Читать книгу Warnen, Tarnen, Täuschen - Klaus Lunau - Страница 7
Vorwort
ОглавлениеWas wir mit eigenen Augen gesehen haben, halten wir gemeinhin für wahr. Die fesselnde Realität von Bildern – als Fotos, Kino- oder Fernsehfilm – ist für uns Menschen überwältigend. Auch wenn ein Sachverhalt nur schwarz auf weiß gedruckt zu sehen ist – wie in Dokumenten, Verträgen, Akten, Zeitungsberichten oder Büchern – wirkt er doch echter und verlässlicher als dieselbe Information durch ein akustisches Medium. Besonders sensibel reagieren wir daher, wenn wir unseren Augen nicht mehr trauen können. Wo eben scheinbar nur Dickicht war, bewegt sich plötzlich ein gefährliches Tier; ein giftiger Pilz sieht einem Speisepilz zum Verwechseln ähnlich; das grüne Blatt entpuppt sich bei Berührung als eine Heuschrecke. Die Natur ist voller Anpassungen, die ihren Träger tarnen, seine Gefährlichkeit nur vortäuschen, seinen Angreifer warnen oder in eine Falle locken oder sogar einem Artgenossen etwas vorgaukeln. Um die sinnverwirrenden Anpassungen von Pflanzen, Tieren und Mensch anschaulich vorzustellen, habe ich die eingängigen Beispiele optischer Tarnung und Mimikry überrepräsentativ häufig ausgewählt und versucht, die Evolution von Anpassungen zum Warnen, Tarnen und Täuschen nachzuzeichnen. Chemische oder gar akustische Tarnung und Mimikry sind wohl nicht nur seltener, sondern auch weniger gut erforscht und werden daher hier weniger berücksichtigt.
Als „Augentiere“ verstehen wir visuelle Mimikry besonders gut. Doch viele Tiere kommunizieren mit und orientieren sich auch mit akustischen, chemischen, taktilen oder gar elektrischen Signalen. Es kann daher nicht verwundern, dass es auf allen Sinneskanälen auch zu Täuschungen kommt. Selbst wir Menschen sind anfällig für Mimikrytäuschungen in verschiedenen Sinnesmodalitäten. Auch wenn uns nichts sofort einfällt – Mimikry ist uns schon in der Märchenwelt begegnet: Sie erinnern sich sicher an den Wolf, der mit Mehl die Pfote weiß färbt, um den sieben Geißlein ihre eigene Mutter vorzutäuschen. Schließlich frisst er Kreide, um die helle Stimme einer Geiß zu imitieren. Oder Sie erinnern sich an Hänsel, der der Hexe einen Knochen statt seinem Finger vorhält, um vorzutäuschen, er sei noch ganz mager. Täuschen auf mehreren Sinneskanälen findet auch im alltäglichen Leben statt. Wattierte Schultern täuschen einen athletischen Körper vor. Parfüms statten uns mit täuschenden, verführerischen Düften aus.
Weil wir Menschen uns in der Regel auf unsere Sinne verlassen können, neigen wir dazu, bei Tieren dieselben Sinnesleitungen wie bei uns selbst zu vermuten. Das gilt insbesondere für den optischen Sinn. Wir Menschen sind, wie gesagt, Augentiere und wählen für viele Tätigkeiten die Zeit des Tageslichtes oder gestalten im Dämmerlicht oder Dunkel mittels künstlicher Lichtquellen die Bedingungen möglichst tageslichtähnlich. Wir wollen und müssen unseren Augen trauen. Dennoch wissen wir auch um die Grenzen unserer visuellen Orientierung. Manche schnellen Bewegungen können wir nur in einer Zeitlupenwiederholung erkennen. Ultraviolettes Licht können wir im Unterschied zu vielen Tieren nicht sehen. Optische Täuschungen zeigen uns, wie fehleranfällig unsere visuellen Erkennungsmechanismen sind. Unser leistungsfähiges Hirn bildet einen starken Informationsfilter, der beispielsweise Kontraste verstärken kann, uns aber auch anfällig macht, Objekte zu übersehen, die keinen Kontrast zu ihrer Umgebung haben. Unser Gehirn erleichtert auch die Personenerkennung, indem bestimmte Muster als Gestalten und Gesichter interpretiert werden. Das kann nachts allein im Wald unangenehm werden, wenn wir überall Gestalten wähnen.
Ein drastisches Beispiel: Das Linsenauge jedes Menschen und jedes Wirbeltieres besitzt einen so genannten blinden Fleck, an dem die Augennerven durch die Netzhaut vom Auge zum Gehirn herausgeführt werden. An diesem blinden Fleck ist kein Platz für Lichtsinneszellen und daher sind wir an dieser Stelle im Auge vollkommen blind. Nur weil unser Gehirn visuelle Informationen aus der Umgebung des blinden Fleckes auch für den Ort des blinden Flecks „berechnet“, haben wir keinen schwarzen Fleck in unserem Gesichtsfeld, wohl aber können wir Objekte, die sich genau dort befinden, nicht sehen.
Viele Fallstudien über Täuschungsphänomene in der Natur berichten von unvorstellbaren Besonderheiten, mit denen diese Täuschungen gelingen. Die unterschiedlichen Mechanismen der Sinnestäuschung lassen sich meines Erachtens nicht allesamt unter dem Begriff Mimikry einordnen. Ich habe versucht, die Sinne des natürlichen Betrachters in den Vordergrund zu stellen und in jedem Fallbeispiel zu fragen, ob es sich um Signale handelt, auf die der Sender eine Antwort erwartet oder nicht und ob der Empfänger getäuscht wird oder nicht.
Die Fähigkeit von Chamäleons zur Änderung der Körperfarbe kann beispielhaft die Bedeutung von Farben und Farbmustern erklären. Da dunkle Farben Licht absorbieren und helle Farben es reflektieren, besteht ein Einfluss der Körperfarbe auf die Thermoregulation dieser wechselwarmen Tiere; je dunkler sie gefärbt sind, desto leichter erwärmen sich die Tiere im Sonnenlicht. Chamäleons kommunizieren auch über Körperfarbmuster mit ihren Artgenossen. Die Fähigkeit zum Farbwechsel wurde im Kontext der Kommunikation evolviert; die Körperfarbe wird als Signalträger sowohl zur Anlockung von Paarungspartnern als auch zur Abschreckung von Rivalen eingesetzt. Chamäleons können jedoch ihre Körperfarbe auch der Umgebung anpassen und sich dadurch tarnen oder bei entsprechender Körperform sogar ein Blatt imitieren.
Um Sie vertraut zu machen mit Begriffen wie Tarnung, Warnung, Mimese, Mimikry, Signalnormierung und sensorischer Ausnutzung habe ich ein einleitendes Kapitel vorangestellt, das gewissermaßen im Schnelldurchgang die Begriffe einführt.
Die Beschreibung von Mimikrysystemen lebt vom Verhalten der beteiligten Lebewesen und ihrer Einordnung in das Evolutionsgeschehen. Zur kurzen und prägnanten Formulierung ist manchmal eine interpretative Sprache besser geeignet, die aber nicht suggerieren soll, dass die Evolution nach einem Plan abliefe. Strategie und Taktik, Gewinnstreben und Kostenvermeidung dienen als Metaphern, die komplizierte Evolutionsereignisse beschreiben, die stets nach dem gleichen Muster ablaufen: Individuen mit vorteilhaften erblichen Eigenschaften haben einen größeren Fortpflanzungserfolg gegenüber Artgenossen ohne diese Eigenschaften.