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Was darf Satire? Und wo ist sie zu Hause?
ОглавлениеEben daran hätte Martial seine Freude gehabt. Er will unterhalten und wahrgenommen werden, aber er will auch provozieren und wider den Stachel löcken. Die schlimmste Reaktion auf seine Epigramme wäre für ihn achselzuckende Indifferenz:
Laudat, amat, cantat nostros mea Roma libellos, meque sinus omnes, me manus omnis habet.
Ecce rubet quidam, pallet, stupet, oscitat, odit. Hoc volo: nunc nobis carmina nostra placent. (VI 60)
Es lobt, es liebt, es singt mein Rom meine Büchlein,
mich hält jeder Gewandbausch, mich hält jede Hand.
Schau, da wird einer rot, wird bleich, stutzt, kriegt den
Mund nicht mehr zu, hasst mich.
Das will ich: Jetzt gefallen mir meine Gedichte.
An mangelndem Selbstwertgefühl litt unser Mann sicher nicht. Er war in der Tat ein populärer Modedichter, der den Nerv der Zeit traf. Das anaphorisch gebrauchte doppelte me („mich“) in Vers 2 unterstreicht seine Selbstgewissheit, das wiederholte omnes/omnis, „alle“, „jeder“, weist in die gleiche Richtung. Die meisten Leser lieben ihn: Das macht der erste Vers unmissverständlich klar. Die hektische, unverbundene Aneinanderreihung dreier Verben, die Wertschätzung ausdrücken, bereitet die folgende Aussage vor: Der Dichter hat seine Stadt sozusagen im Griff. mea Roma, „mein Rom“, ist „eingekreist“ von nostros libellos, „meinen Büchlein“. Der Fachbegriff für diese Stellungsfigur ist „Hyperbaton“, auf Deutsch „Sperrung“. Aufgrund der freieren Wortstellung lässt sich dieses abbildende Stilmittel im Lateinischen wunderbar nutzen, um den „Griff“ zu visualisieren: nostros mea Roma libellos. Im Deutschen geht das nicht: „unsere mein Rom Büchlein“ – unmöglich. Aber der Effekt ist klar: Rom ist von seinen Gedichten so umschlossen, dass es ihm und seinen Werken nicht entkommen kann. Die Stadt ist gewissermaßen die Gefangene seiner Bücher.
Im dritten Vers dann eine Kaskade unterschiedlicher Reaktionen auf Martials Spottgedichte: Der eine fühlt sich ertappt und errötet, der andere kriegt einen Schrecken und erbleicht, der dritte ist „baff“ vor Erstaunen (gegebenenfalls auch über so viel Frechheit), und der vierte ist sauer auf die satirischen „Enthüllungsgedichte“ Martials. Das Wichtigste ist: Die Leute reagieren auf seine Verse. Die Dominanz der Verben (fünf in einem einzigen Vers!) macht das klar. Und Martial ist, wie der letzte Vers zeigt, mit dieser Wirkung äußerst zufrieden. Er will beachtet und möglichst auch geliebt werden, aber er weiß, dass ein Satiriker nicht everybody’s darling sein kann. Unter diesen Umständen ist ihm selbst der Hass (odit, V. 3) mancher Mitbürger lieber als Nichtbeachtung und Gleichgültigkeit. Modern gesprochen: Notfalls nimmt er auch einen herben „Shitstorm“ in Kauf.
Was darf Satire? Die Römer haben diese Frage nicht so grundsätzlich-theoretisch gestellt. Sie haben sie aber in den Werken ihrer satirischen Autoren beantwortet. Und zwar so, wie es das berühmte Tucholsky-Zitat zum Ausdruck bringt. Seine Antwort ist: „Alles“. Und darauf berufen wir uns ständig – regen uns aber dann auf, wenn Satire bestimmte Grenzen des vermeintlich guten Geschmacks überschreitet oder wenn sie den Mainstream politischer Korrektheit verlässt. Die Römer waren da konsequenter. Gewiss, in der Kaiserzeit musste man aufpassen, sich nicht den Vorwurf der Majestätsbeleidigung einzuhandeln. Aber davon abgesehen, waren manche römischen Satiriker viel radikaler, viel unerbittlicher, rücksichtsloser und mutiger im Kampf gegen das, was sie als Missstand empfanden. Manch einer war verbissener als andere, aber das Mittel des Humors nutzten alle.
Horaz hat das Wesen der Satire so beschrieben: ridentem dicere verum, „lachend die Wahrheit sagen“ (Hor. sat. I 1, 25f.). Diese Definition gilt bis heute für alle satirischen Formen einschließlich des Kabaretts. Ist es erstaunlich, dass sie ausgerechnet von einem Römer stammt? Mitnichten, denn wer hätte es treffender sagen können als der Vertreter einer literarischen Gattung, die wo erfunden worden ist? Sie ahnen es schon: in Rom. Die meisten literarischen Genera haben das Licht der Welt in Hellas erblickt, aber satura quidem tota nostra est, sagt der Rhetoriklehrer Quintilian über das Copyright an dieser „humorvollen“ Gattung, „die Satire gehört zur Gänze uns“ (Quiut. inst. or. X 1, 93).
Und sie ist weder im Keller erfunden noch dort gepflegt worden.