Читать книгу Die vielen Namen der Liebe - Kim Thuy - Страница 10
Dalat – ĐÀ LẠT – lateinisch: dat aliis laetitiam aliis temperiem
ОглавлениеDIE MÄDCHEN AUS ĐÀ LẠT waren für ihren blassen Teint und ihre rosigen Wangen bekannt. Manche meinen, die frische Luft der Hochebenen lasse sie so strahlen, während andere ihre sanften Bewegungen dem Nebel zuschreiben, der über den Tälern liegt. Meine Mutter war eine Ausnahme von dieser Regel. Sehr schnell und sehr früh fand sie sich damit ab, dass nie ein Junge zu ihr sagen würde: »Du bist mein Frühling«, obwohl ihr Vorname Xuân Frühling bedeutete und sie an einem Ort lebte, der »Stadt im ewigen Frühling« genannt wurde. Meine Mutter hatte nicht die weiche, zarte Haut meiner Großmutter geerbt. Sie trug eher die Khmer-Gene ihres Vaters in sich, wovon ihr grobes Gesicht zeugte, das während der Pubertät außerdem noch von Akne verunstaltet wurde. Um die Blicke der Lästermäuler abzuwehren und deren Lippen zu verschließen, hatte sie beschlossen, eine wilde Frau zu werden, bewaffnet mit einem eisernen Willen und harten, männlichen Worten. Von der ersten Vorschulklasse bis zum letzten Schuljahr war sie immer die Beste. Ohne den Beginn ihres Wirtschaftsstudiums abzuwarten, übernahm sie schon in jungen Jahren die Führung der elterlichen Orchideenfarm, diversifizierte und reorganisierte die Produktion und machte daraus ein Unternehmen mit exponentiellem Wachstum.
Ihren Vater, einen hohen Beamten, bat sie um die Erlaubnis, die Villa, die sie an Feriengäste vermieteten, mit einigen Verbesserungen auszustatten. Bald hatte sie ihn auch davon überzeugt, weitere Häuser zu kaufen, um die starke Nachfrage zu befriedigen. Viele suchten nach einem Ort, der sie an Europa erinnerte, fern von einem Alltag, den tropische Hitze und die Spannungen zwischen Herrschenden und Beherrschten oft erstickend machten. Es hieß, dass Đà Lạt, wie sein Name verriet, die Macht habe, den einen Freude und anderen Frische zu schenken.
Meine Mutter war fünfzehn, als mein Vater zum ersten Mal in die Villa in Đà Lạt kam. Er bemerkte sie nicht, denn wenn er vorbeiging, senkte sie den Blick, um sich nicht zu verraten. Während dieses ersten Aufenthalts der Familie des Richters Lê Văn An beobachtete sie ihn nur von fern. Ab dem folgenden Jahr bestand sie darauf, sich an der Zubereitung des Essens zu beteiligen, und überwachte jedes Detail, von den zu feinen Blüten geschnitzten Karotten in den Saucen bis zu den Wassermelonenstücken, deren Kerne einzeln mit einem Zahnstocher entfernt wurden, um das Fruchtfleisch nicht zu verletzen.
Der Morgenkaffee musste aus den Exkrementen der Zibetkatze zubereitet werden, eine Spezialität, die ihm das Bittere nahm und ihm einen Karamellgeschmack verlieh. Den brachte sie meinem Vater persönlich auf die Terrasse, in der Hoffnung, ihm dabei zusehen zu können, wie er seine ebenholzfarbenen Haare à la Clark Gable mit Brillantine frisierte. Es verschlug ihr jedes Mal den Atem, wenn er den Kamm umdrehte und mithilfe seines spitzen Stiels eine kleine s-förmige Locke modellierte und in die Stirn fallen ließ. Doch obwohl sie nur wenige Schritte neben ihm stand, während der Kaffee Tropfen für Tropfen durch den Filter direkt in eines der vier kostbaren Baccarat-Gläser der Familie fiel, war sie für seine Augen unsichtbar. Sie verlängerte die Freude, sich in seiner Gesellschaft zu befinden, indem sie den Deckel des Filters zupresste und so das Durchlaufen des heißen Wassers durch die sehr kompakte Kaffeeschicht verlangsamte. Am Ende hielt sie einen Löffel mit der gewölbten Seite unter den Filter, was das Tropfen versiegen ließ. Wie alle Vietnamesen süßte mein Vater seinen Kaffee mit gezuckerter Kondensmilch, außer dem ersten Schluck, den er am liebsten schwarz trank. Und nach diesem ersten Schluck war es, dass er endlich meine Mutter ansprach.