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Entdeckungsgeschichte der Mimikry

Sir Henry Walter Bates

Als der englische Naturforscher Henry Walter Bates im Jahre 1860 von einer 11-jährigen Forschungsreise aus den tropischen Regenwäldern Brasiliens heimkehrte, trug er Brisantes in seinem Gepäck. Er entdeckte zusammen mit seinem Reisegefährten Alfred Russel Wallace, der unabhängig von Charles Darwin Grundzüge der Evolution entdeckte, nicht weniger als 14 000 neue Pflanzenarten und 8000 neue Insektenarten für die Wissenschaft. Zu seiner gesammelten Ausbeute zählten auch 94 Schmetterlingsarten, die er der Familie Heliconidae zurechnete. Bates ordnete das Material so wie die meisten Sammler – er steckte gleich aussehende Exemplare zusammen. Dann entdeckte er etwas Merkwürdiges: Unter vielen Exemplaren aus der Gattung Ithomia fand er auch einzelne Weißlinge (Pieridae) der Gattung Leptalis, die nur bei genauem Hinsehen als Weißlinge zu erkennen waren, denn die Leptalis-Schmetterlinge besaßen ein den Ithomia-Faltern zum Verwechseln ähnliches Flügelzeichnungsmuster. Auf seiner Reise konnte er feststellen, dass die Leptalis-Falter bestimmter Arten in unterschiedlichen Regionen unterschiedlich aussahen. Die Ithomia-Falter änderten sich ebenfalls und glichen stets den Leptalis-Faltern der Region. Dieser Fall fand sich aber nicht nur einmal, sondern wiederholt in seiner Sammlung. Andere Leptalis-Arten glichen weiteren Ithomia-Arten (▶ 2) und stets stammten äußerlich ähnliche Formen aus demselben Gebiet. Außer Leptalis fand Bates gelegentlich weitere täuschend ähnliche Schmetterlingsarten aus ganz anderen Familien. An diesen Beispielen hat Bates (1862) nicht nur das Phänomen der Mimikry erkannt und erstmals beschrieben; er hat der Forscherwelt zugleich eines der kompliziertesten Mimikrysysteme erschlossen, das bis heute nicht vollständig aufgeklärt ist. Charles Darwin berichtete bereits 1859 in seinem epochalen Werk ›On the Origin of Species by Means of Natural Selection‹1 von den Aufsehen erregenden Ergebnissen Bates‘ mit folgenden Worten:

„Es gibt noch andere merkwürdige Fälle, in denen große äußere Ähnlichkeit nicht durch Anpassung an ähnliche Lebensverhältnisse, sondern vorwiegend aus Schutzgründen entstanden ist. Ich meine die wunderbare, zuerst von Bates geschilderte Art und Weise, in der gewisse Schmetterlinge andere vollkommen verschiedene Arten nachahmen. Dieser vortreffliche Beobachter zeigte nämlich, dass in einigen Gegenden Südamerikas, wo sich z. B. in großen Schwärmen eine Ithomia tummelt, häufig ein anderer Schmetterling (Leptalis) mitten unter diesen Schwärmen vorkommt; und dieser ähnelt in jeder Schattierung, in jedem Streifen der Zeichnung, sogar in der Flügelform der Ithomia derart auffallend, dass Bates sich trotz seines durch elfjährige Sammeltätigkeit geschärften Blicks mehrfach täuschte. Wenn man die gefangenen Nachahmer und Vorbilder vergleicht, so zeigt sich, dass sie im Körperbau wesentlich voneinander abweichen und nicht nur verschiedenen Gattungen, sondern oft auch verschiedenen Familien angehören. Wäre diese Mimikry nur ein oder zweimal vorgekommen, so hätte man darüber wie über ein seltsames Zusammentreffen hinwegsehen können. Allein wenn wir weiter Umschau halten, so finden wir in derselben Gegend eine andere nachahmende und eine andere nachgeahmte Art, die gleichfalls den erwähnten beiden Gattungen angehören und gleichfalls einander sehr ähnlich sind. Im Ganzen wurden nicht weniger als zehn Gattungen bekannt, die andere Schmetterlinge nachahmen, und zwar bewohnten in allen Fällen die Nachahmer und Nachgeahmten das gleiche Gebiet; nie fand man einen Nachahmer entfernt von seinem Vorbilde leben. Die Nachahmer sind fast immer selten, während die Vorbilder fast immer in Schwärmen auftreten. In demselben Bezirk, in dem eine Leptalis eine Ithomia nachahmt, finden sich zuweilen sogar noch andere Schmetterlinge, die dieselbe Ithomia nachahmen, sodass man an demselben Fleck drei Gattungen von Tagschmetterlingen und sogar einen Nachtfalter finden kann, die alle einem Schmetterling ähneln, der einer vierten Gattung angehört. Besonders merkwürdig ist, dass viele der Nachahmer von Leptalis und viele der nachgeahmten Arten durch verschiedene Übergangsformen als bloße Varietäten festgestellt werden können, während andere zweifellos verschiedene Arten sind. Warum bezeichnet man aber gerade die eine Form als Vorbild und die andere als Nachahmer? Bates antwortet darauf befriedigend durch den Hinweis, dass die nachgeahmte Form das gewöhnliche Kleid ihrer Gruppe trage, während die Nachahmer ihr Kleid verändern und ihren nächsten Verwandten unähnlich sind … . Es drängte sich nun zunächst die Frage auf, warum bestimmte Tag- und Nachtschmetterlinge so oft das Kleid einer ganz anderen Form anlegten, und warum die Natur sich zum großen Erstaunen der Naturforscher überhaupt zu einer derartigen Komödie herbeiließ. Bates fand auch dafür zweifellos eine richtige Erklärung. Die nachgeahmten Formen, die immer sehr zahlreich auftreten, wissen gewöhnlich irgendeiner sie ständig bedrohenden Vernichtung zu entgehen (sonst könnten sie ja nicht so zahlreich vorhanden sein), und es sind tatsächlich viele Beweise dafür gesammelt worden, dass sie Vögeln und anderen Insekten fressenden Tieren widerwärtig sind. Die in demselben Bezirk lebenden Nachahmer dagegen sind verhältnismäßig selten und gehören auch seltenen Gruppen an; sie müssen also wohl von gewissen Gefahren bedroht und dezimiert worden sein, weil sie sich andernfalls (nach der Zahl der Eier zu urteilen, die alle Schmetterlinge legen) in drei oder vier Generationen über das ganze Gebiet ausbreiten würden. Wenn nun ein Mitglied dieser verfolgten und seltenen Gruppen derart das Gewand einer gut geschützten Art anzulegen weiß, dass es regelmäßig das geübte Auge eines Entomologen täuscht, so wird es häufig auch feindselige Vögel und Insekten zu täuschen vermögen und dadurch oft der Vernichtung entgehen. Man kann fast sagen, dass Bates tatsächlich den Prozess verfolgt hat, durch den die Nachahmer den Nachgeahmten so ähnlich werden, denn er entdeckte, dass einige der so viele andere Schmetterlinge nachahmenden Leptalis-Arten außerordentlich stark variieren. In einer Gegend fand er verschiedene Varietäten, von denen nur eine in gewissem Grade der gemeinen Ithomia desselben Bezirkes glich. In einer anderen Gegend gab es zwei oder drei Varietäten, von denen eine häufiger vorkam als die andere, und diese ahmte eine andere Form von Ithomia täuschend nach. Aus alledem schloss Bates, dass die Leptalis zuerst nur variierte und dass eine Varietät, die zufällig einem denselben Bezirk bewohnenden häufigen Schmetterling ähnlich wurde, infolgedessen besser gedieh und weniger gefährdet war; sie hatte also mehr Aussicht, den feindlichen Vögeln und Insekten zu entgehen und wurde häufiger erhalten als andere. Die weniger vollkommenen Ähnlichkeitsgrade wurden in jeder Generation wieder ausgemerzt, und nur die anderen blieben zur Fortpflanzung zurück.“


▲ 2 Äußerlich ähnliche, aber nicht verwandte Schmetterlinge, entdeckt von Henry Walter Bates. 4 Leptalis theonoë var. leuconoë, 4a Ithomia ilerdina, 5 Leptalis nehemia, 6 Leptalis theonoë var. argochloë, 6a Ithomia virginia, 7 Leptalis amphione var. egaenia, 7a Mechanitis polymnia var. egaenia, 8 Leptalis orise, 8a Methona psidii. Die Gattung Leptalis gehört in die Familie der Weißlinge (Pieridae); die Gattungen Ithomia, Mechanitis und Methona gehören zu den giftigen Heliconiden (Heliconidae). (Nach Bates 1862)

„Wir haben also hier ein vorzügliches Beispiel von natürlicher Zuchtwahl“, kommentierte Darwin die Ergebnisse von Henry Bates. Mimikry musste als geradezu ideales Prüffeld der Darwin’schen Evolutionstheorie angesehen werden. Aus der natürlichen Variabilität in der Nachahmerart war unter dem Selektionsdruck der Nachahmung von visuellen Signalen regional verschiedener Vorbilder ein Farbpolymorphismus großen Ausmaßes entstanden. Unter Farbpolymorphismus versteht man das Auftreten von Morphen einer Art, die sich in ihrem genetisch determinierten, also erblichen Farbmuster unterscheiden. Im Gegensatz zur Variabilität, die die natürliche, kontinuierliche Verteilung der Merkmalsausbildung unter den Individuen einer Art beschreibt, bezeichnen wir mit Polymorphismus das Vorkommen von mehreren eindeutig unterscheidbaren, distinkten Formen von Individuen einer Art, die nicht über Zwischenformen verbunden sind. (Morphen = verschiedene Erscheinungsformen einer Art; am häufigsten sind die Geschlechtsmorphen “Männchen“ und “Weibchen“, häufig sind Farbmorphen, Größenmorphen, usw..). Zu den von Bates gefundenen Farbmorphen sind bis heute noch weitere hinzugekommen. Das Eingängige an diesen von Bates geschilderten Mimikryfällen ist, dass die Evolutionsrichtung vorgegeben ist – hin zu immer größerer und auch für den Menschen beobachtbarer Ähnlichkeit mit den Vorbildern –, was sonst in der Evolution nicht vorkommt. Manche Nachahmer sind so weit entwickelt, dass sie vom Signalempfänger regelmäßig mit dem Vorbild verwechselt werden. Trotzdem kommt es nicht zum Stillstand der Evolution des Nachahmers. Dadurch, dass das Vorbild sich während der Evolution weiter verändert, kommt die Anpassung des Nachahmers an das mimetische Vorbild nicht zum Erliegen.

Nachdem Bates im Jahre 1862 den Begriff „Mimikry“ geprägt hatte für das von ihm beobachtete Phänomen, dass für manche Tiere schmackhafte Schmetterlinge als Nachahmer des Flügelfarbmusters von ungenießbaren Schmetterlingen auftreten, wurden in den folgenden Jahrzehnten immer mehr Phänomene von Tarnung, Nachahmung, Täuschung und Betrug im Tier- und Pflanzenreich mit dem Begriff Mimikry belegt. Die klassischen Mimikryfälle, die jeweils nach ihren Entdeckern Bates, Peckham und Müller benannt sind, werfen auch heute noch hochaktuelle Fragestellungen auf. Zu der schnell ausufernden Anzahl prinzipiell verschiedener Mimikrysysteme haben sicher die engen Definitionen beigetragen. Bereits Bates’ Reisegefährte Wallace merkte an, dass Bates den Begriff Mimikry nur auf Ähnlichkeiten zwischen Tierarten angewandt haben wollte. Wie also die Ähnlichkeit zwischen Tier und Pflanze, oder zwischen Artgenossen benennen oder die zwischen zwei giftigen Tierarten oder zwischen zwei schmackhaften? Es folgte eine Inflation der Namen für Mimikrysysteme, wiederum nach ihren Entdeckern Wasmann, Mertens, Dodson, Kirby, Pyanne, Vavilov, Gilbert und Brower – um nur die wichtigsten zu nennen – benannt.

Warnen, Tarnen, Täuschen

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