Читать книгу Die vielen Namen der Liebe - Kim Thuy - Страница 5

Mekong – CỬU LONG – Neun Drachen

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ICH WAR ACHT JAHRE ALT, als das Haus in Schweigen versank.

Unter dem zusätzlichen Ventilator an der elfenbeinfarbenen Wand des Esszimmers hing ein großer, fester, leuchtend roter Karton, der einen Block aus dreihundertfünfundsechzig Blättern hielt. Jedes Blatt zeigte das Jahr, den Monat, den Wochentag und zwei Daten: eins nach dem Sonnenkalender und eins nach dem Mondkalender. Sobald ich auf einen Stuhl klettern konnte, war mir die Freude vorbehalten, nach dem Aufstehen eine Seite abzureißen. Ich war die Hüterin der Zeit. Dieses Privileg wurde mir entzogen, als meine älteren Brüder Long und Lộc siebzehn Jahre alt wurden. Wir feierten ihren Geburtstag nicht, und meine Mutter weinte von da an jeden Morgen vor dem Kalender. Es war, als ob sie sich mit jedem Tagesblatt, das sie abriss, selbst zerriss. Das sonst so einschläfernde Ticktack der Standuhr zur nachmittäglichen Siesta klang auf einmal wie das Ticken einer Zeitbombe.

Ich war das Nesthäkchen, die kleine Schwester meiner drei großen Brüder, von allen beschützt wie ein kostbares Parfumfläschchen in einer Vitrine. Obwohl die Sorgen der Familie wegen meines Alters von mir ferngehalten wurden, wusste ich doch, dass die beiden Ältesten an ihrem achtzehnten Geburtstag in den Krieg müssten. Und egal, ob man sie nach Kambodscha in den Kampf gegen Pol Pot schicken würde oder an die Grenze zu China, auf allen Schlachtfeldern drohte ihnen dasselbe Schicksal, derselbe Tod.

Die vielen Namen der Liebe

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