Читать книгу 2145 - Die Verfolgten - Katherina Ushachov - Страница 4
2. Avriel Adamski – Gordon City – 07.07.2145
ОглавлениеAvriel ritt auf einer Wolke über das Land. Es war Nacht, der Mond schien und die Sterne vollführten einen gravitätischen Tanz … Menschen wie er saßen auf ihren Wolken, sie hatten den Tag verschlafen und waren nun hellwach, ihre Augen leuchteten …
»Avi, du kannst doch nicht einfach so im Unterricht einschlafen!« Valentine stupste ihn wiederholt mit dem Finger an. »Wach doch auf, was hast du die Nacht über gemacht?« Ein leichter Vorwurf lag in ihrer Stimme.
Avriel öffnete ein Auge und schaffte es, seinen Kopf von den Armen zu heben, gerade rechtzeitig, um dem Blick von Miss March zu entgehen. Sein eigener Blick blieb am Smartboard hängen, das ausnahmsweise keine permanent wechselnden Botschaften, sondern ein- und dieselbe Animation abspielte: Riú Gordon, der Weltpräsident, zeigte mit dem Finger in die Klasse. Ein Mann von etwas mehr als dreißig Jahren, mit blauen Augen, leicht zerzausten, hellblonden Haaren und einem sympathischen Lächeln. »Hilf deinem Land, werde Mutantenjäger!«
Fast alle aus der Klasse wollten genau das tun. Riú Gordon würde seinen Nachwuchs bekommen.
»Kann ich von dir abschreiben?«, flüsterte Avriel Valentine zu.
Wortlos schob sie ihm ihr Pad zu und er kritzelte in seiner unordentlichen Schnörkelschrift Notizen über den Präsidenten in sein eigenes elektronisches Notizbuch.
»Wer kann mir sagen, wann unser großer Präsident Gordon zum Oberhaupt der United World gewählt wurde?« Miss March blendete ein Foto des jungen Präsidenten auf dem Smartboard ein.
Valentine hob ihren Smartpen.
»Miss Springfield?«
»Nach der Ermordung des vorigen Präsidenten Raoul Gordon während seiner Wahlkampagne für die glorreiche AMP am 30. Januar 2133 übernahm Riú Gordon das Amt des Parteioberhaupts. Er wurde am 20. März 2133 vereidigt.«
»Sehr gut, Miss Springfield.« Miss March notierte etwas auf ihrem Pad.
Avriel warf Valentine einen Seitenblick zu.
Sie saß kerzengerade da und glühte vor Stolz. Sonnenlicht verfing sich in ihren hellbraunen Haaren und er ertappte sich bei dem Gedanken, sie die ganze Stunde über anstarren zu können.
Der Unterrichtsstoff war unwichtig geworden.
Nach der Stunde gingen die zwei zusammen auf den Hof.
»Was ist nur los, Avi? Du schläfst fast jeden Tag im Unterricht. Was stellst du im Waisenhaus denn nachts an?«
Er gähnte ausgiebig. »Ich kann nachts nicht schlafen, ich werde eigentlich abends erst wach. Im Sommer hingegen könnte ich nur schlafen …« Es war Hochsommer, er würde sich noch lange damit quälen müssen.
Valentine runzelte die Stirn. »Da kann etwas nicht stimmen, Avi. Glaub mir.«
Sie war ihm noch nie so zart und zerbrechlich vorgekommen wie jetzt. Und dabei wusste er, dass sie versuchte, stark zu sein.
»Avi, wir haben das im Biologieunterricht bis zum Erbrechen wiederholt, du weißt, wovon ich rede.« Valentine schaute in eine andere Richtung. Zerstreut strich sie sich nicht vorhandene Haare aus dem Gesicht und seufzte.
»Du glaubst, ich bin ein …«
Doch sie ließ ihn nicht ausreden. »Still, willst du erschossen werden?«
Er atmete hörbar ein. Seine Hände zitterten.
»Du wirst bald siebzehn, in dem Alter werden die Merkmale erstmalig so stark, dass du … dass du … bald jemanden angreifen wirst.« Sie versteckte ihr Gesicht hinter ihrem langen Pferdeschwanz.
»Und wenn das alles nicht stimmt? Wenn ich nur die Sommergrippe habe?«
»Seit mehreren Monaten?«
»Irgendwelche Forscher haben nachgewiesen, dass Teenager einen anderen Tag-Nacht-Rhythmus …«
»Fühlst du dich nie krank, als wäre dein Körper ganz schwer?«
»Ich sagte doch, vermutlich eine Sommergrippe …«
»Avi.« Sie legte ihm die Hand auf den Arm. »Rede keinen Unsinn. Ich kann es dir beweisen.« Sie nahm ihren UniCom aus der Schultasche.
»Was hast du vor?«
»Ich mache ein Foto von dir. Komm her.« Sie legte den Arm um ihn, lehnte ihr Gesicht an seine Wange und schoss ein Foto. Dann betrachtete sie das Ergebnis.
»Siehst du?« Sie zeigte ihm das Foto.
Seine Augen leuchteten ihm neongelb entgegen.
»Was jetzt?«
»Du musst abhauen. Was sonst?«
»Niemals! Ich meine, das hier ist mein Zuhause, oder?« Er starrte sie gehetzt an. »Ich habe kein anderes …« Doch tief im Inneren wusste Avriel, dass sie recht hatte und er am besten sofort seine Sachen packen und verschwinden sollte.
»Valentine, ich wollte bei deinem Vater um deine Hand anhalten.« Er errötete heftig.
»Mein Vater würde mich keinem Waisenkind geben. Erst recht keinem … Du weißt schon.« Valentine ballte die Hände zu Fäusten, sodass sich die Fingernägel ins Fleisch gruben.
»Wenn wir das siebzehnte Lebensjahr erreichen, erhalten wir eine Geldsumme, die von unseren Schulnoten abhängt. Valentine, du kennst meine Zeugnisse und kannst dir ausrechnen, dass das nicht wenig sein wird!«
»Avi, wenn … wenn du darauf bestehst, dann komm doch heute Abend zu mir. Ich bin allein zu Hause, da können wir über alles reden, ohne …« Sie sah sich flüchtig auf dem Schulhof um. Ihre Stimme zitterte.
»Gut. Ich werde kommen.« Er drehte sich weg und ging schnell ans andere Ende des Schulhofes, konnte es nicht ertragen, weiter in ihrer Nähe zu sein.
Wenn er Gordon City verlassen musste, dann hatte er keine Wahl. Er musste sich von ihr verabschieden. Für immer.
Nach der Schule stand Avriel, sauber gekämmt und mit einem Strauß ihrer Lieblingsblumen – pinke Lilien – im Arm, vor Valentines Haus. Sein Herz schlug ihm schon den ganzen Tag bis zum Hals. Er drückte auf die Klingel und kurz darauf glitt die Schiebetür geräuschlos beiseite. Auf einmal war er hellwach und trotz der Dunkelheit im Haus sah er deutlich die Treppen, die zum Zimmer seiner besten Freundin führten. Er rannte hoch und fand sich mit klopfendem Herzen vor ihrer Zimmertür wieder. Sollte er hineingehen? Kurz lauschte er, doch kein Laut war hinter der Tür zu hören. Er drückte vorsichtig die Klinke nach unten.
In ihrem weiß getünchten Zimmer saß Valentine auf einem Stuhl an einem weiß lackierten Tisch. Ihre Schuluniform war mittlerweile zerknittert, und im Spiegel erkannte er, dass sie den Kopf auf die Hände gelegt hatte und schlief.
Avriel trat zu ihr und sah zu, wie sich ein paar Haare im Rhythmus ihres regelmäßigen Atems sachte vor ihrem Gesicht bewegten. Sie wirkte in diesem Moment noch zerbrechlicher als auf dem Schulhof – ahnungslos und leicht verwundbar, ohne Schutz. Die geschlossenen Lider waren gerötet, aufgequollen und zitterten, als würden Albträume sie plagen.
Doch was ihn besonders anzog, waren ihre vom Weinen geschwollenen, leicht geöffneten Lippen. Und ohne zu wissen, was er da tat, küsste er ihren fiebrig heißen Mund.
Valentine erwachte und schlug ihm ins Gesicht. »Wie kannst du nur?« Sie stieß ihn von sich.
Sein Kopf prallte schmerzhaft gegen ein niedriges Regal. Ein metallischer Geschmack breitete sich auf seiner Zunge aus und machte ihn rasend. Gleichzeitig hatte Valentine nie reizender ausgesehen als mit diesem lebendigen, wütenden Gesichtsausdruck.
»Es tut mir leid.« Das war gelogen – der Kuss hatte ihm durchaus gefallen, ihre Lippen waren so schön weich …
»Du Heuchler! Ich kann nicht glauben, dass du einfach über mich herfällst!« Valentine schlug ihn erneut.
Plötzlich sah er rot – oder eher hell, die Farbe ihrer Haut …
»Avi!« Der Ruf ging in einen lang gezogenen Schrei über, der Avriel nicht mehr erreichte.
Wie ein Raubtier packte er sie und versenkte seine Zähne in ihrem Arm, füllte seinen Mund mit ihrem Geschmack, löschte das Feuer in seinem Herzen mit der Kühle ihrer seidenweichen Haut.
Ihren Schmerzensschrei hörte er nur dumpf, wie durch einen Schleier. Ihre lächerlich kleine, schwache Faust schlug erfolglos gegen sein Gesicht, seine Brust, seinen Hals.
Er packte ihr Handgelenk und drückte zu, zerrte daran, bis dieses lästige, zuckende Ding ihn nicht mehr irritierte.
Versank immer mehr in einem rot geräderten Wahn. Biss erneut zu.
Bis sie sich nicht mehr wehrte und zu Boden sank.
Doch mit der Ruhe kam auch der Horror. Er blickte auf Valentine hinab und spürte, wie seine Hände zitterten. Als würden sie nicht ihm gehören. Aus den Wunden sickerte Blut, aber es lockte ihn nicht, im Gegenteil. Der Anblick verursachte ihm ein Gefühl des Ekels.
Mit dem Pflichtbewusstsein eines Schuljungen drückte er auf den in jedem Zimmer installierten Knopf, der eine Ambulanz herbeirufen würde – er war sich sicher, dass sie Valentine nicht helfen konnte.