Читать книгу Kindheit, Knabenalter, Jünglingsjahre - Лев Толстой, Leo Tolstoy, Liev N. Tolstói - Страница 25

Die Iwins

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Wolodja, Wolodja! Die Iwins!« schrie ich, durch das Fenster drei Knaben in blauen Pelzröcken mit Biberkragen erblickend, welche mit einem jungen, stutzerhaften Hofmeister vom gegenüberliegenden Trottoir auf unser Haus zukamen.

Die Iwins waren mit uns verwandt und fast genau im selben Alter; bald nach unserer Ankunft in Moskau waren wir mit ihnen bekannt geworden und hatten Freundschaft geschlossen.

Der zweite Iwin – Sserjoscha – war ein brünetter, lockenköpfiger Knabe mit energischem Stumpfnäschen, sehr frischen, roten Lippen, die meist die obere, etwas vorstehende Reihe weißer Zähne sehen ließen, mit dunkelblauen, wunderschönen Augen und ungewöhnlich lebhaftem Gesichtsausdruck. Er lächelte nie, sondern sah entweder ganz ernst aus oder lachte sein helles, klares und unwiderstehliches Lachen. Seine eigenartige Schönheit fesselte mich vom ersten Augenblick an. Ich fühlte mich unwiderstehlich zu ihm hingezogen. Ihn sehen genügte, um mich glücklich zu machen, und eine Zeitlang konzentrierten sich alle meine Seelenkräfte in diesem einen Wunsche; wenn ich drei oder vier Tage verleben mußte, ohne ihn zu sehen, langweilte ich mich oder mir wurde gar zum Weinen traurig ums Herz. Wachend und träumend dachte ich an ihn: wenn ich mich zu Bett legte, wünschte ich, von ihm zu träumen; wenn ich die Augen schloß, sah ich ihn vor mir und ergötzte mich an diesem Trugbild. Niemand auf der Welt hätte ich von diesem Gefühle erzählen mögen, so teuer war es mir. Vielleicht war es ihm lästig, die Blicke meiner unaufhörlich an seinem Gesichte hängenden Augen zu fühlen, oder vielleicht empfand er einfach keine Sympathie zu mir, jedenfalls spielte und unterhielt er sich viel lieber mit Wolodja als mit mir; ich war trotzdem zufrieden, wünschte nichts, forderte nichts und war bereit, alles für ihn zu opfern. Außer der leidenschaftlichen Zuneigung, die er mir einflößte, erweckte seine Gegenwart in mir noch ein anderes, nicht minder starkes Gefühl: die Angst, ihn zu betrüben, durch irgend etwas zu beleidigen, ihm zu mißfallen. Ich fürchtete ihn ebenso sehr, wie ich ihn liebte, vielleicht, weil sein Gesicht einen hochmütigen Ausdruck hatte, oder weil ich, mein häßliches Äußere verachtend, die Vorzüge der Schönheit an anderen zu hoch einschätzte, oder – was das Allerwahrscheinlichste ist – weil das ein unbedingtes Merkmal der Liebe ist. Als Sserjoscha mich zum erstenmal anredete, war ich so verwirrt durch das unerwartete Glück, daß ich bald blaß, bald rot wurde und ihm keine Antwort geben konnte. Er hatte die üble Gewohnheit, wenn er nachdachte, den Blick auf einen Punkt zu richten und unaufhörlich zu blinzeln, wobei er mit Nase und Augenbrauen zuckte. Man fand allgemein, daß diese Gewohnheit ihn entstellte, mir aber gefiel sie so sehr, daß ich mich unwillkürlich daran gewöhnte, es ebenso zu machen, und einige Tage, nachdem ich ihn kennen gelernt hatte, fragte Großmama, ob mich die Augen schmerzten, da ich blinzle wie eine Nachteule. Zwischen uns war nie ein zärtliches Wort gesprochen worden, doch er fühlte seine Macht über mich und nützte sie unbewußt, aber tyrannisch bei unserem kindlichen Verkehr aus; so gern ich ihm auch alles gesagt hätte, was ich auf dem Herzen hatte, so fürchtete ich ihn doch zu sehr, um mich zur Offenheit zu entschließen; ich bemühte mich, gleichgültig zu erscheinen, und unterwarf mich ihm ohne Murren. Zuweilen erschien mir sein Einfluß drückend, unerträglich, aber ich hatte nicht die Kraft, mich diesem Einfluss zu entziehen.

Es macht mich traurig, an dieses frische, schöne Gefühl uneigennütziger und unbegrenzter Zuneigung zurückzudenken, das dahinstarb, ohne sich zu offenbaren und ohne Erwiderung zu finden.

Merkwürdig: solange ich ein Knabe war, strebte ich darnach, einem Erwachsenen zu gleichen, und als ich aufhörte es zu sein, wünschte ich mir oft, so zu sein wie ein Kind. Wie oft hat dieser Wunsch, in meinem Verkehr mit Sserjoscha nicht wie ein Kind zu handeln, mich davon abgehalten, mein Gefühlsleben zu verraten, und mich gezwungen, zu heucheln! Nicht nur daß ich nicht wagte, ihm einen Kuss zu geben, ihn bei der Hand zu fassen und ihm zu sagen wie ich mich freute, ihn zu sehen, – ich wagte es auch nicht einmal, ihn Sserjoscha zu nennen, sondern sagte unbedingt Sergej, das war nun einmal bei uns so Sitte. Jede Gefühlsäußerung galt als Kinderei und als Beweis, daß derjenige, der sie sich erlaubte, noch ein kindischer Junge sei. Ohne die bitteren Erfahrungen durchgemacht zu haben, welche die Erwachsenen zur Vorsicht und Kälte in ihren gegenseitigen Beziehungen veranlassen, beraubten wir uns der reinen Freuden der zärtlichen kindlichen Zuneigung, nur in dem einen sonderbaren Bestreben, so zu sein wie »die Großen«,

Schon im Vorzimmer begrüßte ich die Iwins und stürzte dann kopfüber zu Großmama; ich meldete ihr die Ankunft der Iwins in einem Tone, als müsse diese Nachricht sie vollkommen glücklich machen. Dann folgte ich Sserjoscha, ohne den Blick von ihm zu wenden, in den Salon und beobachtete jede seiner Bewegungen. Als Großmama ihn mit ihren durchdringenden Blicken ansah und sagte, er sei sehr gewachsen, empfand ich ein Gefühl von Furcht und Hoffnung, wie es einen Künstler beschleichen muß, wenn er von einem hochangesehenen Richter ein Urteil über sein Werk erwartet.

Der junge Hofmeister der Iwins, Herr Frost, ging mit Großmamas Erlaubnis mit uns in das Vorgärtchen, setzte sich auf eine grüne Bank, schlug malerisch ein Bein über das andere, steckte seinen Spazierstock mit Bronzeknopf dazwischen und zündete sich mit der Haltung eines Menschen, der mit all seinen Handlungen ungemein zufrieden ist, eine Zigarre an.

Herr Frost war ein Deutscher, aber ein Deutscher von ganz anderer Art als unser guter Karl Iwanowitsch: erstens sprach er korrekt russisch und mit schlechter Aussprache französisch und stand im allgemeinen und besonders bei Damen im Rufe, ein sehr gelehrter Mann zu sein; zweitens trug er einen rötlichen Schnurrbart, eine große Busennadel mit einem Rubin in der schwarzen Atlasbinde, deren Enden unter den Hosenträgern durchgesteckt waren, und hellblaue Beinkleider mit Strippen; drittens war er jung, besaß ein hübsches, selbstzufriedenes Äußeres und ungewöhnlich kräftige, muskulöse Beine, – ein Vorzug, auf den er, wie man ihm wohl anmerken konnte, sehr stolz war: ob er stand oder saß, er bemühte sich stets, die Aufmerksamkeit auf seine Beine zu lenken. Er war der Typus eines jungen Deutschrussen, der ein flotter Bursche und Courschneider sein will.

Im Vorgärtchen ging es lustig zu. Das Räuberspiel war im besten Gang, aber ein Zwischenfall hätte beinahe alles gestört. Sserjoscha war Räuber; bei der Verfolgung der Reisenden stolperte er im vollen Lauf und stürzte mit solcher Gewalt mit dem Knie gegen einen Baum, daß ich dachte, sein Bein müsse zersplittern. Obgleich ich Gendarm war und somit die Pflicht hatte, ihn zu fangen, eilte ich zu ihm und fragte teilnehmend, ob er sich wehgetan habe. Sserjoscha ärgerte sich darüber; er ballte die Fäuste, stampfte mit dem Fuße und schrie mit einer Stimme, die deutlich verriet, daß er sich schmerzlich verletzt hatte:

»Was ist denn das? das ist doch gar kein Spiel mehr! Warum fängst du mich denn nicht? Warum fängst du mich denn nicht?« wiederholte er mehrmals, indem er Seitenblicke auf Wolodja und den älteren Iwin warf, welche die Reisenden darstellend, auf dem Wege umhersprangen. Plötzlich stieß er einen gellenden Schrei aus und stürzte laut lachend davon, sie zu fangen.

Ich kann gar nicht sagen, wie sehr mich dieses heldenhafte Benehmen in Erstaunen und Bewunderung versetzte; ungeachtet des heftigen Schmerzes hatte er nicht nur keine Tränen vergossen, sondern auch nicht einmal verraten, daß er sich wehgetan hatte, und keinen Augenblick das Spiel vergessen.

Bald darauf – nachdem Ilinka Grapp sich uns zugesellt hatte und wir in Erwartung des Mittagessens nach oben gegangen waren – hatte Sserjoscha Gelegenheit, mich durch seine bewundernswerte Männlichkeit und seine Charakterfestigkeit noch mehr zu entzücken.

Ilinka Grapp war der Sohn eines armen Ausländers, der in früheren Jahren im Hause meines Großvaters gelebt hatte, ihm für irgend etwas Dank schuldete und es jetzt für seine unabweisbare Pflicht hielt, uns sehr häufig seinen Sohn zu schicken. Wenn er vielleicht annahm, daß der Verkehr mit uns seinem Sohne irgend welche Ehren oder Genüsse verschaffte, so irrte er gründlich, denn wir behandelten Ilinka nicht nur keineswegs freundschaftlich, sondern wir beachteten ihn überhaupt nur dann, wenn wir uns über ihn lustig machen wollten. Ilinka Grapp war ein etwa dreizehnjähriger, langaufgeschossener, magerer und blasser Knabe mit einem Vogelgesichtchen und gutmütig unterwürfigem Ausdruck. Er war sehr ärmlich gekleidet, aber dafür immer so ausgiebig pomadisiert, daß wir behaupteten, an sonnigen Tagen zergehe die Pomade auf seinem Kopfe und fließe ihm hinter den Kragen. Wenn ich jetzt seiner gedenke, finde ich, daß er ein sehr gefälliger, stiller und guter Junge war; damals aber erschien er mir als ein ganz verächtliches Menschenkind, das keines Mitgefühls, ja überhaupt keines Gedankens wert sei.

Als das Räuberspiel zu Ende war und wir nach oben gegangen waren, begannen wir zu tollen und voreinander mit verschiedenen gymnastischen Kunststückchen zu prahlen. Ilinka sah uns mit einem schüchternen Lächeln der Bewunderung zu, und als wir ihm vorschlugen, es uns nachzutun, weigerte er sich und sagte, er habe gar keine Kraft. Sserjoscha war entzückend: er hatte sein Jackett abgeworfen, Gesicht und Augen glühten, er lachte unaufhörlich und erfand immer neue Späße: er sprang über drei nebeneinander gestellte Stühle, schlug Rad durch das ganze Zimmer, stellte sich auf den Kopf auf den Wörterbüchern von Tatischtschew, die er sich als Piedestal mitten im Zimmer aufgebaut hatte, und machte dabei mit den Beinen so komische Bewegungen, daß man sich unmöglich des Lachens enthalten konnte. Nach diesem letzten Kunststück wurde er nachdenklich, blinzelte mit den Augen, trat plötzlich mit ganz ernstem Gesicht an Ilinka heran und sagte:

»Versuchen Sie das zu machen, es ist wirklich nicht schwer!« Als Grapp bemerkte, daß die allgemeine Aufmerksamkeit sich ihm zuwandte, wurde er sehr rot und versicherte mit kaum hörbarer Stimme, daß er das auf keinen Fall zustande bringen könne.

»Ach was! wirklich, warum will er gar nichts zum besten geben? Er ist ja wie ein Mädchen! Er muß sich ganz unbedingt auf den Kopf stellen!«

Und Sserjoscha faßte Grapp bei der Hand.

»Unbedingt! Unbedingt! Kopf stehen!« schrieen wir alle und umringten Ilinka, der in dem Augenblick sichtlich erschrak und ganz blaß wurde; wir packten ihn an den Händen und zogen ihn zu den Wörterbüchern.

»Lassen Sie mich! Ich werde schon selbst! Sie zerreißen mir den Rock!« schrie das unglückliche Opfer. Aber diese Verzweiflungsschreie stachelten uns nur noch mehr an; wir wollten uns totlachen; das grüne Röckchen krachte in allen Nähten.

Wolodja und der älteste Iwin beugten ihm den Kopf hinab und drückten ihn auf die Wörterbücher; Sserjoscha und ich packten die dünnen, hin- und herschlenkernden Beine des armen Jungen, krempelten ihm die Hosen bis zu den Knien auf und richteten die Beine unter lautem Lachen empor; der jüngste Iwin hielt den ganzen Körper im Gleichgewicht.

Es geschah, daß wir nach dem lärmenden Lachen plötzlich alle verstummten, und im Zimmer wurde es still, daß man nur den schweren Atem des unglücklichen Grapp hörte. In jenem Moment war ich nicht so ganz davon überzeugt, daß all dieses sehr komisch und lustig sei.

»So! jetzt ist er ein flotter Kerl!« sagte Sserjoscha, Ilinka mit der flachen Hand einen Schlag versetzend. Ilinka schwieg und schlug mit den Beinen nach allen Seiten aus, um sich freizumachen. Bei einer dieser verzweifelten Bewegungen traf er mit dem Stiefelabsatz Serjoschas Auge so heftig, daß Sserjoscha sofort seine Beine fahren ließ, sich mit der Hand das Auge bedeckte, aus dem unfreiwillige Tränen quollen, und Ilinka aus Leibeskräften einen Stoß gab. Da Ilinka nun nicht mehr von uns gestützt wurde, fiel er zu Boden wie ein lebloser Gegenstand und konnte nur unter Tränen fragen:

»Warum tyrannisiert ihr mich?«

Die jämmerliche Figur des armen Jungen mit dem verweinten Gesicht, dem zerzausten Haar und den aufgekrempelten Hosen, unter welchen die ungeputzten Stiefelschäfte hervorsahen, machte uns stutzig; wir alle schwiegen und zwangen uns zu einem Lächeln. Sserjoscha war der erste, der sich faßte.

»So ein altes Weib! so ein Heulpeter!« sagte er, Ilinka leicht mit dem Fuße berührend, »der versteht ja gar keinen Spaß! Na, genug, – stehen Sie nur auf!«

»Ich sage dir, daß du ein nichtsnutziger Bengel bist!« erwiderte Ilinka voller Wut, wandte sich ab und begann laut zu schluchzen.

»Ach so! mit den Absätzen um sich schlagen und dann noch schimpfen!« schrie Sserjoscha, ergriff ein Wörterbuch und schwang es gegen den Kopf des Unglücklichen, der nicht einmal daran dachte, sich zu wehren, und nur seinen Kopf mit den Händen bedeckte.

»Da hast du eins! Da – und da! – Lassen wir ihn, wenn er keinen Spaß versteht! Gehen wir hinunter!« rief Sserjoscha, in unnatürliches Lachen ausbrechend.

Ich blickte voller Teilnahme auf den armen Jungen, der, auf dem Boden liegend und das Gesicht in den Blättern des Wörterbuches verbergend, so heftig weinte, daß es schien, als müsse er vergehen vor Schluchzen, das krampfartig seinen ganzen Körper erschütterte.

»Ach, Sergej«, sagte ich, »warum hast du das getan?«

»Na, das ist gut!« rief er, »ich hab' nicht geweint, glaube ich, als ich mir heute das Bein fast bis auf den Knochen zerschlug!«

»Ja, das ist wahr«, dachte ich, »Ilinka ist wirklich nur ein Heulpeter, aber Sserjoscha – ja, das ist ein Kerl! Was für ein Prachtkerl!«

Ich begriff damals nicht, daß der Ärmste wohl weniger über den körperlichen Schmerz so weinte, als darüber, daß fünf Knaben, die er vielleicht gern hatte, sich ohne jeden Grund zusammentaten, um ihn zu hassen und zu peinigen.

Ich kann mir die Grausamkeit meines damaligen Verhaltens absolut nicht erklären. Warum ging ich nicht zu ihm hin, warum verteidigte und tröstete ich ihn nicht? Wo war das Mitleid geblieben, das mir manchmal heiße Tränen entlockte, wenn ich eine aus dem Nest gefallene Dohle sah, oder ein Hündchen, das man hinter den Zaun geworfen, oder ein Huhn, das der Küchenjunge schlachten sollte?

War dieses schöne Gefühl in mir ganz erstickt durch meine Liebe zu Sserjoscha und den Wunsch, mich als ein ebensolcher »Prachtkerl« zu zeigen, wie er einer war? Ich war wegen dieser Liebe und dieses Wunsches nicht zu beneiden: sie bilden die einzigen dunklen Flecken auf den Blättern meiner Kindheitserinnerungen.

Kindheit, Knabenalter, Jünglingsjahre

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