Читать книгу 2145 - Die Verfolgten - Katherina Ushachov - Страница 26
24. Avriel Adamski – unterwegs – 09.07.2145
ОглавлениеWährend er mitten in der Nacht über den menschenleeren Highway brauste, dachte Avriel zum ersten Mal richtig nach. All die Geschehnisse der letzten Tage wirbelten wirr durch seinen Kopf.
Valentines blutüberströmtes Gesicht tauchte vor seinem inneren Auge auf. Alles lief falsch, völlig falsch! Dieser Abend … Er hatte ihn geplant, hatte schon vor Monaten den Ring gekauft, doch dann …
Aber er konnte es nicht ändern. Nichts von alldem.
Stattdessen war er auf Arianes Motorrad unterwegs nach New Orleans, um irgendeiner Frau, die er genauso wenig kannte wie Ariane, ein Pad zu bringen. Wie, zur Hölle, sollte er wissen, wer sie war? Die Stadt war bestimmt riesig, da konnten fünfzig Fabricias mit schwarzen Haaren wohnen.
Dann stutzte er – New Orleans. Diese Stadt existierte doch gar nicht mehr! Sie war nach dem Hurrikan Valeska irgendwann im letzten Jahrhundert unbewohnbar geworden und man hatte alle Bewohner evakuiert. Dass der Autopilot das noch eingespeichert hatte, war merkwürdig.
In diesem Moment riss das Motorrad ihn aus seinen verworrenen Gedanken.
»Hallo, unbenannter Fahrer. Der Akku ist fast leer. Autopilot Jack steuert die nächste Ladestation an. Bitte bestätigen.«
»Ich bestätige.«
»Autopilot Jack steuert die nächste Ladestation bei Camden, Alabama an. Bitte beachten Sie, dass Gebühren anfallen können. Diese werden …«
Genervt schaltete Avriel das plappernde Gerät auf stumm und nahm die Abfahrt zum Gelände der Ladestation.
Außer ihm war kein einziger Mensch dort. Kein Wunder, nach der Sperrstunde waren nur noch selbstfahrende Lastwagen unterwegs. Einige davon – riesige Maschinen – standen friedlich angedockt und tankten Energie.
Nur ihre Scheinwerfer und das Licht aus den Fenstern der vollautomatischen Selbstbedienungsbetriebe beleuchteten die Szenerie.
Avriel schob die Harley-Davidson eStreet 2130 zu einer der Dockingstationen. Dabei fiel sein Blick auf die digitale Datumsanzeige. 09.07., sein Geburtstag. Er hatte seinen Geburtstag vergessen. Avriels Herz machte einen schmerzhaften Sprung – an seinem Siebzehnten wollte er mit Valentine in einem kleinen Café sitzen und nicht nur seinen Geburtstag, sondern auch ihre Verlobung feiern.
Stattdessen hatte er den Tag auf der Flucht verbracht und keinen Augenblick daran gedacht …
Er schluckte den Kloß im Hals herunter und begab sich ins kleine Selbstbedienungslokal, das zur Ladestation gehörte. Ein Kaffee würde ihm jetzt guttun, er musste noch eine halbe Ewigkeit fahren.
Avriel drückte seine Karte in den Bezahlschlitz am Kaffeeautomaten, entnahm den vor seinen Augen gedruckten Plastikbecher mit dem Heißgetränk und nahm einen Schluck. Sofort fühlte er warme Kraft durch seine Adern strömen, drehte sich zur Glastür und … verschluckte sich am brühend heißen Kaffee.
Sofort ließ er den Becher stehen und rannte hinaus. »Hey! Hey, hau ab, das ist meins!«
Die ertappte Gestalt schrie erschrocken auf und rutschte ungeschickt vom Motorrad ab. Ehe sie sich aufrappeln konnte, stand Avriel auch schon vor ihr und schnitt ihr den Weg ab.
»Aus dem Weg!« Ein wütendes, zerkratztes Mädchengesicht blickte mit trotzigen, kerzenflammenblauen Augen zu ihm auf. »Wird’s bald?« Die Neonbeleuchtung offenbarte deutlich die Angst in ihren Zügen.
»Bist du bescheuert? Klaust mir fast mein Motorrad und dann soll ich dich damit wegfahren lassen? Ich …« Beinahe hätte er gesagt, er würde die Polizei rufen. Aber das war das Letzte, was er jetzt tun durfte. Unschlüssig biss er sich auf die Unterlippe.
Inzwischen war sie aufgestanden und hatte sich die schwarzen Haare aus dem Gesicht gestrichen. »Was? Rufst du die Bullen? Ohne mich!« Sie sprang zur Seite, doch Avriel packte sie am Arm und hielt sie fest. Auch wenn sie versuchte, möglichst frech und arrogant dreinzuschauen, blitzte blanke Furcht in ihren Augen. »Du tust das nicht! Oder?« Auf einmal wirkte sie sehr unsicher.
Immer noch stand er unschlüssig da und hielt ihren Arm fest. Was machte man in solchen Situationen?
»Sag bloß, du haust auch ab?«
»Definitiv nicht!« Seine Stimme klang höher als nötig.
»Warum tust du’s dann nicht?«
»Kann dir egal sein!« Am Ende rief sie noch die Polizei. Und dann wäre es aus mit ihm. Andererseits … dann wäre sie auch dran, und so dämlich konnte keiner sein.
»Wenn ja … nimmst du mich mit?«
Avriel war so überrascht, dass er ihren Arm losließ. Das Mädchen machte keine Anstalten mehr wegzulaufen.
»Also, was ist? Nimmst du mich mit? Wohin geht’s überhaupt?«
»Ähm … also … das … also …«
»Nun sag schon. Vielleicht haben wir den gleichen Weg.«
Das glaubte Avriel zwar nicht, aber ihm fiel auch auf die Schnelle kein anderes Ziel ein, das er ihr nennen könnte. »Nach New Orleans.«
»Dann haben wir sowieso den gleichen Weg. Die Erzieherin hat gesagt, ich soll mich dorthin durchschlagen.«
»Wer? Warum genau dorthin?«
Das Mädchen senkte die Stimme. »Weil da solche wie ich sein sollen. Und … wie du.«
»Wie kommst du …?«
»Nein, lass den Quatsch. Wir wissen beide, dass ich recht habe.«
»Schon gut.« Er nickte. »Dann sitz meinetwegen hinten. Aber wehe, du versuchst noch mal, das Motorrad zu klauen.«
»Bin ich bescheuert? Außerdem siehst du, wie gut ich das kann.« Sie grinste schief. »Wie heißt du eigentlich?«
»Avriel Adamski.«
»Jetzt verarschst du mich.«
»Warum sollte ich?«
»Ich heiße Allegra. Zufällig auch Adamski.«
»Jetzt verarschst du mich! Zeig deinen Ausweis her.« Wann nahmen die seltsamen Ereignisse ein Ende?
»Zeig du erst deinen!«
»Nein!«
»Dann eben gleichzeitig.« Ehe Avriel reagieren konnte, zog Allegra bereits ihre ID aus der Tasche und ihm blinkten sein Nachname und sein Geburtstag entgegen.
Langsam zog er seine ID hervor und hielt sie ihr hin.
»Nee jetzt … Oder?« Auf einmal war Allegra ganz kleinlaut geworden. »Kann es sein, dass du mein Bruder bist?«
»Du spinnst doch …« Er schaute sie von der Seite an. Mit ihren schwarzen Haaren und den blauen Augen sah sie ihm kein bisschen ähnlich, aber das musste nichts heißen.
»Nein … Im Waisenhaus hat man mir gesagt, dass wir zu zweit gewesen sind. Immer, wenn ich nicht gespurt habe, hieß es, man würde mich auch noch wegschicken, zu meinem Bruder, dem kleinen Schreibaby, nach Gordon City.«
»Da hab ich gewohnt …« Langsam sickerte die Erkenntnis in sein Gehirn, dass er seine Schwester vor sich hatte. Eine echte, lebendige Person und … eine Mutantin. Er schlang die Arme um Allegra, als wollte er sie zerquetschen.
Keuchend und prustend zerrte sie an seinen Armen. »Hör auf … du drückst mir die Luft ab …« Sie hustete, als er sie endlich losließ.
»Sorry. Das ist nur … ich dachte …«
»Lass stecken, du.« Allegra grinste und rieb sich die Rippen. »Ist dein Motorrad aufgeladen? Wir sollten weiter …«
»Sollten wir.« Er zwang sich zu schweigen. Auf einmal gab es so viel, worüber er mit ihr reden wollte! Das war schließlich seine Schwester, er wollte so viel über sie wissen, musste ihr so viel erzählen! »Kannst du fahren?«
»Kann ich. Wir können uns abwechseln. Und in den Pausen muss ich dir unbedingt ganz viel erzählen.« Offenbar ging es ihr wie ihm.
Als Avriel wieder aufs Motorrad stieg und wartete, bis auch Allegra sicher saß, musste er grinsen. Die Freude über die Schwester vertrieb für kurze Zeit alles Trübe aus seinen Gedanken.