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Um Mitternacht war das kleine Reihenhaus gesteckt voll mit uniformierten Polizisten, Detectives von der Mordkommission von Philadelphia, Kriminaltechnikern der Mobilen Verbrechensbekämpfung, Vickis Vorgesetztem, Chief Howard Bale von der Bundesstaatsanwaltschaft und etlichen hohen Tieren von FBI und ATF. Der Einzige, der fehlte, war Morty, dessen Leiche nach der offiziellen Feststellung seines Todes fotografiert und in einem schwarzen Nylonsack abtransportiert worden war. Vicki fühlte sich auf sonderbare Weise einsam unter all diesen Menschen. Sie saß neben einem Detective der Mordkommission auf einer karierten Couch.

»Okay, das wär’s erst mal«, sagte der Detective, schlug sein Notizbuch zu und stand auf.

»Schön.« Vicki blieb wie betäubt auf der Couch sitzen. Sie hatte sich die Hände gewaschen, aber ihren Regenmantel anbehalten. Getrocknetes Blut färbte die Aufschläge dunkel, was sie erst bemerkte, als der Detective sie anstarrte. »Habe ich Ihnen eigentlich meine Karte schon gegeben? Ich hab’s vergessen.«

»Ja, haben Sie. Danke.«

»Bitte.« Sie hätte ihn gern mit seinem Namen angesprochen, aber auch den hatte sie vergessen. Ihr Körper schmerzte, und sie fühlte sich wie ausgehöhlt. Sie hatte vor den Vertretern des ATF, des FBI und der Mordkommission jeweils lange Statements abgegeben; die Einzelheiten waren aus ihr herausgesprudelt wie in einem endlosen Bewusstseinsstrom. Und die ganze Zeit konnte sie an nichts anderes denken als an Morty und die Informantin, die erschossen im oberen Stock lag. Vicki hatte diese zweite Leiche bis jetzt noch nicht gesehen, weil die Polizisten zuerst ihre Aussage hören wollten, damit die Meldung sofort an die Medien weitergegeben werden konnte.

Mit wackligen Knien stand sie auf und drängte sich durch die Menschenansammlung zur Treppe. Das Haus war von frostiger Januarkälte erfüllt, weil die Vordertür so oft geöffnet worden war. Sie vermied die neugierigen Blicke und versuchte, das Gerede der Leute um sie herum zu überhören, geschützt von ihrem fleckenübersäten Burberry. Das Wichtigste war jetzt, dass sie herausfand, wie es dazu hatte kommen können, dass dieser Abend so entsetzlich schiefgelaufen war.

Auf dem Weg zur Treppe kam sie an den nummerierten gelben Karten vorbei, die zur Markierung der Projektile benutzt wurden. Ihre Gedanken drehten sich immer noch im Kreis. Es war doch nur ein ganz gewöhnlicher, unbedeutender Fall von illegalem Waffenhandel. In der Anklageschrift stand, dass eine Frau in einem örtlichen Waffenladen zwei 45er Colts gekauft und sie illegal an jemand anderen weiterverkauft hatte, was auf dem Gebiet der Gewaltkriminalität das Äquivalent des Kaufs von Whisky für einen Minderjährigen darstellte. Die Informantin hatte dem Büro den Namen der Beschuldigten mitgeteilt, bevor Vicki eingestellt worden war, und man hatte ihr den Fall überlassen, weil solche Delikte normalerweise an Neulinge gingen, damit sie Erfahrungen sammelten. Einer der besten und verlässlichsten Agents des ATF war ihr an die Seite gestellt worden.

Morty. Bitte verzeih mir.

Etwas berührte ihre Schulter, und sie zuckte zusammen. Neben ihr stand Howard Bale, ihr Boss, in seiner vollen Länge von einem Meter achtundsiebzig afroamerikanischer Männlichkeit, mit maßgeschneidertem, nadelgestreiftem Anzug und eleganten Schuhen, wie immer. Ein brauner Kaschmirmantel krönte sein charakteristisches Herrenmagazin-Outfit. Er selbst witzelte gern, dass er nicht schwarz sei, sondern ein Pfau.

»Ach, Chief.« Bales Augen hatten normalerweise einen warmen Espresso-Farbton, jetzt aber sahen sie glanzlos und angestrengt aus, und seine Lippen, verborgen unter einem Schnurrbart, der einen leichten Überbiss verbarg, zogen sich zu einem erschöpften, doch teilnahmsvollen Lächeln auseinander.

»Alles in Ordnung mit Ihnen?«

»Alles okay.« Vicki hielt sich am Geländer fest, während ein Mann von der Spurensicherung sich vorbeizwängte. Er trug eine gesteppte Weste unter seinem blauen Overall.

»Haben Sie das Wasser getrunken, das ich Ihnen hingestellt habe?«

»Ich hab’s vergessen.«

»Ich bin der Chief, mein Kind. Das dürfen Sie nicht vergessen.«

»Tut mir leid.« Vicki zwang sich zu einem Lächeln. Als Bale gekommen war, hatte er sie fest in die Arme geschlossen und ihr eine Tasse Wasser bringen lassen. Alle Anwesenden hatten verstanden, was er damit meinte: Ich mache dieses Mädchen hier für nichts verantwortlich, und Sie tun das bitte auch nicht, hatte er ihnen signalisiert. Er hatte nicht angefangen, sie wegen des Schlamassels, der hier passiert sein musste, zur Rede zu stellen, obwohl sie fürchtete, dass das noch kommen würde. Aber was machte das schon. Vicki hatte schon Staatsanwältin werden wollen, als sie mit dem Jurastudium anfing, und jetzt kümmerte es sie nicht, wenn man sie feuerte.

»Wo gehen Sie hin?«, fragte Bale.

»Ich will meine Informantin sehen.«

»Warten Sie. Ich will Ihnen zuerst etwas zeigen.« Bale nahm sie sanft am Ellbogen und führte sie zurück ins Wohnzimmer. Uniformierte Polizisten und Detectives machten ihm Platz; Bale war als Bundesstaatsanwalt für die Abteilung Schwerkriminalität zuständig, und es lag nah, dass er in nicht allzu ferner Zukunft einen noch höheren Posten übernehmen würde. Er führte sie in die Nähe des Eingangs, und Vicki erstarrte, als sie zu der Stelle kamen, wo Morty erschossen worden war. »Kopf hoch«, sagte Bale einfühlsam, aber Vicki schüttelte den Kopf.

»Es geht nicht.«

»Schauen Sie. Da unten.« Bale zeigte auf einen Punkt, und Vicki sah hin. Ein paar Polizisten, die im Kreis um etwas herum auf dem Teppich gekniet hatten, erhoben sich und zogen sich zurück. Auf dem Teppich lag ein weißer Gegenstand, etwa so groß wie ein Ziegelstein, mit Plastik umwickelt und mit Klebestreifen verklebt. Ein Kilo Kokain..

»Wie konnte mir das entgehen?«, fragte Vicki überrascht. Sie musste praktisch darüber gestolpert sein, aber Morty hatte ihre ganze Aufmerksamkeit beansprucht.

»Sie haben gesagt, etwas ist dem Jungen aus der Jacke gefallen.« Bale hatte ihrer Aussage zugehört. »Es muss oben passiert sein, nach Ihrer Darstellung, weil sie danach die Treppe heruntergerannt kamen.«

»Ja.« Vicki hatte angenommen, dass die beiden Teenager normale Dinge gestohlen hatten, Schmuck oder Bargeld. »Kokain? Ein ganzes Kilo?«

»Das ist ziemlich viel«, bestätigte Bale, und Vicki begriff. Ein Kilo Koks war das Großhandelsgewicht. Es entsprach einer Summe von dreißigtausend Dollar, genannt »Pfundgeld«, im Gegensatz zum »Schmerzensgeld«, das die Verkäufer auf der Straße erwirtschafteten. Bale beugte sich zu ihr. »Natürlich werden wir der Presse gegenüber Stillschweigen bewahren, was dieses Detail betrifft. Sie behalten es bitte ebenfalls für sich.«

»Klar.« Durch die Konzentration auf das Kokain kam Vicki allmählich wieder zu sich. »Also war meine Informantin eine Koksdealerin? Aber was könnte der Grund dafür sein, dass sie mit uns reden wollte?«

»Wenn Sie sich hier umgesehen haben, sagen Sie mir bitte, was Sie denken. Ich habe eine Theorie, und die anderen halten sie für richtig. Nach dieser Theorie kommen jede Menge Schwierigkeiten auf uns zu.«

Vicki konnte nicht aufhören, den weißen Ziegelstein anzustarren. Morty ist wegen Koks gestorben.

»Nein, das ist er nicht«, sagte Bale scharf.

Vicki sah auf. Hatte sie irgendetwas geäußert?

»Morty ist gestorben, weil er seine Pflicht erfüllte. So hätte er es auch selbst gesehen.«

»Vielleicht«, sagte Vicki, aber sie wusste nicht, ob er wirklich Recht hatte. Sie hatte jetzt keine Zeit, diese Frage zu klären.

»Fällt Ihnen irgendetwas Besonderes an diesem Kokain auf, mein Kind?«

»Nein. Ich bin ziemlich unfähig, oder?«

»Sehen Sie noch mal hin, im Licht.« Bale holte sich eine starke Taschenlampe von einem uniformierten Polizisten, ließ sich auf die Fersen nieder und knipste sie an. Als Vicki neben ihm hockte und das Kokain betrachtete, sah sie, was er meinte. Der Stoff war von einem verräterischen Schein umgeben, einem tödlichen Regenbogenglanz.

»Schuppenkoks?«, fragte Vicki erstaunt. Sie hatte geglaubt, das gehöre in den Bereich der städtischen Drogenmythen; doch jetzt sah sie es mit eigenen Augen: Der regenbogenfarbene Schimmer konnte an Fischschuppen erinnern – allerdings nur jemanden, der noch nie gefischt hatte.

»Genau. Es ist sehr rein, und nachdem man es gekocht hat, vergrößert sich sein Volumen um ein Vielfaches.«

Vicki hatte auch das irgendwo gelernt. Meistens verlor Kokain an Volumen, wenn man es kochte, weil es dabei mit Wasser, Backpulver und einem Verdünnungsmittel wie Mannitol gemischt wurde, bis sich auf der Wasseroberfläche Öl absetzte. Das Öl wurde auf Eis gekühlt, wodurch sich kleine kristalline Würfel bildeten. Das Knistern und Knacken der Mixtur beim Kochen gab der Droge den Namen: Crack.

»Hochwertiges Koks. Es ist vierzigtausend wert, vielleicht noch mehr«, fügte Bale hinzu.

»Wirklich?« Vicki war verblüfft. Und doch befriedigte es sie auch, all das zu hören. Denn genau das war schließlich der Grund gewesen, warum sie nach zwei Jahren im Büro des Bezirksstaatsanwalts zur Bundesstaatsanwaltschaft gewechselt war: um gegen die großen Fische im Drogenmilieu ermitteln zu können. Nur war heute Morty dabei umgekommen. Sie stand auf und musste sich auf die Lippen beißen, um nicht die Beherrschung zu verlieren. Bale knipste die Taschenlampe wieder aus und wich nicht von ihrer Seite.

»Ihr beide habt nichts davon wissen können«, sagte er in diesem sanften Ton, der so wenig charakteristisch für ihn war, und Vicki spürte, dass ihr ohne Vorwarnung eine Träne aus dem Auge rollte. Er tat, als ob er es nicht bemerkte, und sie blinzelte die nächste Träne weg.

»Ich sollte jetzt nach oben gehen, um mir die Informantin anzusehen.«

»Sie hieß Jackson, oder?«

»Ja. Shayla Jackson.«

»Haben Sie sie vor heute Abend schon mal getroffen?«

»Nein.« Vicki spürte ihre Wangen heiß werden. »Ich habe nur mit ihr telefoniert, um den Termin auszumachen. Ich wollte unbedingt mit ihr sprechen, weil ich dachte, bei einem Treffen redet sie unbefangener als am Telefon. Offensichtlich habe ich mich da schrecklich geirrt.«

»Nein, das haben Sie nicht. Es war eine gute Idee, sich mit ihr zu treffen.«

»Nein. Wenn ich sie nicht hätte treffen wollen, wäre das alles nicht passiert. Ich hätte es wissen müssen.«

»Hören Sie auf. Hinterher ist man immer klüger, das wissen Sie. Ich hätte dasselbe getan.« Bale legte ihr die Hand auf die Schulter. »Was hat Jackson vor der Grand Jury gesagt? Das sollte aufschlussreich für Sie sein.«

»Ich weiß nicht. Das Protokoll war nicht in der Akte.«

Bale runzelte die Stirn. »Das ist schlecht. Sie sollten dafür sorgen, dass in Ihren Akten mehr Ordnung herrscht.«

»Ich habe die Akte so bekommen, erinnern Sie sich nicht? Die einzige Hintergrundinfo darin war eine Mitteilung des früheren Bearbeiters des Falles. Ihm zufolge rief Shayla Jackson die Abteilung an, um zu beeiden, dass unsere Beschuldigte die Waffen gekauft hatte, um sie weiterzuverkaufen.« Eine neue Welle des Bedauerns überrollte Vicki. Warum hatte sie so lange gewartet, bis sie sich mit Shayla Jackson verabredete? Wenn sie mehr gewusst hätte, wäre Jackson jetzt noch am Leben. Und Morty auch. Sie versuchte, den Gedanken daran zu verdrängen, aber sie wusste, dass er wiederkommen würde. »Das Kokain verwirrt mich. Jackson sagte nichts, was darauf hinwies, dass sie in solche Dinge verwickelt war. Ich frage mich, ob das Ganze überhaupt etwas mit ihrem Fall zu tun hatte.«

»Warum?«

»Jackson wusste, dass ich heute Abend kommen würde. Es wäre ziemlich riskant gewesen, mich hier zu treffen, wenn sie Koks in ihrem Haus versteckt hätte. Das alles ergibt einfach keinen Sinn.« Vicki dachte laut, was in Anwesenheit des Chiefs nicht unbedingt von Vorteil war. »Und wenn sie getötet wurde, um zu verhindern, dass sie heute Abend mit mir spricht oder im Prozess als Zeugin aussagt?«

»Das ist in einem Fall von illegalem Waffenhandel unwahrscheinlich. Wie viele Anklagepunkte gibt es?«

»Einen.«

»Also maximal fünf Jahre. Das sind Peanuts. Wer ist die Käuferin?«

»Sie heißt Reheema Bristow. Keine Vorstrafen. Hatte einen regulären Job.«

»Also nichts Besonderes. Man sucht sich immer Leute aus, die eine weiße Weste haben und auch im Job nicht aufgefallen sind, für den Fall, dass der Mann im Waffengeschäft irgendetwas nachprüft. Solche Leute haben viel zu wenig Geld, um irgendjemanden umbringen zu lassen.«

»Vielleicht war es derjenige, an den sie die Waffen weiterverkaufte.« Vicki konnte die Idee nicht so einfach aufgeben. »Und der Zeitpunkt ist merkwürdig. Nächste Woche fängt der Prozess gegen Bristow an – wenigstens hätte er anfangen sollen, wenn –«

»Was hat das mit unserem Fall zu tun?«

»Damit ist der Fall gestorben.«

»Haben wir keine sonstige Bestätigung für Jacksons Aussage?«

»Nein.«

Bales rosafarbene Unterlippe kräuselte sich sorgenvoll. »Na gut, gehen Sie jetzt hoch, aber Sie wissen, wie Sie sich zu verhalten haben. Berühren Sie nichts. Die Platzhirsche hier mögen es nicht, wenn Sie ihnen dazwischenfunken, aber sie haben schon alles aufgenommen und Fotos gemacht. Seien Sie trotzdem vorsichtig, die Techniker sind oben noch nicht fertig. Soll jemand Sie begleiten?«

»Nein, danke«, antwortete Vicki. Bale hatte schon einen uniformierten Polizisten als Babysitter ausersehen und wollte ihn durch ein Kopfnicken zu sich zitieren, aber dann sah er, dass der Mann sich nicht von der Stelle rührte, und gab es auf. Kein Beamter der städtischen Polizei würde irgendetwas für die Bundesbehörde tun. Das Äußerste war, dass man ihm eine Taschenlampe geliehen hatte.

»Wir reden später darüber, im Büro.« Bale drückte noch einmal ihre Schulter. »Bleiben Sie nicht zu lange da oben. Gehen Sie nach Hause und ruhen Sie sich aus.«

»Das werde ich tun. Danke für das Wasser.« Vicki wandte sich zum Gehen.

Sie hatte keine Ahnung, was ihr bevorstand.

Die Staatsanwältin

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