Читать книгу Die vielen Namen der Liebe - Kim Thuy - Страница 15
THỦ ĐÚ’C
ОглавлениеMEIN VATER UND SEIN DIENER waren Brüder mit unterschiedlichen Familiennamen, unterschiedlichen Eltern und unterschiedlichen Schulen. Der eine ging in die Schule des Viertels mit einem Boden aus gestampfter Erde, der andere trug seine Bücher in einer Tasche aus Elefantenleder. Alle kannten die Schule meines Vaters, die nach Pétrus Ký benannt war, einem Intellektuellen, der die vietnamesische Schriftsprache nach dem römischen Alphabet statt in chinesischen Zeichen gelehrt und verbreitet hatte. Obwohl das Vietnamesische heute in Lautschrift notiert wird, tragen die meisten Wörter noch Spuren der ursprünglichen Ideogramme.
Mein Vorname, Bảo Vi, kündet von der Absicht meiner Eltern, »die Kleinste zu beschützen«. Wörtlich übersetzt, heiße ich »winzige Kostbarkeit«. Wie den meisten Vietnamesen gelang es mir nie, meinem Namen gerecht zu werden. Mädchen, die »Weiß« (Bach) oder »Schnee« (Tuyết) heißen, haben oft sehr dunkle Haut, Jungen mit dem Namen »Macht« (Hùng) oder »Stark« (Mạnh) fürchten sich vor großen Prüfungen. Ich wiederum wuchs unaufhörlich, bis ich den Durchschnitt bei Weitem überholt hatte, und übertrat mit dem gleichen Elan sämtliche Regeln. Die Lehrer setzten mich in die letzte Bank, um die Klasse besser überblicken zu können. Wenn sie die kleinste falsche Bewegung entdeckten, zitierten sie den Schuldigen augenblicklich zur Tafel, wo er sich unter den Blicken seiner sechzig Mitschüler mit offenen Händen hinstellen musste und mit dem Holzlineal auf die Handflächen oder die Gelenke geschlagen wurde. Danach fiel es ihm unglaublich schwer, die Feder zu halten, die Spitze ins Tintenfass zu tunken und ohne Zittern zu schreiben. Sosehr er sich auch bemühte und mit rosa Löschpapier in der linken Hand die Bewegung der Feder begleitete, um überschüssige Tinte aufzusaugen, gelang es ihm kaum, den Zwei-Millimeter-Linien der Séyès-Hefte zu folgen, ohne darüber hinauszufahren und Flecken auf die Blätter zu machen. So bekam er zu seinen geschwollenen Händen auch noch Punktabzüge wegen seiner Schmiererei. Gemessen an den Leichtsinnigen, die nach hinten versetzt wurden, war ich bestimmt eine Musterschülerin. Oder zumindest zarter, da ich mich nach Kräften bemühte, eine »Vi« zu sein, mikroskopisch klein. Unsichtbar.
Wäre mein Vater am Ende des Krieges ebenso unsichtbar gewesen wie ich, dann wäre er nicht verhaftet und in ein Umerziehungslager in der Gegend von Thủ Đức gesteckt worden, wo er seine tägliche Ration von zehn Erdnüssen mit seinen sechs Hüttenkameraden teilte. Da mein Vater für ein fürstliches Schicksal geboren war, wurde er nach zwei Monaten entlassen. Sein Dienerbruder hatte der Obrigkeit gegenüber erklärt, mein Vater habe seine Spionagetätigkeit für den kommunistischen Widerstand finanziell unterstützt und damit indirekt dem Norden geholfen, den Krieg gegen den Süden zu gewinnen. Indem er ihn so von dem Verdikt befreite, ein kapitalistischer Bürger zu sein, gelang es ihm, meinen Vater zu retten. Ohne das Eingreifen seines Feindbruders hätte mein Vater weiter Kanäle gegraben, Felder entmint und Land gerodet, zusammen mit den anderen Gefangenen, die nicht mehr darauf hofften, den Tag ihrer Befreiung zu erleben. Das Einzige, was sie noch zu hoffen wagten, war, dass eine Heuschrecke oder eine Ratte zum Abendessen vorbeilief, jede andere Überlegung konnte als Verrat am kommunistischen Denken ausgelegt werden. So wurde der Chirurg aus der Nachbarhütte, der ein paar winzige Reisfladen in der Sonne getrocknet hatte, beschuldigt, seine Flucht vorbereitet zu haben, statt sich auf seine Umerziehung zu konzentrieren. Dasselbe passierte einem Buchhalter, als er anderen Gefangenen erzählte, er habe Motorräder an der Nordseite des Gefängnisses vorbeifahren hören. Wenn mein Vater mitbekommen hätte, wie andere Männer auf die Wache zitiert wurden und nicht mehr ins Lager zurückkehrten, hätte er vielleicht beschlossen, aus Vietnam zu fliehen. Und hätte uns nicht alleingelassen auf unserem Weg ins Unbekannte. Dann wäre es ihm vielleicht, wie meiner Mutter, am wichtigsten gewesen, seine Söhne vor dem Militärdienst zu bewahren. So aber zog er sich lieber wieder in den Kokon seines Junggesellenheims zurück, weit weg von den Gezeiten des Lebens.