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Kapitel 10

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Der Zug rollt im Warnemünder Bahnhof ein. Joris ist jetzt sehr nervös. Er erwartet Mama und Papa und die Vorfreude steht in seinem Gesicht geschrieben.

Yanick hat die ganze Zeit über auf das Bild gestarrt und seine Finger an die Lippen gepresst. Nun sieht er auf, weil Joris Oma vor ihm steht und ihn anlächelt.

Sie sieht liebevoll zu mir: »Ich wünsche Ihnen gute Besserung.«

Ich danke ihr nickend. Ihre Hand an Yanicks Wange, spricht leise, aber eindringlich: »Vergessen Sie meine Worte nicht! Der Dorn. Finden Sie den Dorn!«

Sie senkt unbedeutend ihren Kopf. Yanick antwortete ihr, indem er ebenfalls seinen Kopf senkt. Dann geht sie mit Joris, der uns zum Abschied winkt, zur Tür. Ich antworte ihm mit einem Luftkuss.

Yanick holt meinen Koffer aus der Gepäckablage und steigt mit mir aus dem Zug. Auf dem Bahnsteig atmet er ein. »Seeluft. Riechst du das?«

Ich nicke.

Fisch.

Opa.

Yanick beugt sich zu mir, bis seine Lippen auf meinem Mund liegen. Lange und innig. Ich schmiege mich an ihn. Die Erinnerung von Opas Fisch verbindet sich mit einem neuen Gefühl.

»Komm, Ella. Lass uns den Dorn suchen«, sagt er, legt mir seinen Arm um die Schulter und führt mich zum Taxistand.

Die Pension liegt versteckt im Wald, nur einen Steinwurf von der Ostsee entfernt. Sie wird von einer warmherzigen Dame betrieben, die Yanick anhimmelt. Es ist dunkel, als wir ankommen. Das Meer sehe ich nicht, doch ich rieche es.

Als ich von Yanick in das Pensionszimmer geführt werde, bin ich tief bewegt. Ich stehe in einem Raum, der Wohnzimmer, Küche und Schlafzimmer in einem ist und durch die weißen Möbel geschickt abgeteilt wird. Blaue Details verstärkten das maritime Ambiente.

Im Wohnbereich stehen sich zwei Sofas gegenüber. Dazwischen ist ein kleiner Tisch platziert.

An jeder freien Stelle wurden Vasen, die üppig mit Tulpen gefüllt sind, aufgestellt. Es duftet im Zimmer, wie in einem Blumengeschäft. Ich liebe diese Blumen. Mein Mund steht offen.

Auf einem kleinen Beistelltisch entdecke ich einen Teller. Auf ihm liegen Tulaer Prjanik. Das ist ein rechteckiger Lebkuchen, mit Marmeladenfüllung. Auch die liebe ich. Fassungslos betrachte ich mir die Schale, die daneben steht. Darin liegen Aljonka Mich-Schokoladenriegel. Ich schlage mir entzückt die Hände vor dem Mund.

Aber das ist noch nicht alles. Eine Konfektschale voll mit russischen Pralinen, lässt mir das Wasser im Mund zusammenlaufen. Sie quillt fast über.

Ich berühre alles. Für mich ist es unfassbar, welche Mühe er sich gegeben hat, die Dinge zu organisieren, an denen ich meine Freude habe. Die Dinge, die mich in den siebten Himmel heben. Gerührt sehe ich ihn an.

Yanick steht an der Tür und kommt jetzt gemächlich näher.

»Ich habe es wegen der Farben ausgesucht. Gefällt es dir?«, fragt er und ich kann seine Bescheidenheit kaum glauben. Wegen der Farben … das hier ist mein Himmel auf Erden. Nicht nur aufgrund der Farben. Heftig nicke ich und lächele glücklich. Mit meiner Hand forme ich ein Herz.

»Du bist sicher müde.« Er stellt gerade meinen Koffer neben dem Bett und kommt zu mir und umschließt mich. »Ruh dich etwas aus. Ich besorge uns in der Zwischenzeit eine Kleinigkeit zu Essen. Bin gleich wieder da.«

Nach einem Kuss löst er sich nur widerwillig und verschwindet durch die Tür, nicht ohne noch einmal lächelnd zu mir zu sehen.

»Lauf nicht weg!«, grinst er und geht wieder zur Tür. Ich schüttele meinen Kopf und die Tür schließt sich.

Unschlüssig stehe ich im Raum und sehe mich um. Er hat das ausgesucht. Für mich.

Ich suche aufgeregt mein Handy und knipse Fotos für Uta. Mit einer Nachricht schicke ich sie ab. Sie schreibt zurück, dass sie sich freut. Wir sollen uns gut erholen.

Ich öffne das Fenster und blicke in die Dunkelheit hinaus. Viel sehe ich nicht, aber riechen kann ich und atme tief ein.

Die Ärzte hatten eine Logotherapie verordnet. Sie waren angetan von der Idee, an die Ostsee zu fahren. Die salzhaltige Luft würde mir helfen. Ebenso die Ortsveränderung. Sie rieten mir, meinen Stress zu minimieren. Dabei hatte ich keinen Stress.

Erst glaubten alle an eine Heiserkeit durch eine Erkältung. Ich war ja den ganzen Freitag nur im Bikini herumgelaufen. Aber mit meinen Bronchien war alles in Ordnung.

So blieb mir zerknirscht nur die Stimmbänder zu schonen, mich auszuruhen und zu inhalieren. Jetzt eben die Ostsee.

Ich suche mir aus meiner Tasche den Schreibblock und Stift. Beide lege ich auf dem Couchtisch ab. Dabei fällt mir das Bild von Joris in die Hände. Vorhin hatte ich es zusammengefaltet und in die Handtasche gelegt. Mit dem Stift schreibe ich auf die Vorderseite rechts unten Joris 12.03.2011. Auf die Rückseite vermerke ich: Ella und Yanick mit ihren Kindern . Berufskrankheit.

Danach gehe ich in das Bad und flechte meinen Zopf neu. Frisch frisiert setze ich mich auf das Sofa und kuschele mich ein. Mit dem Bild von Joris in den Händen fallen meine Augen auf dem Sofa zu. Ich laufe hier ganz gewiss nicht weg.

Erst als Yanick leise die Tür öffnet, werde ich kurz munter. Ich bleibe jedoch liegen. Er bewegt sich vorsichtig durch den Raum.

Wie aus weiter Ferne nehme ich wahr, wie das Fenster geschlossen wird. Etwas klickt leise, dumpf wird der Kühlschrank geöffnet und wieder verschlossen. Es raschelt ein wenig, dann steht er in der Nähe.

Seine Finger gleiten über meine Haare. Diese Berührung lässt mich noch weiter sinken und sein Atem ist ganz leise zu hören. Er deckt mich mit einer Decke zu.

Ich bin so von seiner Anwesenheit beruhigt, dass ich einschlafe. Traumlos werde ich wieder munter und das Licht der Nachttischlampen taucht den Raum in gemütliche Farben.

Yanick sitzt gegenüber auf dem Sofa und schaut mich an. Auf meine verschlafene Begrüßung erwidert er mit einem warmherzigen Blick.

Auf dem Tisch vor ihm liegt das Bild von Joris.

»Du hast nicht einen meiner Briefe geöffnet, geschweige gelesen?«, will er leise wissen.

Obwohl ich auf keinen seiner Briefe reagierte, kamen weitere. Manche dick wie Finger, andere dünn wie Seidenpapier. Das hat er ganz sicher von Uta erfahren.

Er legt seine Nasenwurzel in Falten und sieht mich an, als versuche er zu begreifen.

»Warum Ella?«

Wie, selbst wenn ich sprechen könnte, soll ich ihm das erklären? Wie, wenn ich es kaum verstehe.

Vor dem Bootshaus sagte ich, dass mich die Villa beeindruckt. Er entgegnete mir, dass ich lüge. Doch er hat sich getäuscht, hat das Wort beeindruckt falsch gedeutet.

Jedes Wort hat eine Anzahl von Bedeutungen. Beeindruckt muss nicht zwangsläufig positiv gemeint sein. Ich meinte es nicht in diesem Sinne.

»Du weißt, dass ich mit dir zusammen sein will? Dass ich dir jeden verdammten Brief schrieb, weil ich bei dir sein will?«

Ich nicke, ohne den Kopf zu heben. In sein Gesicht zu sehen, wage ich nicht. Klar habe ich den Teil begriffen. Aber was will er mit mir?

»Aber du liest meine Briefe nicht«, stellt er nüchtern fest.

Mein Blick bleibt gesenkt. Was kann ich ihm antworten? Du bist reich, ich nicht? Wir leben in unterschiedlichen Verhältnissen?

Den Block zu mir ziehend, starre ich minutenlang auf die leere Seite. Ich überlege, wie ich diese hoch komplexe Sache in knappe Worte fassen kann.

Zaghaft setze ich an, weil ich glaube, einen Anfang gefunden zu haben. Dann streiche ich jedoch alles wieder. Erneut fange ich an und schlage dann verzweifelt mit der Faust auf den Block.

Ein Anflug von Zorn überkommt mich. Auf mich, weil ich nicht fähig bin, es zu erklären. Ich nehme meine Hand vor Augen und hülle mich so in Dunkelheit. Doch die rettet mich keineswegs. Ich weiß zu genau, dass ich ein Problem habe. Ich fahre auf Yanick ab, aber da ist noch eine Sache ...

»Hast du Angst?«, fragt er vorsichtig. Ich sehe zu ihm auf.

Er sitzt vorgebeugt, hat die Ellenbogen auf seine Knie gestützt. Eingehend mustert er mich mit einer Mimik, die ihre Brauen verblüfft hebt, als ich stumm in seine Augen sehe. Jetzt weiß er, dass er recht hat.

Erneut setze ich zum Schreiben an, zögere aber und senke den Kopf. Es ist zwecklos.

»Du hast Angst«, wagt er einen weiteren Schritt auf mich zu. Ich höre Überraschung heraus. Ich halte Zeigefinger und Daumen ein winziges Stück auseinander. Ein bisschen.

»Du springst, nur mit deinem Bikini bekleidet, ins Wasser. Feierst einen ganzen Nachmittag mit Fremden und hast Angst?«

Jeder hat doch vor etwas Muffensausen. Mir fällt es schwer, darüber zu reden. Und nun?

Ich schreibe: Herr Doktor.

Er liest es.

»Lass das!«, sagt er müde, lehnt sich wieder zurück und wendet seinen Blick ab.

Das war gemein, das weiß ich. Lust auf Spielchen habe ich auch keine. Ich schiebe die Decke beiseite, mit der er mich liebevoll zugedeckte. Nachdem ich aufgestanden bin, gehe ich zu ihm. Mit meinen Fingern will ich seinen Kopf zu mir wenden, doch er ist bockig. Ich setze mich auf seine Beine und umarme ihn.

Ich nehme den Geruch des Parfüms wahr, welches ihn umgibt. Meine Augen schließen sich und ich atme den sinnlichen Duft ein. Mein Mund küsst seine Schläfe.

Sofort sind wieder die Schmetterlinge in meinem Magen unterwegs und ich rutsche näher zu ihm. Jetzt dreht er seinen Kopf und unsere Münder finden sich versöhnlich.

Als ich aus der Puste bin, suche ich sein Ohr. Ich lehne mich dagegen und flüstere heiser: »Ich habe oft davor gestanden.«

»Nicht, Ella! Schone deine Stimmbänder!« Flehend unterbricht er meine krächzenden Worte. Mit beiden Händen fasst er meinen Kopf und sieht mich bittend an. Ich wollte es ihm sagen. Ich will, dass er mich hört, selbst wenn es mich alle Kraft kostet und es sehr kratzig klingt.

Er soll mich hören. Wenn er mich so sehr will, dann auch so, wie ich spreche. Heiser, rauchig und krächzend.

Ich nicke artig. Zufrieden darüber sieht er mich an. Seine Augen sehen mich kummervoll an. Liebevoll streichele ich durch sein gewelltes Haar. Es ist warm und weich. Er schließt die Lider.

»Ich will doch nur verstehen. Ich bin nicht verärgert. Traurig ja, aber nicht verärgert.«

Ich nicke und weiß es, sonst hätte er sich nicht die Mühe mit diesem Zimmer gegeben. Mein Mund sucht seinen. Schon fühlt es sich wieder so an, wie im Juli, als wir uns in meiner Wohnung für zwei Tage liebten.

In seine Arme gesunken, die mich umfassen, die mich begehren und entfachen, lasse ich mich fallen. Nicht irgendein Gedanke zu viel. Keine Angst. Nur er und ich.

Wie im Juli liebt er mich. Es ist, als wären nicht acht Monate vergangen, sondern nur ein paar Stunden. So, als ob er nur kurz zur Arbeit gegangen war.

Nachdem wir unseren Hunger gestillt haben, sieht er mich befriedigt und treu ergeben an.

»Du bist zum Niederknien. Der arme Kerl hatte keine Chance«, stellt er selbstzufrieden fest und grinst wie ein Breitmaulfrosch. Ich verneine und setze mich auf. Mein Zopf hat sich gelöst und ich ordne ihn neu.

Yanick steht auf, um etwas Wasser zu holen. Nackt und mit leichtem Schweißfilm bedeckt, läuft er zur Küche. Hingerissen sehe ich hinterher. Nein, kein anderer als er hatte eine Chance. Er schenkt Wasser in zwei Gläser und ruft: »Mein Vater lässt dir Grüße ausrichten.«

Von meiner Chefin habe ich gehört, dass ein reicher Anwalt eine Menge Fragen gestellt hat. Er sah sich im Kindergarten um. Er bat er um Einsicht in einige Unterlagen und schlug ein Angebot vor.

Dazu konnte meine Chefin nicht Nein sagen, denn es regnete Spendengelder. Für die nächsten fünf Jahre fördert Yanicks Vater die Kita. Uta hat mir alles prompt erzählt. Auch, dass er mir gute Besserung ausrichten ließ.

Seitdem wird getuschelt, dass er mein Geliebter sei, was mich sehr amüsiert.

Uta und ich lachen herzlich darüber. Die schöne Warwara hat sich einen Reichen geangelt. Fakt ist, dass er um Einsicht in meine Qualifikationen gebeten hat. Er hat mich über den grünen Klee gelobt. Klar ist da eine Liebelei für viele gleich denkbar.

»Ich sagte dir doch, dass er dich nett findet. Erinnerst du dich?«

Yanick stellt die Gläser auf den Nachtschrank ab und ich mache ein Zeichen, dass ich etwas schreiben möchte. Als ich den Block in meinen Händen halte scheibe ich: Aber wir haben uns über Geld unterhalten.

Yanick schmunzelt, kommt in das Bett zurück und setzt sich vor mich.

»Du willst es nicht verstehen, oder? Ich soll dir trotzdem Grüße ausrichten.«

Er kommt grinsend dichter und sieht mich lüstern an. Vor meiner Nase hält er inne. »Wo wir gerade davon sprechen. Ich habe Neuigkeiten. Die Zulassung ist eingetroffen. Du darfst gratulieren!«

Das mache ich sehr gerne und falle um seinen Hals. Ich küsse wild und schnell sein ganzes Gesicht, bis er mich lachend von sich schiebt. Sein Gesicht wird schnell ernst.

»Ich musste viel an dich denken. Ehrlich gesagt nur. Ich war nicht in der Lage zu glauben, dass ich dir egal bin. Ich habe mich als halben Menschen gefühlt.«

Die vielen leeren Stunden, die ohne ihn nicht vergingen. Die Tage, die mir endlos erschienen. Nicht einer verging, ohne dass ich nicht an ihn gedacht habe. Nicht einer ohne eine verlorene Träne. Eine Götterträne.

Und jetzt höre ich, dass es ihm ähnlich ergangen ist. Wo blieb der Rosenregen, wie im Märchen? Ende gut, alles gut.

»Ella, du hast mir einmal vorgeworfen, dass ich dir nur den Dreck von mir gezeigt habe. Erinnerst du dich?«

Nach Luft schnappend stoße ich meine Atemluft aus und nicke. Ja. Das habe ich ihm an den Kopf geschleudert.

»Ich habe dir nicht nur Dreck von mir gezeigt. Das glaube mir.«

Ich schniefe, meine Tränen hoch und nicke erneut. An unserem gemeinsamen Wochenende hatte ich mich ihn verliebt. Und doch … der Dorn. So nannte es Joris Oma. Der Dorn saß irgendwo in meiner Haut fest.

Kritzelnd fege ich über das Papier: Sie nannte es Dorn.

»Ich erinnere mich«, sagt Yanick leise und sieht mich lange an.

Vorsichtig nimmt er mir den Stift aus der Hand. Er legt ihn mit dem Schreibblock auf das Nachtschränkchen. Danach streift er mir liebevoll den Zopf auf den Rücken. Seine Hand berührt sinnlich meine Halsbeuge. Ich senke die Lider und spüre ihn vor mir, denn sein Atem streift mein Kinn. Er küsst mich.

Behutsam beugt er mich nach hinten. Unter seinen Küssen krümme ich mich lustvoll. Aber er spielt mit meinem Körper so lange, bis ich vor Verlangen völlig außer mir bin und anfange auf Russisch mit ihm zu sprechen. Er lenkt meine Aufmerksamkeit auf sich und ich sehe ihn an..

»Jeden Tag denke ich daran«, flüstert er und sieht mich unter seinen Bewegungen an. Er macht sie für mich. Ich atmete schwer, sehe nur ihn.

»Jeden Tag.« Auch er atmet schwer.

Ich weiß, was er meint und springe rückwärts in endlose Tiefe der Schwerelosigkeit. Fallend sehe ich ihn, wie er mir entrückt und fasziniert zusieht. Absolute Stille kehrt in mir ein.

Nach den Nächten im Juli hatte nie jemand anderer für mich existiert. Wie könnte ich mich mit etwas trösten, das weniger Wert hat als das, was er in mir erweckt? Das, und nur das fühlt sich vollkommen an.

Er hält seinen Atem an und pausiert für mich. Ich erschaudere und tauche ein. Ihn sehe ich oberhalb der Oberfläche. Spring! , denke ich und er springt. Er eilt mir nach. In unserem Meer der Liebe formiert sich alles neu und setzt sich wieder zusammen.

Als wir auftauchen, zögere ich einen Moment. Ein Geräusch. Ich drehe mich um und sehe etwas pulsieren.

Es erinnert mich an einen Herzschlag.

Ein gemeinsamer Herzschlag.

Wir haben ihn erschaffen.

Spring!

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