Читать книгу Kindheit, Knabenalter, Jünglingsjahre - Лев Толстой, Leo Tolstoy, Liev N. Tolstói - Страница 20

Die Trennung

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Am Tage nach den geschilderten Jagderlebnissen standen um zwölf Uhr vormittags eine große Kalesche und ein offener Wagen vor der Freitreppe. Nikolaj war reisemäßig gekleidet, das heißt er hatte die Beinkleider in die Stiefelschäfte gesteckt und den alten Überrock ganz eng umgürtet. Er stand in dem offenen Wagen und legte Mäntel und Polster auf dem Sitz zurecht; wenn ihm der Sitz zu hoch schien, setzte er sich auf die Polster und hüpfte auf und nieder, um sie niederzudrücken.

»Tun Sie mir doch den Gefallen, Nikolaj Dmitritsch, und nehmen Sie die Schatulle des gnädigen Herrn zu sich«, bat atemlos Papas Kammerdiener, indem er den Kopf aus der Kalesche hervorsteckte; »sie ist klein.«

»Hätten Sie das früher gesagt, Michej Iwanowitsch«, erwiderte Nikolaj hastig und ärgerlich, indem er mit aller Kraft ein Bündel auf den Boden des Wagens warf. »Bei Gott, man weiß ohnedies nicht, wo einem der Kopf steht, und da kommen Sie noch mit Ihren Schatullen!« Er lüftete seine Mütze und wischte die Schweißtropfen von seiner sonnverbrannten Stirn.

Die Bauern des Hofes in kurzen und langen Röcken, in Hemdärmeln, ohne Mützen, Weiber in grobgestreiften Leinenkleidern und bunten Tüchern, ihre Kinder auf den Armen haltend, und bloßfüßige Jungen und Mädchen standen an der Veranda, schauten die Equipagen an und plauderten miteinander. Einer der Kutscher, ein etwas nach vorne gebeugter Alter mit Wintermütze und warmem Rock, hielt die Deichsel der Kalesche in der Hand, rüttelte an ihr und besah mit Kennermiene den Gang. Ein anderer, ein stattlicher, junger Bursche in weißem Hemd mit roten Verzierungen und schwarzem Filzhut, den er, in seinen blonden Locken wühlend, bald auf das eine, bald auf das andere Ohr schob, legte seinen Rock auf den Kutschbock, warf die Zügel darauf und schaute – mit der kurzen, geflochtenen Peitsche spielend – bald auf seine Stiefel, bald auf die Kutscher, welche den Wagen schmierten. Einer von diesen hielt mit aller Kraft den Hebebaum, der andere schmierte, über das Rad gebeugt, sorgfältig die Achse und die Nabe, und damit der übrigbleibende Teer nicht verderbe, schmierte er ihn sogar an die Außenseite der Räder. Die verschiedenfarbigen, struppigen Postpferde standen am Gitterzaun und wehrten mit ihren Schweifen die Fliegen ab. Die einen hatten ihre zottigen, dicken Füße vorgestellt und die Augen zugedrückt und schlummerten, die andern rieben sich aus Langeweile aneinander oder zupften an den Blättern und Stängeln des harten, dunkelgrünen Farnkrautes, welches neben der Veranda wuchs. Einige Windhunde lagen keuchend in der Sonne, während andere sich in den Schatten der Wagen geflüchtet hatten und den an den Achsen hervorgequollenen Talg wegleckten. Die Luft war von staubigem Dunst erfüllt; der Horizont von grauvioletter Farbe, aber kein Wölkchen stand am Himmel. Ein starker Westwind trieb große Staubwolken von den Feldern und der Straße, beugte die Wipfel der hohen Linden und Birken des Gartens und trug die gefallenen gelben Blätter weit fort. Ich saß am Fenster und erwartete mit Ungeduld das Ende aller Vorbereitungen.

Als alle im Salon um den runden Tisch versammelt waren, um ein letztes Mal einige Minuten zusammen zu verbringen, kam es mir gar nicht in den Sinn, welch ein schwerer Augenblick uns bevorstand. Die allerunbedeutendsten Gedanken zogen durch meinen Kopf. Ich legte mir Fragen vor, wie zum Beispiel: Welcher Kutscher wird den offenen Wagen lenken und welcher die Kalesche? Wer wird mit Papa fahren und wer mit Karl Iwanowitsch? Und warum will man mich auf jeden Fall in einen Schal und eine wattierte Überjacke einwickeln? Bin ich denn ein solcher Weichling? Ich werd' schon nicht erfrieren! Wenn doch nur schon alles beendet wäre! Aufsitzen und abfahren!

»Wem befehlen Sie die Liste der Kinderwäsche zu übergeben?« fragte die mit verweinten Augen und einem Zettel in der Hand ins Zimmer tretende Natalia Sawischna, indem sie sich an Maman wandte.

»Geben Sie sie Nikolaj und kommen Sie doch nachher sich von den Kindern verabschieden.«

Die Alte wollte etwas sagen, hielt jedoch plötzlich inne, bedeckte das Gesicht mit ihrem Taschentuch, machte eine traurige Handbewegung und verließ das Zimmer. Mein Herz zog sich zusammen, als ich diese Bewegung sah; aber die Ungeduld, endlich abzufahren, war stärker als dieses Gefühl, und ich hörte wieder völlig gleichgültig dem Gespräch zwischen Vater und Mutter zu. Sie sprachen von Dingen, welche – was sehr wohl zu merken war – keinen von beiden interessierten; was für das Haus einzukaufen sei, was man der Fürstin Sofie und Madame Julie sagen solle, und ob der Weg gut sein würde.

Foka trat ein, blieb auf der Schwelle stehen und sagte im selben Ton, in welchem er zu melden pflegte, daß angerichtet sei: »Die Pferde sind bereit.« Ich merkte, daß Maman zusammenzuckte und erbleichte, als käme ihr diese Meldung unerwartet.

Foka erhielt den Befehl, alle Türen im Zimmer zu schließen. Das amüsierte mich sehr, denn es war, als ob wir uns vor jemand versteckten.

Als alle ihre Plätze eingenommen hatten, setzte sich auch Foka auf eine Stuhlecke. Doch kaum hatte er dies getan, als die Tür knarrte und alle sich umblickten. Natalia Sawischna trat schnell ins Zimmer und drückte sich, ohne den Blick zu erheben, gleich bei der Tür auf denselben Stuhl, auf dem Foka saß. Wie heute sehe ich noch den Kahlkopf, das faltenreiche, unbewegliche Gesicht Fokas und die gebückte, gute, kleine Alte in der Haube, unter welcher die grauen Haare hervorsahen. Sie drücken sich auf dem Stuhl aneinander und fühlen sich beide geniert.

Ich war noch immer sorglos und ungeduldig. Die zehn Sekunden, welche wir so bei geschlossenen Türen dasaßen, erschienen mir wie eine ganze Stunde. Endlich erhoben sich alle, bekreuzigten sich und begannen Abschied zu nehmen. Papa umarmte Maman und küßte sie mehrmals.

»Sei ruhig, Schatz«, sagte er, »wir trennen uns doch nicht für die Ewigkeit.«

»Schwer ist es doch«, sprach Maman mit tränenerstickter Stimme.

Als ich diese Stimme hörte und Mütterchens zitternde Lippen und mit Tränen gefüllte Augen sah, vergaß ich alles und mir wurde so traurig, weh und bang zumute, daß ich lieber davongelaufen wäre, anstatt von ihr Abschied zu nehmen. Ich verstand in diesem Augenblick, daß sie, indem sie Papa umarmte, auch von uns Abschied nahm.

Sie küßte und segnete Wolodja ein über das andere Mal; in der Meinung, daß sie sich jetzt zu mir wenden würde, schob ich mich vor, aber sie machte immer und immer wieder das Zeichen des Kreuzes über ihn und drückte ihn an ihr Herz. Endlich fiel ich ihr um den Hals, klammerte mich fest an sie und weinte, weinte, ohne an etwas anderes zu denken als an meinen Kummer.

Als wir auf die Wagen zuschritten, umdrängte uns im Vorzimmer das lästige Hofgesinde. Ihre Bitte: »Reichen Sie mir doch das Händchen!« ihre lauten Küsse auf die Schulter und der Talggeruch ihrer Haare erweckten in mir ein Gefühl, das an Widerwillen grenzte. Unter dem Einfluss dieses Gefühls küßte ich Natalia Sawischna äußerst kühl auf die Haube, als sie in Tränen zerfließend von mir Abschied nahm.

Es ist merkwürdig, daß ich noch jetzt alle Gesichter des Hofgesindes vor mir sehe und sie mit den kleinsten Einzelheiten zeichnen könnte, aber daß Mamans Gesicht und Stellung meinem Gedächtnisse vollkommen entschwunden sind. Vielleicht kommt das daher, daß ich während der ganzen Zeit nicht den Mut hatte, sie anzublicken; ich glaubte, wenn ich das täte, so würde ihr und mein Schmerz sich bis ins Unerträgliche steigern.

Ich stieg als erster in die Kalesche und machte mir's auf dem Rücksitz bequem. Des aufgeschlagenen Verdeckes wegen konnte ich nichts sehen, aber ein Instinkt sagte mir, daß Maman noch da war.

»Soll ich sie noch einmal anschauen oder nicht? – Gut, zum letzten Mal«, sagte ich zu mir selber, beugte mich aus der Kalesche und blickte zur Veranda hinüber. Gleichzeitig war Maman, die wohl denselben Gedanken gehabt hatte, von der entgegengesetzten Seite an die Kalesche herangetreten und rief mich nun bei Namen. Als ich ihre Stimme hinter mir hörte, wandte ich mich so schnell nach ihr um, daß wir mit den Köpfen zusammenstießen. Sie lächelte traurig und küßte mich fest und heiß zum letzten Mal.

Als wir ein kleines Stück gefahren waren, entschloß ich mich noch einmal nach ihr zu sehen. Das hellblaue Tüchlein, das sie um den Kopf geschlungen hatte, flatterte im Winde. Gesenkten Hauptes und die Hände vors Gesicht schlagend, ging sie langsam der Veranda zu; Foka stützte sie.

Papa saß schweigend neben mir. Ich schluchzte heftig und etwas schnürte mir die Kehle zu, daß ich zu ersticken fürchtete. – Als die Wagen auf die Landstraße einbogen, sahen wir ein weißes Tuch, mit welchem uns jemand vom Balkon aus nachwinkte. Ich antwortete mit meinem Tuch, und diese Bewegung beruhigte mich ein wenig. Ich fuhr aber fort zu weinen, und der Gedanke, daß meine Tränen mein weiches Herz bekundeten, bereitete mir Trost und Vergnügen.

Nachdem wir etwa eine Werst gefahren waren, wurde ich etwas ruhiger und blickte aufmerksam auf das, was meinen Augen am nächsten war: den Hinterteil des einen Seitenpferdes. Ich schaute zu, wie dieser Schecke mit dem Schweife schlug, wie er den einen Fuß am andern streifte, wie die geflochtene Peitsche des Kutschers auf ihm tanzte und wie dann seine Beine gleichzeitig zu springen begannen, ich sah das Geschirr und die Ringe daran auf dem Pferde hin und her hüpfen und blickte so lange hin, bis sich das Lederzeug am Schweife mit Schaum bedeckte. Ich begann um mich zu schauen: auf die Felder mit wogendem, reifem Roggen, auf das dunkle Brachfeld, auf welchem hier und da ein pflügender Bauer oder eine Stute mit ihrem Füllen sichtbar wurden, auf die Meilenzeiger und auch auf den Kutschbock, um mich zu vergewissern, welcher Kutscher mit uns fahre. Mein Gesicht war noch nicht von Tränen trocken, als meine Gedanken schon weit von der Mutter waren, die ich vielleicht auf immer verlassen hatte; aber jede Erinnerung lenkte meine Gedanken zu ihr zurück. Ich erinnerte mich des Pilzes, den ich tags zuvor in der Birkenallee gefunden hatte, ich erinnerte mich, wie Ljubotschka und Katjenka gestritten hatten, wer in brechen sollte; ich dachte daran, wie sie beim Abschied geweint hatten.

»Es tut mir leid um sie und um Natalia Sawischna und um die Birkenallee und um Foka; und sogar um die böse Mimi, ja selbst um die ist's mir leid. Um alle, alle! Ach und die arme Maman!« Und die Tränen traten mir wieder in die Augen, aber nicht für lange.

Kindheit, Knabenalter, Jünglingsjahre

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