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Kapitel 15

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Als er am nächsten Morgen seine Wohnung verließ, hatte er kaum geschlafen. Bis tief in die Nacht hinein war er noch damit beschäftigt gewesen, die Fragmente seiner einstigen Einrichtung zu entsorgen und das, was man ihm nicht zerbrochen, zerrissen, zerfetzt oder zerschmissen hatte, wieder an seinen Platz zu bringen. Aber es würde noch Tage dauern, bis er alles wieder einigermaßen in Ordnung gebracht hätte. Er hatte sich vorgenommen, unterwegs zu frühstücken, Bohnen mit Wurst und Speck. Dazu eine Menge Kaffee, um wach zu werden. Noch während er die Haustür hinter sich zuzog, bemerkte er zwei Männer, die, angelehnt an einen Wagen, auf dem Gehweg verweilten. Einer von ihnen, der deutlich kleinere von beiden, lehnte mit den Ellbogen auf dem Autodach und rauchte eine Zigarette, während der andere, die Hände in den Hosentaschen, breitbeinig neben ihm stand. ‚Eine eigenartige Mischung’, dachte er. Der Große, Anfang dreißig etwa, hatte eine Lederjacke an, darunter einen Rollkragenpullover und Bluejeans, während der Kleine einem dunkelblauen Trainingsanzug trug. Als Michael begann, sich in ihre Richtung zu bewegen, schnippte der Kleine in Machomanier seine Kippe auf den Gehsteig und positionierte sich neben dem anderen. Er schien deutlich jünger zu sein. Beide sahen ihn unverhohlen an. ‘Glotzt nicht so blöd’, hätte er am liebsten zu ihnen gesagt. ‘Ich habe bereits Probleme’. Allerdings sahen die beiden nicht so aus, als hätten sie es sich gefallen lassen. Dann trat der Große einen Schritt nach vorne und richtete mit ernster Miene das Wort an ihn.

»Michael, Michael Burk?«, fragte er fast protokollarisch.

»Ja, der bin ich«, antwortete er frei heraus. Dann drehte der andere sich hektisch nach allen Seiten um und holte, nachdem er sich vergewissert hatte, nicht beobachtet zu werden, eine Pistole hinter seinem Rücken hervor, die dort unter seinem Pullover steckte.

»Los, steig ein! Mach schon!«

Der Kleine hatte inzwischen die hintere Tür des Wagens geöffnet und blickte erregt nach allen Seiten. Tatsächlich bemerkten die vereinzelten Fußgänger nichts. Michael war von der Situation völlig überfordert, gehorchte aber. Was hätte er tun sollen? Weglaufen oder um Hilfe rufen? Der Typ hatte eine Waffe und wenn er seine Anweisung nicht befolgt hätte, wäre er vielleicht schon tot. Am Steuer des Wagens saß ein weiterer Mann, mit einem olivgrünen, ausgewaschenen Parker und einer Sonnenbrille im Gesicht. Auf dem Kopf trug er eine Skimütze. Der Kleine rutschte durch, dann folgte Michael und zuletzt der Große. Sobald er die Tür zugezogen hatte, trat der Mann mit der Skimütze aufs Gas. Noch einmal sahen die beiden Kidnapper nervös durchs Hinterfenster.

»Was wollen Sie von mir?«, brach es nun aus ihm heraus.

»Kannst du dir das nicht denken, du Idiot?«, erwiderte der Große respektlos. Michael war sogleich aufgefallen, dass sein Englisch nicht ganz einwandfrei war. Jetzt aber war er sich sicher. Er hatte einen osteuropäischen Akzent. Zudem stellte er fest, dass er stark nach Schweiß roch. Der Kleine im blauen Trainingsanzug hielt sich auffällig zurück. Statt zu reden, zündete er sich eine weitere Zigarette an. Als der Große zum Fahrer des Wagens sprach, glaubte Michael, eine slawische Sprache zu vernehmen. Polnisch war es nicht. Das konnte er ausschließen, weil er wusste, wie es klingt. Sein Vater beherrschte von früher noch ein paar Worte Polnisch. Das hier war härter vom Klang her, vielleicht Russisch oder jugoslawisch. Dann griff der Große zu seinem Mobilfunktelefon und meldete jemandem wiederum in Englisch: »Wir haben ihn. Er sitzt neben mir.« Er hatte seinen Auftrag erfüllt und ließ sich seine Genugtuung anmerken.

»Was zum Teufel soll das? Was wollt ihr von mir? Sind wir uns schon einmal begegnet?«

Er bekam keine Antwort. Der Kleine im Trainingsanzug verzog keine Miene. Michael bezweifelte, ob er ihn überhaupt verstehen konnte. Nur der Große sah ihn für einen Augenblick lang an. Es war ihm egal, wie sich Michael in diesem Moment fühlte. Ihm gingen alle möglichen Gedanken durch den Kopf. Auf einmal sah er seine Familie vor sich, dann ein paar wichtige Stationen in seinem Leben, außerdem Sally. Was, wenn er sie alle nie mehr wiedersehen würde? Auch wenn er noch nicht wusste, was genau diese Kerle mit ihm vorhatten, war er doch sicher, dass es nichts Nettes sein würde. Vielleicht gehört am Ende alles zusammen. Dereks Unfall, der Einbruch in seine Wohnung und nun die Entführung. Desweiteren die Frage, was nun folgen soll. Ein Verhör vielleicht, schmerzhafte Folter oder gar sein Tod?

‘Beherrsche dich, Michael, reiß dich verdammt noch mal zusammen!’ mahnte er sich. Soweit durfte er es gar nicht kommen lassen. Sich nur von seinen Ängsten dominieren zu lassen, wäre das denkbar Schlechteste. Tief durchatmen und entspannen, genau wie beim Tauchen. Die beiden Gestalten konnten es nicht lassen, permanent aus dem Fenster zu starren. Sie mussten wohl nicht fürchten, verfolgt zu werden. Ihre Unaufmerksamkeit musste er sich irgendwie zu nutze machen, dachte er. Darin läge eine Chance, vielleicht seine einzige. Nicht ganz einfach, wenn dauernd eine Waffe auf einen zeigt. Und zwar so, dass Michael das Ding an seinem Bauch spüren konnte. Obwohl er schon zwei Jahre in London lebte, hatte er jetzt irgendwie die Orientierung verloren. Er wusste, dass sie die ganze Zeit über nach Westen fuhren, aber die Straßenzüge und Gebäude waren ihm plötzlich fremd. In der Ferne sah er eine Brücke, die über einen Fluss führte. ‚Das muss die Themse sein’, dachte er. Einen anderen Fluss gibt es nicht in der Stadt. Noch immer gingen die Blicke seiner Entführer nach außen, als sei das Ganze eine Stadtrundfahrt für Touristen. Noch fünfzig Meter, dachte er und versuchte, seine Anspannung sich nicht anmerken zu lassen. Auf keinen Fall durften sie jetzt etwas merken. Die Limousine passierte den Fuß der Brücke und hatte ziemlich viel Tempo drauf. Dann trat Michael, während er dem Großen rechts neben ihm die Waffe entriss, dem Fahrer von hinten ins Genick. Sofort gingen die beiden anderen zum Gegenangriff über und rammten ihm ihre Ellbogen in die Seite und ins Gesicht, worauf er die Pistole fallen ließ. ‘Bloß keine Schmerzen’ sagte er sich. ‚Nicht jetzt’. Der Wagen geriet ein wenig ins Schlingern, aber das war leider nicht genug. Nachdem er seinen Kidnappern ebenfalls ein paar Seitenhiebe verpasst hatte, versuchte er es erneut. Der Fahrer trat, um zu verhindern, dass Michael vielleicht aus dem Wagen springen könnte, aufs Gas und beschleunigte dabei so stark, dass die beiden anderen Kidnapper in die Sitzbank zurück geworfen wurden. Nur Michael gelang es in dem Moment, sich an einer der Kopfstützen festzuhalten. Der Fausthieb, den er dem Fahrer nun verabreichte, war so gut platziert, dass dieser für einen Moment die rechte Hand vom Lenkrad nahm, um sich die Wange zu halten. Michael nutzte das, um ihm seine Skimütze übers Gesicht zu ziehen und riss dann das Lenkrad herum. Der Wagen prallte mit einem gehörigen Knall gegen das Brückengeländer und wurde vorne hochgeworfen. So stark, dass er für einen Augenblick fast senkrecht in der Luft stand, um in der nächsten Sekunde exakt auf das stählerne Geländer zu krachen. Von dort glitt der Wagen zur Flussseite und schlug mit gewaltigen Fontänen auf dem Wasser auf. Jeder der Kidnapper versuchte nur ins Freie zu gelangen, doch vergeblich. Ihre Panik kam Michael sehr entgegen. So wären sie mit sich selbst beschäftigt und würden von ihm ablassen. Im Gegensatz zu ihnen wusste er genau, was jetzt zu tun war. Er wusste, dass sie wegen des Wasserdrucks keine Chance hatten, die Türen zu öffnen. Erst wenn das Fahrzeug komplett geflutet wäre, wäre ein Ausstieg möglich. Es gelang ihm schließlich, mit den Füßen eine der Scheiben einzutreten, was ein rapides Eindringen des Wassers zur Folge hatte und den Wagen sofort in die Tiefe riss. Es war ziemlich dunkel dort unten. Doch etwas einfallendes Licht wies den Weg zur Oberfläche. Es galt, Ruhe zu bewahren und noch einmal tief und konzentriert Luft zu holen, was seinen Widersachern nicht gelang. Während das Fahrzeug auf den Grund der Themse sank, konnte Michael noch erkennen, wie der Kleine dabei war, die Nerven zu verlieren und hilflos herumstrampelte. Hektisch versuchte er zu atmen und presste dabei nur die Luft aus seinen Lungen, die er zum Auftauchen dringend benötigt hätte. Es gelang ihm, die Tür zu öffnen und sich kräftig vom Wagen abzustoßen. Rasch gelangte er zur Wasseroberfläche und schwamm ans Flußufer. Kaum hatte er die schräg abfallende, rettende Uferbegrenzung erreicht, brach er zusammen. Zum Glück war die Strömung nur gering gewesen. Auf der Brücke hatte sich inzwischen eine Anzahl von Schaulustigen versammelt, die wohl nicht glauben konnten, was sich da gerade vor ihren Augen abgespielt hatte. Der Große hatte sich als einziger der Entführer befreien können und war nun ebenfalls im Begriff, das Ufer zu erreichen. Sofort war Michael wieder alarmiert und rannte den Befestigungsstreifen entlang, Richtung Brücke. Der Große benötigte keine Pause. »Bastard«, schnaubte er ihm hinterher und nahm sofort die Verfolgung auf. Unteressen hatte Michael den Fuß der Brücke erreicht und kletterte die senkrechte Mauer empor, bald gefolgt von seinem Kontrahenten. Der Abstand zwischen ihnen an der steinernen Wand betrug nicht einmal zwei Meter. Ein besorgter Passant wollte Michael zunächst helfen, als er sich über die Brüstung hangelte, wich dann aber zurück. Sofort lief er auf die Straße und blickte dabei hektisch in alle Richtungen, um sicherzugehen, dass nicht noch ein anderer der Kidnapper auf ihn wartete. Im selben Moment kam ein Linienbus auf der Gegenfahrbahn heran, worin Michael seine nächste Chance sah. Mit einem gewagten Sprung auf die Plattform am Heck des Doppeldeckers konnte er unbehelligt entwischen. Die Blicke der Fahrgäste waren eine einzige Rüge. Auch er wusste natürlich, dass es verboten war, während der Fahrt aufzuspringen. Er konnte noch erkennen, wie der Große ziellos umherrannte. Er hatte Michaels Aktion nicht mitbekommen können, da er im selben Augenblick erst über die Brüstung gehechtet war. Da er für sein spurloses Verschwinden keine Erklärung parat hatte, rannte er in die entgegengesetze Richtung und attackierte beinahe jedes Fahrzeug, in dem Glauben, darin Michael vorzufinden. Dem wiederum war es äußerst unangenehm, die Blicke so vieler Menschen auf sich zu ziehen. Die Fahrgäste im Bus brauchten einige Zeit, um sich an den Anblick eines jungen Mannes zu gewöhnen, der nicht nur die Sicherheitsvorschriften ignorierte, sondern zudem noch völlig durchnässt war. Irgendwie war er ihnen suspekt, trotzdem wagte keiner auch nur die leiseste Bemerkung. »Können sie wechseln?«, fragte er treuherzig und entrichtete dem Schaffner brav das Geld für ein Ticket. Seine Brieftasche hatte er zum Glück noch in der Tasche. Trotzdem fühlte er sich alles andere als sicher.

‚Wahrscheinlich ist es nur eine Frage der Zeit, bis sie dahinter kämen’, befürchtete er. Auf diesem Bus wäre er auf Dauer nicht sicher. Ein paar Stationen später wechselte er den Bus. Er wusste nicht, wohin ihn die Fahrt bringen würde. Hoffentlich nur weit weg, London ist groß. Dasselbe Spiel machte er wieder, diesmal in die entgegengesetzte Richtung und schließlich das Ganze noch einmal. ‘Das muss reichen’, dachte er und ließ sich schlussendlich auf eine Sitzbank nieder. Er war noch immer patschnass. Eine gewisse Zeit würde er noch mit seinem Erscheinungsbild die Aufmerksamkeit der Leute auf sich ziehen. Nach einer Stunde etwa gelangte der Bus an die Endstation. Er musste sich irgendwo am Stadtrand befinden. Die Häuser waren merklich niedriger, es war ein Wohnviertel mit gleichförmigem Baustil. Jedes der Häuser hatte einen erkerähnlichen Vorbau zum Vorgarten hin. Und kaum Verkehr auf den Straßen. Er erblickte einen bordeauxrot angestrichenen Pub mit einem lustigen Maskottchen unter dem Namensschild, ‚Rubber Duck’. Es handelte sich um eine Ente, die einen Zylinder trug und Rollschuhe an den Füßen hatte. Bereits zur Mittagszeit waren die Barhocker schon mit unerschütterlichen Kampftrinkern besetzt und aus einer Musikbox tönte ein Song der

‚Simple Minds’. Wie in den Bussen wurde er auch hier ungläubig beäugt. »Wohl in die Themse gefallen«, posaunte ein Glatzköpfiger mit einem roten Vereinstrikot in den Raum, ohne zu wissen, wie recht er damit hatte.

»Ja, genau«, versuchte Michael mitzuscherzen, obwohl Ihm nicht im Geringsten danach zumute war. Sogleich wandte er sich an einen der Barkeeper.

»Kann ich von hier aus ungestört telefonieren?«, fragte er.

»Sicher, da vorne. Wenn sie Kleingeld brauchen...?«, erwiderte der Mann hinter dem Tresen.

»Das wäre wirklich nicht schlecht«, gab Michael dankend zur Antwort.

Der Malaysia Job

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