Читать книгу Die Staatsanwältin - Lisa Scott - Страница 11
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ОглавлениеDas William Green Federal Building war ein modernes Gebäude aus roten Ziegeln genau im Winkel zwischen Sixth und Arch Street neben dem Gerichtsgebäude im Zentrum eines neuen Gerichtskomplexes, den Vicki als juristisches Shopping-Center bezeichnete. Als Armani-Boutique fungierte das Verfassungsgebäude, ein glitzernder Schrein zum Verkauf der menschlichen Grundrechte, und der Billigjeansladen war das Bundes-Untersuchungsgefängnis, ein grauer Allerweltsbau mit horizontalen Fensterschlitzen. Um ein Haar wäre das Gefängnis nicht gebaut worden, weil niemand wollte, dass die Käufer – äh, Touristen – daran erinnert wurden, dass die Stadt der brüderlichen Liebe auch die Stadt der brüderlichen Raubüberfälle und Waffendelikte war. Schließlich wurde es aber doch genehmigt, unter der Bedingung, dass ein geheimer Tunnel zwischen Gefängnis und Federal Building verlief, der verhinderte, dass die Käufer irgendetwas vom Transport der Gefangenen mitbekamen. Durch diesen Tunnel gelangte die Untersuchungsgefangene Reheema Bristow an diesem Morgen unter Bewachung zum Gerichtsgebäude.
Vicki saß wartend in einem Plastikschalensessel in einem Aussageraum des besonders gesicherten vierten Stocks des Gebäudes. Aussageräume waren Räume, in denen Beschuldigte Aussagen machten, und zwar meist Aussagen, die später nicht in den Akten erschienen, im Austausch für eine mildere Strafe oder für Straffreiheit. Dieser Aussageraum unterschied sich in nichts von allen anderen: ein weißer Kasten, fensterlos und muffig, mit einem braunen Resopaltisch und ein paar nicht dazu passenden Stühlen.
Vicki versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Den illegalen Waffenhandel würde man wahrscheinlich nicht weiterverfolgen, aber sie würde die Anklage nicht fallen lassen, bis sie Bristow befragt hatte, und sei es nur ein einziges Mal. Das schadete niemandem. Die Verteidigung kannte die Informantin nicht – Vicki war gehalten, deren Identität erst kurz vor Prozessbeginn preiszugeben – und wusste also auch nicht, welche Beschuldigungen sie im Zeugenstand vorgebracht hätte. Es entsprach nicht ganz den Regeln, die Angeklagte an diesem Ort zu befragen, obwohl es wahrscheinlich nicht mehr zum Prozess kommen würde, doch Mortys Tod bot mehr als einen guten Grund dafür. Heute Nacht, als sie nicht schlafen konnte, weil die schrecklichen Bilder der Schießerei ihr im Kopf herumgingen, hatte Vicki sich den Plan ausgedacht.
Sie schlug die Beine übereinander und versuchte, gefasst zu bleiben; in der Akte stand, dass Bristow Ärger machen konnte. Es war ungewöhnlich, dass Beschuldigte in Fällen von illegalem Waffenhandel so lange in Haft blieben, aber Bristow war nun schon fast ein Jahr hier, weil sie sich während der Anhörung einem Untersuchungsrichter gegenüber ungehörig benommen hatte. Was immer Bristow an diesem Morgen sagen würde – Vicki würde damit fertig werden. Sie wischte sich ein Härchen von ihrem schwarzen Wollkostüm. Ihr zurückgekämmtes, von einer schwarzen Spange zusammengehaltenes Haar lockte sich am Nackenansatz. Sie hatte sich morgens die Kleider ganz automatisch zusammengesucht und dann festgestellt, dass es Trauerkleider waren. Doch sie erlaubte sich nicht, sich von ihrer Traurigkeit überwältigen zu lassen.
Unvermittelt öffnete sich die Tür des Aussageraums, und der Verteidiger trat ein. »Carlos Melendez«, sagte er und streckte Vicki seine fleischige Hand hin. »Kalt, was? Es soll heute Nachmittag noch schneien.« Er war etwa sechzig Jahre alt; sein noch immer dichtes stahlgraues, gelocktes Haar bildete einen deutlichen Kontrast zu seinem dunklen Teint und den dunkelbraunen Augen. Er war gutgelaunt und munter, stämmig gebaut und trug einen Mantel mit Fischgrätmuster. Ein wenig sah er aus wie ein Hip-Hop-Sänger mit Anwaltsexamen.
»Vicki Allegretti«, sagte sie. Melendez gefiel ihr auf Anhieb, ungeachtet dessen, dass er, technisch gesehen, ihr Feind war.
»Sie sehen echt zu jung aus für das, was Sie sind«, sagte Melendez lächelnd.
»Ich bin achtundzwanzig! Ich bin nur zu klein.«
»Ha! Sie sind klein und jung.« Melendez lachte. »Obwohl ich zugeben muss, dass ich nicht sehr viele Assistenzstaatsanwälte kenne. Mein Arbeitsfeld ist der Gerichtssaal.« Er wand sich aus seinem Fischgrätmantel, und der Geruch eines würzigen Aftershaves machte sich bemerkbar.
»Danke, dass Sie so kurzfristig Zeit für mich hatten.«
»Gern geschehen, gern geschehen. Wirklich. Ich bin sogar froh, dass Sie angerufen haben. Der Prozess steht ja schon vor der Tür.«
Äh. Jetzt nicht mehr. »Haben Sie meinen Brief bekommen?« Vicki hatte ihm an diesem Morgen noch einmal den Brief geschickt, den schon ihr Vorgänger aufgesetzt hatte, da er die notwendige Unterschrift trug, nämlich die von Strauss. Der Brief war eine reine Formalität und enthielt die Regeln und die Begründung für das außergerichtliche Treffen. Sie hatte ihn in der Bristow-Akte gefunden und ihm von zu Hause aus gefaxt.
»Meine Sekretärin hat den Empfang ja bestätigt. Danke.« Melendez öffnete eine zerkratzte Aktentasche, holte einen Ordner heraus und machte die Tasche wieder zu.
»Glauben Sie, Ms Bristow ist heute Morgen zum Reden aufgelegt?«
»Reheema? Ehrlich gesagt, nein.« Melendez lächelte. »Sie werden sehen, dass Reheema nicht der Typ für solche Treffen ist, aber vielleicht haben Sie ja Gründe, die sie überzeugen. Ich werde ehrlich mit Ihnen sein: Ich will, dass sie mit Ihnen kooperiert, und das habe ich ihr auch gesagt.« Er schob seine Aktentasche über den Resopaltisch und zwängte sich in einen Schalensessel. »Ihr Vorgänger hatte kein Glück mit ihr, aber er verfügte auch nicht über Ihre jugendliche Begeisterung. Vielleicht hilft es auch, dass Sie eine Frau sind. Und Sie beide sind im gleichen Alter.«
»Gut.«
»Wie ich Ihnen schon sagte, ich arbeite normalerweise im Gerichtssaal, deshalb habe ich nicht viel mit Leuten zu tun, die so sind wie Reheema. Sie ist eine harte Nuss. Aber sie hat auch ein gutes Herz, und ich bin davon überzeugt, dass sie unschuldig ist.«
Nur allzu bald würde er erfahren, dass Bristow möglicherweise hinter dem Mord an drei Menschen steckte, dachte Vicki.
»Und fünf Jahre sind fünf Jahre. Es würde mir wirklich nicht gefallen, wenn sie das Ganze ausbaden müsste.«
»Was meinen Sie? Glauben Sie, es steckt jemand anderes dahinter?«
»Jemand hat sie in diesem Schlamassel sitzenlassen, nicht? Wahrscheinlich derjenige, für den sie diese Waffen gekauft hat, wer immer es war. Sie haben es ja selbst gesagt: Alles ist möglich.« Melendez hob seine schweren Schultern und ließ sie wieder sinken. »Ich weiß es ja auch nicht, sie spricht nicht mit mir. Wie ich schon sagte, normalerweise mache ich diese Arbeit nicht, aber ich hatte noch nie eine Mandantin, die so verschlossen war.«
»Hat sie Angst?« Vicki ging verschiedene Möglichkeiten durch. »Wird sie von jemandem eingeschüchtert?«
»Ha! Auf keinen Fall. Reheema lässt sich nicht so leicht Angst einjagen.« Melendez dachte eine Weile nach. Plötzlich wurde sein Blick schärfer, und er sah sie direkt an. »Wissen Sie, Sie sehen dieser Frau ähnlich, die gestern Abend im Fernsehen war. Dieser Mordfall. In den Nachrichten.«
»Äh, ja, das war ich.« Vicki sagte sich, dass es jetzt darauf ankam, ganz natürlich zu wirken. In jedem Fall hätte er sie früher oder später erkannt. Die Geschichte stand in jeder Zeitung, und auch heute Morgen war sie im Fernsehen und im Radio gekommen.
»Ach so, Sie waren das. Ein FBI-Mann und eine schwangere Frau sind ermordet worden, oder?«
»Er war beim ATF.« Vickis Brust fühlte sich eng an.
»O Gott.« Melendez sah erschrocken aus. Sein Mund öffnete sich ein wenig. »Das muss ja grauenhaft gewesen sein. Was, zum Teufel, ist passiert?«
»Es ist mir noch nicht ganz klar«, antwortete Vicki mit ihrer offiziellen Stimme, als ein stämmiger Beamter des ATF mit grauem Blazer und Krawatte in der Tür erschien.
»Hier kommt die Speziallieferung«, sagte der Beamte lakonisch. Gewöhnlich wurden die Gefangenen von Marshals gebracht, aber Vicki hatte diesmal den Beamten des ATF um den Gefallen gebeten, es selbst zu tun. Er musste wissen, dass das Treffen mit Mortys Tod zu tun hatte, aber sie hatte es ihm nicht gesagt, damit er keine Schwierigkeiten bekam, falls er als Zeuge aussagen musste.
»Danke«, sagte Vicki, und als er auswich, um die gefesselte Gefangene eintreten zu lassen, machte sie große Augen.
Reheema Bristow entsprach ganz und gar nicht ihren Erwartungen.