Читать книгу Die vielen Namen der Liebe - Kim Thuy - Страница 16
CATINAT
ОглавлениеWIR VERLIESSEN VIETNAM gemeinsam mit Hà, einer engen Freundin meiner Mutter, und deren Eltern.
Hà war sehr viel jünger als meine Mutter. Mit ihren Minikleidern, die ein herzförmiges Muttermal an ihrem linken Oberschenkel entblößten, verkörperte sie Anfang der Siebzigerjahre die moderne, am amerikanischen Lebensstil orientierte Frau in Saigon. Ich erinnere mich an ihre unwiderstehlichen Plateauschuhe im Hauseingang, die mir, wenn ich hineinschlüpfte, ein Gefühl von Dekadenz gaben oder zumindest eine neue Perspektive auf die Welt. Hàs mascaraverkleisterte falsche Wimpern verwandelten ihre Augen in zwei Litschibäume mit buschigem Fell. Sie war unsere Twiggy mit ihrem apfelgrünen oder türkisfarbenen Lidschatten, der sich mit ihrer kupferfarbenen Haut biss. Anders als die meisten jungen Frauen schützte sie sich nicht vor der Sonne, um sich von den Reisbäuerinnen zu unterscheiden, die mit ihren bis über die Knie aufgekrempelten Hosen dem gleißenden Licht ausgesetzt waren, sondern bräunte am Pool des exklusiven Sportklubs, wo sie mir Schwimmen beibrachte. Die amerikanische Freiheit bedeutete ihr mehr als die Eleganz der französischen Kultur und gab ihr auch den Mut, sich am ersten Miss-Vietnam-Wettbewerb zu beteiligen, obwohl sie Englischlehrerin war.
Meine Mutter missbilligte diese Entscheidung, die einer gebildeten jungen Frau aus guter Familie nicht anstand. Dennoch unterstützte sie Hà, indem sie ihr das lange Kleid und den Badeanzug kaufte, die sie auf der Bühne tragen sollte, und sie gerades Gehen auf einer Fuge des Fliesenbodens üben ließ – mit einem Wörterbuch auf dem Kopf, wie im Kino. Sie war wie eine große Schwester zu ihr und schützte sie vor bösen Zungen. Ich durfte mit Hà in die edlen Boutiquen an der Rue de Catinat einkaufen gehen und mit ihren ausländischen Freunden Zitronenlimonade trinken. Stolz wie ein Eroberer spazierte Hà durch diese Straße mit den großen Hotels. Die Stadt gehörte ihr. Ich fragte mich, ob meine Mutter sie um ihre Lässigkeit beneidete, die sie dank der Komplimente, mit denen ihre amerikanischen Professoren und Kollegen sie überschütteten, an den Tag legte. Sie feierten ihre Schönheit mit Schokoladentafeln, Lockenwicklern und Platten von Louis Armstrong, während ihr dunkler Teint unter Vietnamesen als »wild« galt. Meine Großeltern baten meine Mutter des Öfteren, mich aus dem Schwimmunterricht mit Hà zu nehmen. Ich ahne, dass meine Mutter ihnen deshalb nicht gehorchte und Hà in unserer Nähe behielt, weil sie hoffte, ich würde von Hà lernen, schön zu sein. Leider war meine Zeit mit Hà in Vietnam zu kurz. Oder ich lernte zu langsam.