein. Ist mir schon recht. Komm, setz dich Joris!«

Joris sieht sich aufgeregt um. In der Zwischenzeit verstaut seine Oma die Jacken. Sie schiebt den Koffer unter den Tisch und plumpst zufrieden mir schräg gegenüber in den Sitzplatz.

Ich lehne mich bequem zurück, lege meinen Zopf nach vorne und lächele ihr freundlich zu. Sie erwidert und ich mache ihr ein Zeichen, damit sie versteht, dass ich leider keine akustische Konversation mit ihr führen kann. Nicht, dass sie denkt, ich sei unhöflich.

Sie ist etwa sechzig, hat schöne mittellange, weiße Haare und ein sehr bezauberndes Lächeln. Sie ist mir sympathisch.

Jeder am Tisch beginnt die Reise auf seine Art und nach seinen Vorlieben vorzubereiten. Ich krame mein Handy mit Kopfhörer aus meiner Tasche, stöpsele sie mir in mein Ohr und höre leise Musik. Danach sehe ich aus dem Fenster. Auf dem Bahnsteig tummeln sich jetzt die Winker, die teils mit feuchten Augen ihre Lieben verabschieden. Der Zug rollt los.

Der Mann gegenüber sieht immer wieder zu mir. Verstohlen blickt er über sein Buch. Wenn sich unsere Blicke treffen, schaut er verschämt weg oder lächelt zaghaft.

Seit dem letzten Sommer sah ich in viele Augenpaare. Nie finde ich das, was ich in Yanicks Augen sah.

Seitdem er fort ist, sind acht Monate vergangen. Es ist mittlerweile Frühling, aber es ist weit mehr, als nur die Augen, die ich vermisse. Es ist das Gefühl.

Joris packt ein Malbuch, Stifte, und einen Teddy aus seinem Rucksack. Er erklärt Teddy, wo wir uns befinden. Seine Oma beobachtet ihn, hilft, wo nötig und beantwortet seine und Teddys Fragen geduldig. Ich verfolge ihr Gespräch, doch in Gedanken bin ich woanders. Wie so oft in letzter Zeit.

Uta hat mir den Vorschlag gemacht für einige Wochen an die Ostsee zu verreisen. Sie hat für mich diese Verbindung herausgesucht, Fahrkarten gekauft und mir sogar geholfen, den Koffer zu packen. Uta treibt die Sorge um mich an. Das weiß ich sehr genau. Ich bin ihr dankbar, aber es ist mir unmöglich, mit ihr über das zu reden, was mich quält. Selbst, wenn ich es könnte. Wie soll ich es in Worte fassen?

Sie hat seit dem Wochenende mit Yanick meine Veränderung erlebt. Ich habe abgenommen, lache kaum noch und manchmal erwischt sie mich, wie ich vor den Briefen stehe. Ich steh dann da und sehe sie an. Wenn ich Uta in meinem Augenwinkel bemerke, schleiche ich mich davon, weil ich keine lästigen Fragen hören will.

Immer und immer wieder hat sie mich gefragt, was passiert ist. Sie wollte wissen warum ich die Briefe, die ich in regelmäßigen Abständen von Yanick erhalte, nicht öffne. Sie verstand nicht, warum ich sie nur mit leerem Blick anstarrte.

Sie war überzeugt davon, dass er mir körperlich etwas angetan hatte. Unnachgiebig forderte sie die Wohnanschrift von ihm, weil er auf den Briefen keine hinterließ. Sie wollte zu ihm und drohte mir seine Adresse auch zur Not anders ausfindig zu machen. Darauf habe ich reagiert und ihr versichert, dass sie falsch lag.

Dann probierte sie es mit Weinen und bat mich doch zu reden. Tja. Reden. Das geht seit jenem Sonntag in der Dusche nicht mehr.

An guten Tagen und in geräuscharmer Umgebung, kann ich leise flüstern. Aber es ist enorm anstrengend und kratzend. Also lasse ich das. Husten geht gut. Sätze husten allerdings nicht. Nützt mir also nichts. Ich habe arg damit zu tun meine Gespräche schriftlich zu führen. Es nimmt viel Zeit in Anspruch. Gespräche mit mir sind sehr langsam, das Schreiben dauert seine Zeit.

Ich habe zusammen mit sehr vielen Ärzten versucht, körperliche Ursachen zu finden. Trotz noch so vieler Untersuchungen, welche ich über mich ergehen ließ, gab es keine Resultate für den Verlust meiner Stimme. Ich werde wohl noch sehr viel Geduld brauchen.

Arbeiten kann ich seitdem nicht mehr, was mir sehr schmerzt und mir fehlt. Aber die Ärzte nahmen mich aus dem Rennen. Im Kindergarten ohne Stimme tätig sein zu wollen ist undenkbar.

Demnächst werde ich wohl das übliche Programm mit Reha durchlaufen. Dort wird sicher mein Beruf zur Debatte stehen. Gelegentlich sorgt mich die Zukunft, weil mich die Aussicht in einem anderen Beruf zu arbeiten wenig erfreut.

Da war die Idee von Uta gar nicht mal so schlecht, zu verreisen. Eine kleine Auszeit, etwas frische Luft und die Ostsee. Andere Gedanken.

»Entschuldigung«, sagt eine Stimme, die von Gang des Zuges ertönt. Die Klangfarbe klingt ähnlich wie die, mit der ich ein wunderbares Wochenende erlebt habe. Verblüfft schwenke ich meinen Kopf und erstarre.

Ich werde aus meinen Tagträumen gerissen. Yanick. Er steht im Gang und schaut freundlich zu dem Mann, der mir gegenüber sitzt und vergeblich versucht hat mit mir in Blickkontakt zu treten. Der legt nun sein Buch auf den Tisch und sieht Yanick fragend an, wobei er innerlich hin- und hergerissen darüber wirkt, ob er gemeint ist. Er mustert ihn schnell.

Im Anzug sieht er aus, wie frisch aus einem Meeting entsprungen. Er wirkt imposant. Am Handgelenk trägt er eine Schweizer Armbanduhr. So habe ich ihn auch noch nicht gesehen. Letzten Sommer trug er Shorts und unweigerlich wirkt er so in diesem Zweite-Klasse-Abteil fehl am Platz. Er sprüht förmlich vor Energie, die es unmöglich macht, unbeeindruckt von ihm zu bleiben.

Am Hemd ist der obere Knopf geöffnet und das kleine Stück Haut genügt, um in mir Erinnerungen an seinen Geruch zu wecken. Mein Magen dreht sich vor Aufregung auf links. Der Geschmack seiner salzigen Haut liegt auf meiner Zunge und mir läuft tatsächlich das Wasser im Mund zusammen. Ich weiß genau, was unter diesem Hemd steckt. Oft genug hat mich der Gedanke an seinen wohlgeformten und ästhetischen Körper um den Schlaf gebracht.

Der Mann vor mir räuspert sich. Durch die Störung in meiner Fantasien fährt mein Kopf zu ihm herum.

»Ja. Was gibt’s denn?«, fragt er zögerlich.

Yanick lächelt einnehmend. Unschlüssig, aber neugierig richtet sich der Mann auf.

Verblüfft sehe ich wieder zu Yanick. Er hier? Zufall?

»Ich habe eine Fahrkarte bis Warnemünde. Die Lounge in der ersten Klasse.«

Kein Zufall! Ich werd nicht mehr!

»Ich würde viel lieber hier sitzen. Sehen Sie, ich kenne die junge Frau, Ihnen gegenüber und würde gern ein wenig mit ihr plaudern.«

Plaudern? Ich kann nicht plaudern!

Jetzt sieht er zu mir und ich sterbe, weil ich mich unter seinem Blick schwitzend auflöse.

Er spricht laut genug, dass die Reisenden in den umliegenden Sitzen auf ihn aufmerksam werden und ihre Köpfe recken.

Ruhelos und irritiert mustern mich jetzt zwanzig Paar Augen. Die blaugrauen, die dem jungen Mann gegenüber gehören auch. Er checkt sicher, ob ich so einen vornehmen Mann kenne und ich hebe die Augenbrauen zur Bestätigung. Zu dem Schluss gekommen, dass Yanick die Wahrheit sagt, sieht er enttäuscht zu ihm zurück.

Yanick lächelt ihn geduldig an. Oder ist es triumphierend?

»Ich weiß, mein Wunsch muss Ihnen närrisch vorkommen. Wer tauscht schon ein Erste-Klasse-Lounge-Ticket gegen ein Zweite Klasse Ticket …?«

Er wird ernst und senkt seinen Kopf leicht: »Aber es ist von äußerster Wichtigkeit für mich, dass ich den Rest der Fahrt bei ihr sitze. Wären Sie so freundlich und tauschen mit mir Ihren Platz?«

Die Reisegäste mit den spitzen Ohren reißen zum Teil ihre Münder auf und beginnen den jungen Mann auf diese schlichte Art zu nötigen, seinen Platz doch gefälligst zu räumen.

Hinter Yanick steht eine Armee, die er sich in wenigen Sätzen geschaffen hat. Berufskrankheit?

Langsam erhebt sich der so Vertriebene. Er schielt bedauernd und geknickt zu mir. Erstaunt habe ich den ganzen Hergang verfolgt. Ich bin die Letzte, die weiß, was hier vor sich geht.

»Ich danke Ihnen«, sagt Yanick erleichtert. Er hilft dem jungen Mann seine Sachen zu sortieren. Lächelnd drückt er ihm sein Ticket in die Hand und zeigt ihm die Richtung zum Erste-Klasse-Lounge-Abteil. Das liegt das am anderen Ende des Zuges.

Yanicks Armee hat inzwischen genug Zeit mich zu mustern. Sie wollen wissen, für wen der strahlend weiße Ritter in seiner strahlend weißen Rüstung sein teures Ticket verschenkt.

Für wen interessiert sich dieser Held?

Für mich. Für die, die ihre Stimme verloren hat.

Schnell sehe ich zum Fenster, um den indiskreten Blicken zu entfliehen. Gleichzeitig setzt sich Yanick mir gegenüber und lächelt zufrieden in die Runde seines Heeres. Es fehlt nur noch der Jubelruf der Masse. An Joris Oma gewandt, die ihn schmunzelnd und bewundernd betrachtet, meint er in Gewinnerlaune: »Schade für ihn, nicht wahr? Ich habe bemerkt, dass er schon arg interessiert war.«

Wie auf der Brücke. Total von sich eingenommen und arrogant! Aber zum Schmelzen.

Joris Oma nickt und antwortet: »Ja, das war mir auch aufgefallen. Sie aber nicht an ihm.«

»Sehen Sie! Genau das habe ich auch bemerkt. Ich beginne Sie sympathisch zu finden«, entgegnet er und lacht fröhlich auf. Das mildert die Arroganz gleich wieder und macht ihn sympathisch. Sein Blick wandert zu mir. Aus den Augenwinkeln schiele ich zu ihm und schüttele meinen Kopf.

Er ist so dreist.

Und doch … mein Magen hüpft vor Freude. In ihm tummeln sich die Schmetterlinge. Aus meiner Tasche ziehe ich einen Schreibblock samt Stift hervor und schreibe etwas auf. Anschließend drehe ich den Block um, damit er lesen kann.

Ich kann nicht plaudern.

Yanick nickt und antwortet: »Ich weiß.«

Eine Bewegtheit in meinem Gesicht verrät ihm meine Überraschung.

»Eine gute Freundin, die sich Sorgen macht«, ergänzt er.

Ich schnelle nach vorn und schreibe: Uta?

Als Yanick den Namen liest, bestätigt er. Ich muss diese Information sortieren und schweife gedanklich in die Ferne. Ich erinnere mich an einige Sätze von Uta. Augenblicklich erkenne ich den Zusammenhang. Aber erst jetzt wird mir klar, dass sie Kontakt zu Yanick hatte.

Darum wollte sie mir die Vorbereitungen abnehmen. Sie hatte alles organisiert. Ständig hat sie mich ermahnt mich genau an den Plan zu halten. Dann die Verabschiedung vor dem Bahnhof und die Weigerung mich zum Bahnsteig zu bringen.

»Ich habe mich bei ihr gemeldet. Anfangs war sie echt sauer auf mich, wollte wissen, was vorgefallen ist. Ob ich …«

Ich sehe aus dem Fenster. Ob er was mit mir gemacht hatte? Ja, das hatte er, aber nicht so, wie Uta dachte. Anders. Und dieses Anders verhindert, dass ich ihn in diesem Moment ansehen kann. Meine Mimik würde ihm zu viel verraten.

Dass die Mitreisenden zuhören, kann ich schlecht verhindern. Dazu hat Yanick ihre Neugier bis zum Äußersten getrieben. Aber ich kann verhindern, was jetzt in meinem Blick für alle offensichtlich wäre. Also sehe ich hinaus und hoffe, dass die Bilder, die ich von jenem Wochenende habe, schnell wie die Bäume vorbeiziehen.

Zuerst schöne Bilder, dann schmerzliche und dann absolut erfüllende.

»Was ich mit dir gemacht habe …«

Schnell hebe ich meine Hand und winke ab, deute auf mich.

»Ich weiß.« Mit diesen Worten umreißt er leise, wer wen gehen ließ. Zu genau wissen wir, dass ein Zeichen von mir genügt hätte. Oder ein Wort. Irgendetwas, was ihm signalisiert: Geh nicht !

Ich war es, die gesagt hatte, dass er Montag wieder gehen müsste. Ich war es, die ihm nicht gesagt hatte, er soll bleiben. An meinem Zustand traf ihn also keinerlei Schuld.

Yanick schaut auf den Schreibblock, auf dessen Papier er langsam etwas schreibt.

Manchmal überlege ich, ob es richtig war zu gehen. Auch wenn du mir nicht sagen konntest, dass ich bleiben soll.

Ich lese und schließe vor Gram meine Augen. Können ist das eine. Es zu machen etwas anderes. Er hatte seine Gründe zu gehen. Genauso, wie ich meine Gründe hatte, ihn nicht zu bitten er solle bleiben.

Der Block unter meinen Fingern bewegt sich. Kurz darauf spüre ich ihn wieder und öffne meine Augen einen Spalt.

Ich ahnte nicht, dass du vermutlich schon gar nicht mehr sprechen konntest.

Nachdem ich diese Zeilen überflogen habe, schließe ich meine Augen wieder. Ihn ansehen kann ich nicht. Er hätte darin die endlose Leere gesehen, die ich in den Tagen, Wochen und Monaten danach gefühlt habe. Schreckliche Leere. Und ja, seit wir zusammen in der Dusche waren, fehlt meine Stimme.

Der Block bewegt sich wieder.

Ich sehe aus dem Fenster, ohne die grünen Felder und Wiesen zu wahrzunehmen, die vorbeifliegen. Gedanklich bin ich in der Dusche. Wie oft stand ich darin und schloss meine Augen in dem Gefühl, er stünde wieder vor mir. Aber das wäre er nur, wenn ich gesagt hätte, er soll bleiben und das konnte ich mir noch weniger vorstellen.

Der Block schiebt sich wieder langsam zu mir und ich sehe hinab.

Aber selbst wenn deine Stimme noch funktioniert hätte … Du hättest es nicht gesagt, obwohl du mit Sicherheit daran gedacht hast.

Ich hebe meine Lider, um ihn anzusehen. Warum sie geschlossen halten, wenn er so viel von mir weiß. Also nicke ich und bestätige seine Vermutung. Ja, ich habe daran gedacht. Lange sieht er mich schweigend an und ich lehne mich zurück. Kommt es mir nur so vor oder werde ich in seiner Gegenwart ruhig und ausgeglichen?

Ich sehe ihn an und mein Kopf ist leer. Nicht negativ leer – beruhigend und wohltuend leer.

Ich sehe zu, wie er die nächste Nachricht für mich schreibt und den Block umdreht.

Hatte gehofft, du bist mit unserem Sohn schwanger!

Stumm lache ich mich schlapp und er grinst wie ein Honigkuchenpferd. Ich erinnere mich.

Pille , kritzele ich kaum leserlich durch meinen Lachanfall. Er liest und zuckt entschuldigend mit seinen Achseln.

»Hallo, mein Junge«, richtet er sich nun an Joris. »Wie wäre es für dich hier am Fenster zu sitzen und Ausschau nach Warnemünde zu halten? Magst du?«

Joris horcht begeistert auf, sieht aber fragend zu seiner Oma.

»Das ist aber sehr nett von dem Mann. Schau mal, da kannst du neben mir sitzen und aus dem Fenster sehen.«

Kurzerhand werden die Sitzplätze getauscht und Yanick bedankt sich bei der Frau, als er neben mir Platz genommen hat. Er nimmt meine Hand und führt sie zu seinem Mund. Ich schmelze als ich zusehe, wie seine weichen Lippen meine Fingerspitzen berühren.

Ich drücke meine Hand nach unten und rutsche mit meinem Gesicht näher. Er versteht und küsst mich wie es der Anstand an dieser Stelle erlaubt. Atemlos sind wir danach allemal.

»снова – Snowa (Wieder)!«, japst er aus der Puste und strahlt mich an.

Er bekommt immer alles, was er sich wünscht. Egal ob er seinen Wunsch-Geburtstag hat oder nicht. Dazu braucht er keinen Wunsch Geburtstag.

Angestrengt überlege ich, was im letzten Juli auf der Brücke schief gelaufen war. Seiner Bitte, nach einem weiteren Kuss, komme ich nur zu gerne nach.

Erneut lege ich meine Lippen auf seine. Dieses Mal hält er seinen Kopf so, dass wir halbwegs geschützt vor aufdringlichen Blicken sind.

In meinem Magen tanzen die Schmetterlinge und von seinem Parfum wird mir ganz wirr im Kopf. Seine Bernsteinaugen sehen mich danach zufriedengestellt an. Die Pupillen sind größer als vor unserem Kuss und ich frage mich, ob mir meine Aufregung auch so deutlich anzusehen ist.

Joris sieht unverblümt zu uns und ich muss mich jetzt zu ihm vorbeugen, um seine Wange zu berühren. Die Haut fühlt sich zart und weich an. Mit seinen wachen Kinderaugen mustert er mich.

»Ich heiße Joris und bin schon so alt«, sagte er, hebt drei Fingerchen und dreht den Kopf zu seiner Oma, die zustimmend nickt. Joris freut sich, dass er die richtige Anzahl von Fingern gehoben hat.

Ich ziehe den Block zu mir und schreibe hastig: Ich heiße Ella. Joris ist ein sehr schöner Name.

Seine Oma liest ihm meine Zeilen vor. Für ihn startet ein spannendes Spiel auf diese Weise zu sprechen und es geht eine geraume Zeit hin und her.

»Das ist Schnuffi. Wir fahren zu Mama und Papa nach Warnemünde.« Er hebt seinen Teddy hoch und zeigt ihn mir.

Ich zeige das Daumen-hoch-Zeichen und deute auf sein Malbuch. Auf diese Weise lade ich ihn ein, mit mir zu zeichnen. Seine kleinen Finger kramen einen Stift für mich aus dem Rucksack. Zusammen malen wir, während sich Yanick angeregt mit seiner Oma unterhält.

Als Joris keine Lust mehr hat, liest ihm seine Oma leise eine Geschichte vor.

Ich lehne mich zurück und lächele Yanick an. Seine Finger fliegen mit dem Kugelschreiber über den Schreibblock, der uns räumlich voneinander trennt und ich kann mitlesen, was er schreibt.

Ich liebe es, wenn du so lächelst. Du ziehst leicht deine Mundwinkel nach oben und dein ganzes Gesicht strahlt dabei.

Ich lächele wieder wie eben. Er fährt erfreut mit seinen Augen über mein Gesicht und schreibt dann weiter.

Ich denke viel an dich .

Ich lese es und nehme mir einen eigenen Stift aus meiner Tasche.

Warum bist du hier, Yanick?

»Du weißt, warum ich hier bin!«, sagt er.

Nein!

»Ella, doch!«

Nein!

Er atmet schwer aus und der Block fliegt in die Mitte des Tisches, wie damals seine Serviette vor dem Döner Imbiss.

»Entschuldigung«, raunt Yanick, als er bemerkt, dass Joris sich erschrocken hat. Behutsam holt er den Block wieder zu sich und sieht mich wieder an. Doch ich schweife mit meinen Augen zum Fenster. Ich spüre, wie er meine Hand nimmt und sie streichelt. Dann verschränkt er seine Finger in meine. Diese Berührung ist sanft.

»Du weißt sehr wohl, warum ich hier bin«, spricht er leise und doch klingt es nachdrücklich. Seine Geste sagt mir, was er damit meint.

Ich weiß, ich lag mit meiner Vermutung falsch, dass er nur wegen der Wette das Wochenende mit mir verbracht hat. Spätestens als sein zweiter Brief in meinem Briefkasten lag, wusste ich es.

Eine Woche später kam ein Dritter. Eine weitere Woche danach ein Vierter. Jetzt liegen über zwanzig Briefe auf meinem Regal neben der Träne der Götter. Alle ungeöffnet. Den Bikini hatte er als Geschenk angenommen, nicht als Trophäe. Gegangen war er, weil er von mir kein Bleib gehört hatte.

Und dennoch …

Joris regt sich. Die Geschichte ist zu Ende. Er malt.

»Was malst du denn Schönes, Joris?«, fragt seine Oma und beugt sich über sein Bild.

»Ein Bild für Ella«, antwortet er und sieht mich aus seinen kleinen blauen Kulleraugen an.

Yanick unterhält sich mit seiner Großmutter. Sie ist pensionierte Lehrerin in einer Grundschule. Joris war zu Besuch und nun bringt sie ihn zu ihren Kindern zurück. Ich finde, dass der Beruf gut zu ihr passt. Sie ist ruhig und liebevoll. Ihr Enkel scheint ihr Augapfel zu sein und sie beschäftigt sich sehr aufmerksam mit ihm. Er ist sicher ihr ganzer Stolz.

Ich betrachte mir Joris und sehe zu, wie seine Finger mit den Stiften über das Papier fahren. Seine Zunge kaut er angestrengt, die Augenbrauen sind konzentriert in Falten geschoben. Dann sieht er sich erschöpft sein Werk an und als er damit zufrieden ist, schiebt er es zu mir. Erwartungsvoll werde ich von ihm angesehen.

Er hat es für mich gedreht und ich brauche es noch nicht einmal in meine Hände zu nehmen, um zu erkennen, was er gemalt hat.

In ein großes, rotes Herz ist eine Familie eingerahmt. Vater, Mutter, Sohn und Tochter. Ich bekomme schwer Luft und sehe ihn fragend an.

Er lächelt. »Das ist für dich.«

»Oh, hast du deine Familie für uns gemalt?«, fragt Yanick, der nun neugierig das Blatt betrachtet und dann verstummt. Er sieht zu mir. Ich betrachte noch immer Joris, der nickt.

»Für dich!«

»Danke«, schreibe ich schnell auf den Block.

»Das bist du und er.« Er deutet mit seinem Zeigefinger auf Yanick. Danach fährt er sie auf das Papier. Er tippt auf den Mann und die Frau, die er gemalt hat. Zwischen uns ist ein kleiner Junge zu sehen. Auf dem Arm hält der Mann ein Mädchen, das an ihrem Röckchen in Rosa gut zu erkennen ist.

»Ich habe einen großen Bruder«, erklärt Joris mir und kaut auf seinen Stift ohne uns aus den Augen zu lassen.

Erst ein Junge. Dann, später ein Mädchen, hatte Kai mir damals gesagt.

»Das hast du sehr schön gemalt. Du hast uns wirklich gut gesehen«, sagt Yanick versonnen.

»Haben Sie denn Kinder?«, fragt Joris Oma erstaunt.

»Nein«, antwortet Yanick wahrheitsgemäß und ich schüttele meinen Kopf.

Joris Oma hebt wissend eine Augenbraue.

»Ich möchte keineswegs aufdringlich erscheinen. Wissen Sie, was mir noch aufgefallen ist? Ich kam nicht umhin Teile Ihres Gespräches zu verfolgen und habe Sie ein wenig beobachtet. Wie Sie ihr den Hof machen ist wirklich sehr originell.« Sie lächelt in sich hinein, nickt anerkennend mit ihrem Kopf in Yanicks Richtung. »Aber wie mir scheint, liegt das Problem nicht bei der Werbung allein. Ganz offensichtlich ist Ella … Gestatten Sie, dass ich Ella sage? Nun, ich bin alt und weiß, dass auch die schönste Rose auf der Welt Dornen trägt. Unangenehme Dornen, die sich manchmal unbemerkt, aber tief, in das Fleisch bohren.«

Nachdenklich winkelt Yanick seinen Zeigefinger an den Mund. Er verharrt schweigend, nicht ohne zuvor genickt zu haben. Joris Oma sieht zu mir und ich hebe meine Hände, lege sie zum Namaste Gruß zusammen. Der Gruß, der übersetzt Verbeugung zu dir heißt.

Ein Dorn. Ja. Er hatte sich irgendwo hineingebohrt. Nur wusste ich nicht genau wo.

Das Bild von Joris liegt vor mir auf dem Tisch und ich sehe es nachdenklich an, bis wir Warnemünde erreichen.

Spring!

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