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Vorspiel Die Welt im Krieg
ОглавлениеEines Tages im Jahre 1570, am Ende des dritten Hugenottenkrieges (1562–1598), befanden sich die Truppen des Königs an einer Stelle, wo sie die Loire überqueren mussten, am Pont-de-Cé in der Nähe von Angers. Der Marsch über die Brücke ging nur schleppend voran, vor allem wegen der über 800 Frauen, die den Tross begleiteten. Bereits zuvor hatte Piero Strozzi, einer der führenden Generäle jener Zeit, angeordnet, dass man sich von den Frauen trenne; jetzt war er mit einem Mal so ungeduldig und wütend, dass er befahl, sie von der Brücke aus ins Wasser zu werfen.
Wie die nun folgenden Szenen aussahen, mögen wir uns kaum vorstellen – Panik, Geschrei, Gerangel und Gewalt. Man gehorchte Strozzi, und die Frauen ertranken. Pierre de Bourdeille berichtet von diesem Vorfall, und dabei bezeichnet er die Frauen als „Schlampen und Huren“ („garces et putains“). Mag sein, dass unter ihnen Prostituierte waren, aber zumindest einige waren sicherlich (wie es damals üblich war) die Gefährtinnen oder Konkubinen von Soldaten. Allerdings war es ein Moment der Krise, und auch wenn Strozzis Lösung die Truppen an die Grenze einer Meuterei brachte, gelang es seinen Offizieren, die aufbrandende Aufregung zu kontrollieren. Er hatte Glück, es hätte durchaus passieren können, dass seine kleine Armee Amok gelaufen wäre – und der General wäre der Leidtragende gewesen.
Im Europa der Frühen Neuzeit war es durchaus üblich, dass Frauen in Kriegszeiten die Heereszüge begleiteten. Dennoch erwähnen die meisten Berichte über die Bürgerkriege diese Tatsache kaum. Dort geht es eher um die politischen Gruppierungen bei Hofe und die führende Rolle der Edelleute in den Reihen der protestantischen Rebellen.
Auch Hungersnöte führten mitunter zu erschreckenden Szenen, und der folgende Vorfall ist – genau wie der eben beschriebene – ziemlich erhellend, was die Art und Weise betrifft, wie wir (Kriegs-)Geschichte schreiben.
Im Winter 1630/31 erwischten Untertanen des Herzogs von Mantua in der Nähe ihres Dorfes ein paar versprengte Soldaten. Es heißt, sie hätten die Männer bei lebendigem Leib gehäutet, sie über dem Feuer gebraten und dann aufgegessen.
Hinter Ereignissen wie diesem, die zweifellos zu einem „Sittengemälde“ des Dreißigjährigen Krieges (1618–1648) gehören, steckt meist eine längere und weiter ausgreifende Geschichte – so auch hier. Hochwasser und Unwetter hatten die Landwirtschaft in der Lombardei fast zwei Jahre lang zum Erliegen gebracht. In der ganzen Po-Ebene herrschte eine schwere Hungersnot. Im September 1629, wenige Monate vor dem grausigen Vorfall, waren 36.000 deutsche Soldaten in Italien einmarschiert, um Mantua einzunehmen. Zwei blutige Angriffe auf die Stadt konnte man zurückschlagen, und Ende Dezember endete die Belagerung. In der Zwischenzeit jedoch hatten die Soldaten sämtliche Felder verwüstet, sich die ohnehin mageren Nahrungsmittelvorräte angeeignet, Häuser in Brand gesetzt und die Bauern als Lasttiere missbraucht, sie vor die Karren mit ihrem Gepäck gespannt und mit Peitschenhieben angetrieben.
Als den Dorfbewohnern nun diese demobilisierten Soldaten in die Hände fielen, war ihr Verhalten zu gleichen Teilen von Zorn und Hunger geprägt. Das Häuten, Braten und Verspeisen wurde zu einem Akt nahrhafter Rache.
Eine Schlussfolgerung kann man hier bereits treffen. Wenn Kriegsgeschichte nur aus der Sicht der Diplomatie und der hohen Politik geschrieben wird, tauchen Vorfälle wie die am Pont-de-Cé und auf dem Lande bei Mantua gar nicht erst auf. Den Herrschern und ihren Ministern ging es bei der Staatslenkung im Europa der Frühen Neuzeit nie um die „kleinen Leute“ wie Marketender, Bauern, die städtischen Unterschichten oder einfachen Bürger.
In der historischen Kriegsanalyse, die von diplomatisch-außenpolitischer „Vernunft“ und Praxis geprägt ist, behandelt man den Krieg als eine ganz rationale, ja geradezu normale Tätigkeit. Historiker, die den Krieg auf diese Weise behandeln, rücken allzu nah an die herrschenden Eliten der Vergangenheit heran. Es gab durchaus auch andere Stimmen, andere Zeugnisse, und daher muss es auch andere Möglichkeiten geben, Kriegsgeschichte zu erzählen.
Auf dem ganzen Kontinent rekrutierte man professionelle Söldnerarmeen, und das erste Kapitel – „Ein Kriegsmosaik“ – zeigt, dass sich die Völker Europas in der Zeit zwischen 1450 und 1700 tendenziell bunt durchmischten, wenn man in den Krieg zog: Im 15. Jahrhundert heuerte man in Polen deutsche, spanische, böhmische, ungarische und schottische Soldaten an. Später kämpften Schweden im Großfürstentum Moskau gegen irische, englische, schottische, französische und deutsche Truppen. Aus Kroaten, Deutschen, Wallonen, Albanern und vor allem Schweizern bestehende Einheiten dienten in diversen französischen Armeen. In den Niederlanden kämpften Italiener und Spanier Seite an Seite mit Iren, Deutschen, Dalmatinern und Wallonen. Regimenter der Schweizer Pikeniere kämpften für Spanien, Frankreich und Venedig sowie für deutsche und für italienische Fürsten. Ganze Kompanien aus Polen, Ungarn und Kroatien kämpften in deutschen Regimentern. Und was die großen Heerführer jener Zeit betrifft, so machten sich mehrere italienische Generäle wie Piccolomini, Montecuccoli und Colloredo ausgerechnet an der Spitze deutscher Reichsheere einen Namen. Der berüchtigte sacco di Roma von 1527 war das Werk von Deutschen, Spaniern und Italienern.
Als im November 1494 zehntausend Söldner in Florenz einzogen, schauten die Florentiner in Gesichter aus aller Herren Länder. Sie sprachen von ihnen als „Barbaren“, dabei gab es auch Italiener neben den Schweizern, Dalmatinern, Schotten und anderen, die dort zusammen unter dem Banner des Königs von Frankreich marschierten.
Doch Europa vereinte in Kriegszeiten noch mehr als diese multiethnischen Heere. Es waren die gemeinsamen Wurzeln in der asketischen Tradition des mittelalterlichen Christentums – einer Tradition beziehungsweise Kultur, die die Bestrafung des Fleisches feierte, nicht nur in der Selbstgeißelung (als Buße) und in Bruderschaften, die dem extremen Fasten anhingen, sondern auch in den mit Botschaften überfrachteten Bildern und Ikonen der blutenden, gemarterten Heiligen. Die finstere Kehrseite dieser Darstellung stoisch leidender Märtyrer war, dass nunmehr die Folter um sich griff, die amtlich sanktionierte Gewalt gegen Personen. Immer mehr Ortsbehörden wandten die Folter als Möglichkeit der Schuldfeststellung an, und ab Mitte des 13. Jahrhunderts kam sie überall in Europa vor. Daneben verhängte man Strafen wie Brandmarken, das Abhacken von Gliedmaßen, verschiedene Formen der Gesichtsverstümmelung, Verbrennen und als öffentliches Spektakel inszenierte Hinrichtungen. Wenn Schmerzen für diejenigen, die sich geißelten (die ja gute Menschen waren), etwas Positives waren, dann waren sie für schlechte Menschen noch besser, und vielleicht halfen sie ihnen ja sogar dabei, zu guten Menschen zu werden.
Im Lichte der Entscheidung des Vierten Laterankonzils von 1215, dass ein jeder Christ mindestens einmal im Jahr vor einem Priester beichten musste, war ein durch Folter erpresstes Geständnis bei einem Kapitalverbrechen eigentlich gar nicht so weit von diesem Ritual der Gewissensreinigung entfernt.
Daraus folgte, dass man auch einen Krieg leicht als Strafe für irgendwelche Sünden ansehen konnte. Priester wiesen in Kriegszeiten nur allzu gern darauf hin. Ein Krieg war Wasser auf ihre Mühlen. Und auch der große Martin Luther stellte sich mit all seiner Autorität hinter diese Sichtweise. Währenddessen lernte das Europa der Renaissance immer neue Formen von Blutlust und Gemetzel kennen, sozusagen als legitime Erben der Folter. Durch ihr Handeln gaben Fürsten und Staatsmänner der Annahme Ausdruck, der Krieg sei der natürlichste Anlass auf der Welt zur Entfaltung nachgerade barbarischer Machenschaften.
Ab den frühen 1520er-Jahren entzweite die protestantische Reformation das Christentum und ließ so wiederum ganz neue Gründe für Kriege entstehen. Allerdings war man bereits im Spätmittelalter der Häresie mit erbarmungslosen Militäraktionen begegnet, zum Beispiel gegen die Katharer im frühen 13. Jahrhundert und gegen die böhmischen Hussiten der 1420er- und 1430er-Jahre.
Ab den 1520er-Jahren bis Mitte des 17. Jahrhunderts rangen Protestanten und Katholiken um Fragen der christlichen Lehre, und viele von ihnen stellten fest, dass sie mit einem viel besseren Gewissen töten konnten, wenn sie für Gott töteten. Nahm man im Zuge religiöser Streitigkeiten eine Stadt ein, dann wurden oftmals die Kirchenglocken zerstört, als Beute mitgenommen und verkauft oder den treffsichersten Schützen ausgehändigt. Dahinter steckte der Gedanke, dass die Glocken so fortan die Dorfbewohner nicht mehr zu einem gottlosen Gottesdienst herbeirufen konnten.
Doch die anhaltende Ursache der Gräueltaten im Krieg war weder religiöser Eifer noch die grotesk verzerrte Botschaft von der asketischen Selbstkasteiung. Es war der körperliche und geistige Zustand der einfachen Soldaten. Sie bekamen oft eben keinen Sold und mussten hungern, weil diejenigen, die sie ins Feld geschickt und ihnen versprochen hatten, ihnen genug zu zahlen, um sich zu ernähren, dies einfach nicht taten. Und sie wurden nicht einmal in Naturalien bezahlt. Das Ergebnis: Die Armeen der Fürsten konnten sich in einen wütenden Heerhaufen verwandeln, und in diese üble Stimmung stimmten dann zumeist auch die adligen Offiziere mit ein. Ihren Frust ließen sie an der umliegenden Bevölkerung aus.
Mit der Frage des Solds hing das Problem der Versorgung militärischer Stützpunkte zusammen – kurz: die Logistik.
Dies bedeutete in erster Linie die Verfügbarkeit von Brot oder Zwieback, Rationen von Fleisch oder Fisch, Bier, Wein sowie etwas anderes, ganz Entscheidendes: Futter für die Pferde und Lasttiere. Doch konnte man sich all das verschaffen, nur indem man Geld hinblätterte? Eine Armee von 20.000 Mann überstieg zahlenmäßig die Bevölkerung der meisten europäischen Städte; und wenn eine Horde von Soldaten zusammen mit 10.000 bis 15.000 Pferden auf einem Feldzug durch die Landschaft marschierte, dann verbrauchte sie durchaus binnen weniger Tage alles, was sie in den Dörfern im Umkreis von mehreren Meilen an Lebens- und Futtermitteln finden konnte. Eine solche Armee konnte nicht an einem Ort verweilen; sie musste immer weiterziehen und neue Quellen für ihre Vorräte auftun.
Was die Bevorratung betrifft, so wird Kapitel 6 zeigen, welches atemberaubende Ausmaß die logistischen Probleme annahmen, wenn es um Versorgungsdepots ging oder darum, wie die Armeen ihre eigenen Lebensmittel und ihr Tierfutter mit sich führen konnten. Kolonnen von 15.000 bis 20.000 Fußsoldaten und Kavalleristen erzeugten so große Probleme im Transport und in der Lebensmittelversorgung, dass sich ihre Kriegsherren bald neue Strategien überlegen mussten. Das Ergebnis veränderte ein für allemal die Anatomie der aufstrebenden Nationalstaaten.
Entweder wandten sich die Herrscher einer realistischeren Politik zu und hörten auf, derart riesige Armeen auszuheben, oder aber die Entwicklung ihrer Staaten wurde bald durch beispiellose Ausbrüche von Gewalt und Brutalität geprägt. Zurück blieb eine Spur von Angst, Schrecken und viel vergossenem Blut.
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Nicht ganz Europa litt unter den Armeen. Selbst als der Dreißigjährige Krieg Deutschland verwüstete, entgingen große Teile des Landes der Raserei der Soldaten. Der Krieg spielte sich zumeist in den am dichtesten bevölkerten Regionen des Kontinents ab – in den Flusstälern, den Städten und den besonders fruchtbaren Gegenden. Hier konnten sich die Armeen leichter mit Vorräten, Unterkünften und Kriegsbeute versorgen.
Kommen wir zur Frage des „totalen Kriegs“. Denn diese Art der Kriegführung war sicherlich keine Erfindung des 20. Jahrhunderts.
Gewalt gegen die Zivilbevölkerung war bereits in den Kriegen des Spätmittelalters an der Tagesordnung. Aber seit dem Aufkommen von Feuerwaffen um 1500 nahm man bis zum Horizont restlos alles ins Visier: Städte, Dörfer, die Landschaft, Kirchen, Vieh. Ganze Ladungen explosiver Geschosse wurden in die befestigten Innenstädte gefeuert. Die Technologie der Schutzmauern um die Städte herum bedurfte dringend einer Erneuerung. Krieg war nie eine saubere Angelegenheit gewesen, hatte sich nie auf Schlachten zwischen Armeen beschränkt. Die Belagerung von Städten oder Gemeinden gefährdete das Leben aller Menschen in einem Umkreis von dreißig bis vierzig Kilometern.
Das Europa der Frühen Neuzeit war auch in anderer Hinsicht eine Bühne für den „totalen Krieg“. Wenn Staaten Krieg führten, dann bedeutete das, wie wir sehen werden, dass sie ihre kompletten finanziellen Ressourcen in Armeen und Waffen investierten.