Читать книгу Die vielen Namen der Liebe - Kim Thuy - Страница 13
Cholon – CHỢ LỚN – Großer Markt
ОглавлениеMEINE MUTTER GING UM 4.30 UHR, nach dem Ende des Großmarkts, in ihr Büro, um die ersten Verkaufsberichte ihrer Angestellten entgegenzunehmen. Um sieben Uhr war sie wieder zurück in ihrem Haus, das ein paar Ecken weiter stand. Beide Besitze verdankte sie der Tatsache, dass sie sich auf chinesische Vorfahren berufen konnte. Chợ Lớn beherbergte und beherbergt auch heute noch eine chinesische Gemeinde, die für ihre Solidarität und ihr Handelstalent bekannt ist. Gontran de Poncins, ein französischer Freiherr und Autor, Abenteurer und Journalist, hatte sich dort 1955 niedergelassen, um ein Werk über die chinesische Kultur zu verfassen. Er vermutete, dass die traditionellen Bräuche sich in den Kolonien besser erhalten hätten als im Mutterland oder zumindest über einen längeren Zeitraum. Mein Großvater Lê Văn An führte darüber lange Gespräche mit Monsieur Poncins, ebenso wie über Yvon Petra, dem aus Chợ Lớn stammenden und bis heute letzten französischen Wimbledon-Sieger 1946, der auch als Letzter lange Hosen auf dem Tenniscourt trug. Dass er diese Kleidungstradition bis zum Ende hochhielt, lag nach der Überzeugung meines Großvaters an seiner Herkunft, denn alle Kinder Chợ Lớns praktizierten nicht nur jahrtausendealte Sitten und Gebräuche, sondern sprachen auch Vietnamesisch mit chinesischem Akzent, selbst wenn sie nie einen Fuß auf chinesischen Boden gesetzt hatten.
Mein Vater hat Chợ Lớn nie gemocht. Er bevorzugte die Innenstadt Saigons mit ihren französischen Cafés und amerikanischen Bars. Besonders gern trank er sein Bier auf der Terrasse des Hotels Continental, wo ausländische Journalisten ihre Tage damit verbrachten, Truppenbewegungen und die neuesten Hits zu analysieren. Nach Möglichkeit reservierte er immer den Tisch, an dem Anfang der Fünfzigerjahre der Kriegskorrespondent Graham Greene so gern gesessen hatte, um die Stadt zu beobachten und sich von seinen Tischnachbarn zu Figuren für seinen Roman Der stille Amerikaner inspirieren zu lassen.