Читать книгу Kindheit, Knabenalter, Jünglingsjahre - Лев Толстой, Leo Tolstoy, Liev N. Tolstói - Страница 19
Natalia Ssawischna
ОглавлениеUm die Mitte des vorigen Jahrhunderts lief im Dorfe Chabarowka in zerrissenem Kleide ein barfüßiges, lustiges, rundliches und rotbäckiges Mädel umher: Nataschka. Um die Verdienste ihres Vaters, des Klarinettisten Sawwa, zu belohnen, erfüllte mein Großvater dessen Bitte und nahm das Mädchen ins Herrschaftshaus, wo es den weiblichen Dienstboten meiner Großmutter zugezählt wurde. Als Stubenmädchen zeichnete Nataschka sich durch Sanftmut und Pflichteifer aus, und als meine Mutter zur Welt kam und eine Wärterin notwendig wurde, wählte man Nataschka dazu. Auch auf dem neuen Schauplatz ihrer Tätigkeit erntete sie Lob und Belohnung für ihren Fleiß, ihre Treue und ihre Anhänglichkeit an die junge Herrin. Doch die gepuderten Locken und die Schnallenschuhe des jungen, schneidigen Dieners Foka, der dienstlich oft mit Natalia zu tun hatte, nahmen ihr zwar raues, aber hartes Herz gefangen. Sie entschloß sich sogar, selbst zu meinem Großvater zu gehen und ihn um die Erlaubnis zu bitten, Foka heiraten zu dürfen. Mein Großvater legte diese Bitte als Undankbarkeit aus, geriet in Zorn und verbannte die arme Natalia zur Strafe auf den Viehhof eines Steppengutes. Jedoch nach sechs Monaten wurde sie – da sie durch niemand ersetzt werden konnte – ins Herrschaftshaus zurückgeholt und wieder in ihr früheres Amt eingesetzt. Aus der Verbannung zurückgekehrt, erschien sie im groben Zwillichkittel vor meinem Großvater, fiel ihm zu Füßen und bat ihn, er möge ihr seine Gnade nicht länger entziehen und die Torheit vergessen, die sie überfallen hatte, aber – wie sie unter Schwüren beteuerte – nie wiederkehren werde. Und in der Tat, sie hielt Wort.
Von der Zeit an wurde sie nicht mehr Nataschka, sondern Natalia Sawischna genannt und trug ein Häubchen; den ganzen Vorrat an Liebe aber, der sich in ihr barg, schenkte sie nun ihrem kleinen Fräulein.
Als sie bei meiner Mutter durch eine Gouvernante abgelöst wurde, vertraute man ihr die Schlüssel zur Vorratskammer, die Wäsche und überhaupt alle Vorräte an. Auch diese neuen Pflichten erfüllte sie mit Eifer und Hingabe. Sie sorgte nur noch für Hab und Gut ihrer Herrschaft, sah überall Verschwendung, Missbrauch und Veruntreuung und bemühte sich aus aller Kraft, dagegenzuwirken.
Als Maman heiratete, wollte sie Natalia Sawischna auf irgend eine Weise für ihre zwanzigjährigen treuen Dienste belohnen; sie rief sie zu sich und übergab ihr – nachdem sie in den schmeichelhaftesten Worten all ihre Dankbarkeit und Zuneigung ausgedrückt hatte – einen Stempelbogen, der Natalias Freilassung verkündete, und sagte ihr zugleich, daß sie – ganz einerlei, ob sie in unserer Familie weiterdienen wolle oder nicht – bis an ihr Ende eine jährliche Pension von dreihundert Rubeln erhalten werde. Natalia hörte das alles schweigend an, nahm das Papier, blickte es zornig an, murmelte etwas zwischen den Zähnen und lief aus dem Zimmer, die Tür hinter sich zuschlagend. Da Maman den Grund dieses seltsamen Benehmens nicht herausfinden konnte, begab sie sich nach einer kleinen Weile in Natalias Zimmer. Diese saß mit verweinten Augen auf ihrem Koffer, zupfte und zerrte an ihrem Taschentuche und starrte auf die zu ihren Füßen verstreuten Fetzen des zerrissenen Freibriefes.
»Was haben. Sie denn nur, Herzchen, Natalia Sawischna?« fragte Maman, sie bei der Hand fassend.
»Nichts, Herrin«, antwortete Natalia, »ich bin Ihnen wahrscheinlich irgendwie zuwider, daß Sie mich vom Hofe jagen. – Gut, ich werd' halt gehen!«
Sie machte ihre Hand frei und wollte, mühsam die Tränen verhaltend, das Zimmer verlassen, Maman hielt sie zurück, schloß sie in die Arme, und beide brachen in Tränen aus.
Solange ich mich meiner selbst erinnere, kenne ich Natalia Sawischna, ihre Liebe und Zärtlichkeit; aber erst jetzt verstehe ich sie zu würdigen, – damals kam es mir nicht zum Bewusstsein, welch ein seltenes, prächtiges Menschenkind diese Alte war. Sie sprach nicht nur niemals von sich selbst, – sie dachte auch nicht an sich, glaube ich: ihr ganzes Leben war Liebe und Selbstverleugnung. Ich war so gewöhnt an ihre uneigennützige, zärtliche Liebe zu uns, daß ich es mir gar nicht anders vorstellen konnte, gar keine Dankbarkeit gegen sie empfand und mir niemals die Frage vorlegte: ob sie wohl auch glücklich und mit ihrem Lose zufrieden ist?
Zuweilen lief ich unter dem Vorwand eines dringenden Bedürfnisses aus der Unterrichtsstunde fort und in ihr Zimmer, setzte mich behaglich zurecht und begann laut zu träumen und Luftschlösser zu bauen, ohne mich im geringsten durch ihre Anwesenheit stören zu lassen. Sie war immer mit irgend etwas beschäftigt: entweder strickte sie einen Strumpf, oder sie kramte in den Koffern, mit denen ihr Zimmer vollgestellt war, oder sie zählte und notierte die Wäsche, und dabei hörte sie auf jeden Unsinn, den ich schwatzte, wie zum Beispiel: »Wenn ich General sein werde, heirate ich eine wunderschöne Frau und kauf' mir ein schönes Pferd – einen Fuchs; dann bau' ich mir ein Haus aus lauter Glas und lasse die Verwandten von Karl Iwanowitsch aus Sachsen kommen« und so weiter. Sie sagte zu allem dann nur: »Ja, mein Herzensjunge, ja!« Wenn ich aufstand, um fortzugehen, öffnete sie gewöhnlich einen himmelblau angestrichenen Koffer, dessen Deckel auf der Innenseite – ich weiß es noch, als sähe ich's heute! – mit dem bunten Bilde irgend eines Husaren, der Etikette einer Pomadenbüchse und einer Zeichnung von Wolodja beklebt war, holte ein Stückchen Räucherholz hervor, zündete es an, schwenkte es hin und her und sprach:
»Weihrauch ist's, mein Liebling. Als euer seliger Großvater – Gott schenke ihm die ewige Ruhe! – gegen die Türken zog, brachte er's von dort mit. Nur dies eine Stückchen ist mir noch geblieben«, setzte sie seufzend hinzu.
Die Koffer, die in ihrem Zimmer standen, enthielten einfach alles. Wenn etwas im Hause gebraucht wurde, einerlei was es war, so hieß es: »Man muß Natalia Sawischna fragen!« Und tatsächlich: nach einigem Kramen fand sie das Gewünschte und pflegte dann zu sagen: »Es ist doch gut, daß ich's aufgehoben hab'.« In diesen Koffern gab es tausenderlei Dinge, um die kein Mensch im Hause außer ihr selbst wußte und um die sich niemand kümmerte.
Einmal war ich sehr böse auf sie. Das kam so: als ich mir beim Mittagessen Kwas einschenken wollte, ließ ich die Karaffe fallen und begoß das Tischtuch.
»Ruft doch Natalia Sawischna, damit sie sich über ihren Liebling freue!« sagte Maman.
Natalia Sawischna kam herein und schüttelte den Kopf beim Anblick der von mir angerichteten Überschwemmung; Maman sagte ihr etwas ins Ohr, und sie ging – mir mit dem Finger drohend – hinaus.
Nach dem Mittagessen hüpfte ich in lustigster Stimmung in den Saal, als plötzlich Natalia Sawischna hinter der Tür hervorsprang, mich einfing und trotz meines verzweifelten Widerstandes mit dem nassen Tischtuch mein Gesicht zu reiben begann, wobei sie sprach: »Mach keine Tischtücher schmutzig! Mach keine Tischtücher schmutzig!« Ich fühlte mich dadurch so beleidigt, daß ich vor Wut brüllte.
»Wie!« sagte ich mir, im Saale auf und ab gehend und laut schluchzend. »Natalia Sawischna, eine einfache ›Natalia‹, sagt zu mir du und schlägt mich noch dazu mit einem nassen Tischtuch ins Gesicht wie einen Dorfbengel! Nein, das ist entsetzlich!«
Als Natalia Sawischna sah, daß ich böse war, lief sie sofort davon, ich aber dachte – immer noch auf und nieder gehend – darüber nach, wie ich mich an der frechen »Natalia« für die mir zugefügte Beleidigung rächen könnte.
Nach einigen Minuten kam Natalia Sawischna wieder ins Zimmer, näherte sich mir schüchtern und begann mich zu trösten:
»Genug, mein Herzensväterchen, weinen Sie doch nicht! Verzeihen Sie mir dummen Person! Ich bin schuld, aber verzeihen Sie mir doch, mein Täubchen! Hier – nehmen Sie!«
Sie zog unter ihrem Tuch eine rote Papiertüte hervor, in welcher sich zwei Bonbons und eine Weinbeere befanden, und hielt sie mir mit zitternder Hand hin. Ich hatte nicht die Kraft, der guten Alten ins Gesicht zu sehen; halb abgewandt nahm ich das Geschenk entgegen, und meine Tränen flössen noch reichlicher, aber nicht mehr aus Zorn, sondern aus Liebe und Scham.