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Reformatorische Einsicht

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Durch die Vorlesungsmanuskripte Luthers und die studentischen Nachschriften seiner Hörer, aber auch durch Briefe und einige andere Quellen, kann man versuchen, die Entwicklung von Luthers Denken zu rekonstruieren. Er selbst berichtet viele Jahre später von einer befreienden Entdeckung, die ihm erst ein Gesamtverständnis der Hl. Schrift ermöglichte und alles umgestürzt habe.

Quelle

Martin Luther, Vorrede zur lateinischen Ausgabe seiner Werke (1545) (Auszug) Kirchen- und Theologiegeschichte in Quellen III, 22f.

Ich aber, der ich, so untadelig ich auch als Mönch lebte, vor Gott mich als Sünder von unruhigstem Gewissen fühlte und mich nicht darauf verlassen konnte, dass ich durch meine Genugtuung versöhnt sei, liebte nicht, nein, hasste den gerechten und die Sünder strafenden Gott und war im stillen, wenn nicht mit Lästerung, so doch allerdings mit ungeheurem Murren empört über Gott: Als ob es wahrhaftig damit nicht genug sei, dass die elenden und infolge der Erbsünde auf ewig verlorenen Sünder mit lauter Unheil zu Boden geworfen sind durch das Gesetz der zehn Gebote, vielmehr Gott durch das Evangelium zum Schmerz noch Schmerz hinzufüge und auch durch das Evangelium uns mit seiner Gerechtigkeit und seinem Zorn bedrohe. So raste ich wilden und wirren Gewissens; dennoch klopfte ich beharrlich an eben dieser Stelle [Röm 1,16f.] bei Paulus an mit glühend heißem Durst, zu erfahren, was St. Paulus wolle. Bis ich, dank Gottes Erbarmen, unablässig Tag und Nacht darüber nachdenkend, auf den Zusammenhang der Worte aufmerksam wurde, nämlich: „Gottes Gerechtigkeit wird darin offenbart, wie geschrieben steht: Der Gerechte lebt aus Glauben.“ Da begann ich, die Gerechtigkeit Gottes zu verstehen als die, durch die als durch Gottes Geschenk der Gerechte lebt, nämlich aus Glauben, und dass dies der Sinn sei: Durch das Evangelium werde Gottes Gerechtigkeit offenbart, nämlich die passive, durch die uns der barmherzige Gott gerecht macht durch den Glauben, wie geschrieben ist: „Der Gerechte lebt aus Glauben.“ Da hatte ich das Empfinden, ich sei geradezu von neuem geboren und durch geüffnete Tore in das Paradies selbst eingetreten. Da zeigte mir sofort die ganze Schrift ein anderes Gesicht. Ich durchlief dann die Schrift nach dem Gedächtnis und sammelte entsprechende Vorkommen auch bei anderen Vokabeln: z. B. Werk Gottes, das heißt: was Gott in uns wirkt; Kraft Gottes, durch die er uns kräftig macht, Weisheit Gottes, durch die er uns weise macht, Stärke Gottes, Heil Gottes, Herrlichkeit Gottes.

Da Luther diese Einsicht im für den Winter beheizbaren Studien- und Turmzimmer des Wittenberger Klosters gehabt haben will, spricht man auch vom Turmerlebnis. Tatsächlich handelt es sich um das Zentrum seiner Theologie. Durch unsere eigenen äußerlich gerechten Taten können wir niemals gerecht werden, da diese immer schon durch unsere sündhafte Egozentrik geprägt sind. Wir sind auf den Zuspruch der Gnade angewiesen (Evangelium). Gerechtigkeit Gottes meint in Bezug auf das Evangelium also nicht, dass Gott unsere Taten gerecht belohnt oder bestraft, sondern dass er uns Ungerechten die Gerechtigkeit Christi, der für den Sünder sein Leben hingab, schenkt. Wir sind Sünder und doch gerecht, da wir eine fremde Gerechtigkeit geschenkt bekommen. Diese befreiende Botschaft ist für Luther der Kern des Evangeliums und der Schlüssel zum Schriftverständnis: Auch Weisheit und Heil sind Eigenschaften, die uns in Christus aus Gnade geschenkt werden. Anstatt auf die eigene Gerechtigkeit zu vertrauen, kann der Blick und das Vertrauen ganz auf die (fremde) Gerechtigkeit Christi gesetzt werden.

Die Problematik der Datierung

Versucht man in Luthers Schriften den Zeitpunkt zu ermitteln, wann er dieses Turmerlebnis gehabt hat, ergeben sich große Schwierigkeiten. Luthers Denken ist von Anfang an vom Gegensatz zwischen Vertrauen auf die Gnade in Christus und falschem Vertrauen in die eigenen guten Werke geprägt. Natürlich gibt es dabei gewisse Entwicklungen. Ab 1518 betont Luther stärker, dass der Zuspruch des Evangeliums ein Verheißungswort (promissio) ist. Dieses vertrauend anzunehmen bedeute Heilsgewissheit zu besitzen. Erst einige Jahre später wird der begriffliche Gegensatz von eigener und fremder Gerechtigkeit herausgestellt.

Ein radikaler Umbruch zeigt sich aber nirgends in seinem Denken, das schon immer gegen das selbstgerechte Vertrauen in die eigene Gutheit geprägt war. Gnade anstatt Werkgerechtigkeit, dieser grundlegende Gegensatz wird vermutlich vom späten Luther in die eigene Biographie auf ein Erlebnis hin verdichtet, das er analog den Biographien seiner beiden Gewährsmänner in der Gnadenlehre gestaltete: Denn Paulus und sein spirituelles Ordensvorbild Augustinus haben sich nach ihren eigenen Selbstaussagen plötzlich in einem Bekehrungserlebnis von der Gnade Christi ergriffen gewusst.

Wittenberger Programm

Inhaltlich ist das Zentrum von Luthers Bemühen berührt: Anstatt durch eigene Taten zu versuchen, ein gerechter Mensch zu werden, wird uns im Wort des Evangeliums die fremde Gerechtigkeit Christi zugesprochen. Bald gelang es ihm, für diese Rechtfertigungslehre Mitstreiter zu finden. Wittenberg wurde zur Hochburg einer antiaristotelischen, auf Paulus und Augustinus gestützten Erneuerung der Theologie. Für diese Theologie trat Luther auch in Heidelberg bei einer Disputation anlässlich des Verbandskapitels seines Ordens am 26. April 1518 ein. Mitstreiter in Wittenberg wurden seine Kollegen Andreas Bodenstein, gen. Karlstadt (1486–1541) und Philipp Melanchthon (1497–1560), der seit 1518 den Lehrstuhl für Griechisch innehatte. Mit Paulus und Augustinus gegen die falsche Philosophie des Aristoteles, die in die Theologie Eingang gefunden habe. Dies war das Programm der frühen Wittenberger Reformation.

Stichwort

Rechtfertigungslehre

Unter Rechtfertigung versteht man den Vorgang, durch den der gottferne Mensch (Sünder) mit Gott versöhnt und gerecht gemacht wird. Der Mensch als Sünder gilt als erlösungsbedürftig, da er nicht aus eigener Anstrengung wieder gut werden kann. Sein egozentrischer selbstbezüglicher Wille steht im Widerspruch zum Gebot der kategorischen Gottes- und Nächstenliebe. So besteht kein Anspruch auf Rechtfertigung. Sie ist ein Werk der göttlichen Gnade, der sich opfernden Hingabe Jesu Christi für die Sünder. Nach Paulus Röm 3,27 wird man so nicht durch „Werke des Gesetzes“, sondern durch den Glauben an die Botschaft gerecht, dass Christus für uns gestorben und auferstanden ist. Die Sakramente bezeichnen die Rechtfertigungsgnade und vermitteln sie. Verschiedene Modelle rangen im Reformationsjahrhundert miteinander: Effektiv wird die Rechtfertigung genannt, wenn dadurch der Wille des Menschen tatsächlich verändert bzw. gut wird. Forensisch nennt man ein Rechtfertigungsverständnis, bei dem der Mensch Sünder bleibt, aber von Gott als Richter diese Sünde nicht angerechnet bekommt. Wurde die Lehre von der doppelten Gerechtigkeit vertreten, so war gemeint, dass die erste Rechtfertigung durch Sakrament und Glaube den Menschen noch nicht völlig gut macht. Er müsse in seinen Werken Christus nachfolgen, was nie völlig gelinge, so dass er im Gericht nach seinem Tod noch einmal auf die rechtfertigende Barmherzigkeit angewiesen ist.

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