Читать книгу Die Staatsanwältin - Lisa Scott - Страница 19
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ОглавлениеArissa Bristow war nicht mehr da. Die Matratze in dem heruntergekommenen Raum war leer. Vickis Handtasche lag geöffnet auf dem Boden, und der Inhalt war auf dem schmutzigen Teppich verstreut.
Verdammt! Wie hatte sie nur so dumm sein können? Sie lief hastig hin und kniete sich auf den Boden. Ihre Wimperntusche, Lidstrich, ein Lippenstift, ihr Terminkalender und glücklicherweise auch die Autoschlüssel waren noch da. Nur die Brieftasche fehlte natürlich, und das Handy.
Vicki hockte sich auf die Fersen. Sie ärgerte sich über sich selbst. In dem Augenblick, als sie geglaubt hatte, Mrs Bristow habe aufgehört zu atmen, hatte sie ihre Handtasche hingelegt und sie dann vergessen, als sie weiterging in die Küche. Sie versuchte, sich zu erinnern. Wahrscheinlich hatte sie um die fünfzig Dollar in der Brieftasche gehabt, die schwarze Nylontasche selbst war etwa hundert Dollar wert. Glücklicherweise hatte sie ihr Scheckbuch nicht dabeigehabt, aber sie hatte jede Menge Kreditkarten. Ihre Versicherungskarte und ihr Führerschein waren weg; und der Ausweis des Justizministeriums.
Sie konnte es selbst kaum glauben. Diesen Ausweis zu verlieren war sogar noch schlimmer als der Verlust des Führerscheins. Ein Kollege hatte diesen Ausweis einmal verloren und hatte sich mit der Autorisierung von Bale in Washington tagelang um einen Ersatz bemühen müssen. Ohne den Ausweis würde sie nicht einmal mehr in ihr Büro kommen.
»Verflucht noch mal!« Sie dachte daran, die Polizei zu rufen, aber sie hatte kein Telefon mehr. Hier im Haus war natürlich auch keines. Sie warf alle Sachen in die Handtasche zurück, kam auf die Füße und lief zur Tür, hinter Mrs Bristow her. Also gut, ich war ziemlich lange nicht mehr im Fitnessstudio, aber eine Drogensüchtige kriege ich immer noch.
Mit offenem Mantel rannte sie durch die Tür, über die Vordertreppe zum Bürgersteig. Es wurde dunkel; der Himmel war von einem frostigen Dunkelblau. Hinter den Häusern stieg der Vollmond auf, der sein kaltes weißes Licht über die Dächer goss. Sie sah nach rechts und nach links, die Lincoln Street hinunter. Es war immer noch kein Mensch zu sehen. Die Reihenhäuser standen schweigend da und gaben ihre Geheimnisse nicht preis. Wohin war Mrs Bristow verschwunden? Sie konnte nicht fahren; sie konnte ja kaum stehen. War sie in irgendein Haus in der Nachbarschaft geschlüpft?
Vicki sprintete zum nächstgelegenen Haus und sah durch eine gesprungene Fensterscheibe, aber im Inneren war kein Licht, und alles war still und leer. Sie ging zum nächsten Haus und klopfte. Auch dort gab es kein Licht, und niemand öffnete die Tür. Sie rannte zu ihrem Wagen, holte die Schlüssel aus der Handtasche und setzte sich ans Steuer. Gut, dann würde sie dieser Frau einfach nachfahren. Sie schaltete den Motor ein, bog nach rechts in die Washington Street, dann noch einmal nach rechts in die Harrison Street, dann in die Van Buren Street.
Von Mrs Bristow keine Spur. Vicki drehte die Heizung höher, und ein kalter Luftstrom traf ihr Gesicht. Sie fuhr langsam, überprüfte die Gehsteige. In den nächsten Minuten wirbelten Präsidentennamen vor ihren Augen, bis sie sich noch einmal nach rechts wandte. Hinter der Lincoln Street war eine schmale Straße, die parallel zu der großen Durchgangsstraße verlief. Auf einem zerkratzten grünen Schild stand »Cater Street«, aber es gab keine Straßenlampen. Im Mondlicht konnte Vicki nur ein paar Schatten erkennen.
Da ist sie! Arissa Bristow schlurfte auf einen größeren Schatten zu. Sie war leicht zu erkennen, weil sie immer noch ihr geblümtes Hauskleid trug und sonst nichts. Die arme Frau durchmaß mit erstaunlicher Geschwindigkeit ohne Mantel die kalte Nacht. Vicki hielt am Bordstein. Sie hatte die Hand schon am Türgriff, um hinter Mrs Bristow herzulaufen, aber dann überlegte sie es sich anders.
Wie würde das aussehen? Eine Staatsanwältin verfolgt auf offener Straße die betagte, drogensüchtige Mutter einer Frau, gegen die sie ermittelt? Keine sehr gute Idee. Vicki überlegte, welche Möglichkeiten sie hatte. Sie wollte ihre Brieftasche und ihr Handy zurück, aber es gab keine plausiblen Gründe, die ihr Hiersein rechtfertigten. Und außerdem fürchtete sie sich davor, in diesem Viertel einfach eine dunkle Straße entlangzurennen. Ich weiß schließlich, wie es hier zugeht. In der Vorstadt habe ich genug Schauermärchen über solche Viertel gehört.
Dann kam ihr ein besserer Gedanke – zumindest einer, der mehr Sicherheit versprach. Mrs Bristow hatte etwas zu rauchen gewollt, und jetzt, dank ihrer neuen Anwältin, besaß sie fünfzig Dollar. Es gab nur einen Ort, den sie jetzt ansteuern würde – den Ort, wo sie Crack kaufen konnte. Vielleicht war es nicht uninteressant, ihn sich anzusehen. Vicki blieb im Auto und beobachtete Mrs Bristow, die in ihrem wie eine Fahne flatternden Kleid zielgerichtet vorwärts strebte. Halb zerfallene Reihenhäuser säumten die Straße; in einigen war Licht, in einigen nicht. Etwa fünf Häuser von hier schien sich etwas zu bewegen, auf einem offenbar unbebauten, von kahlen Bäumen umstellten Grundstück. Mrs Bristow lief bis zu den Bäumen und wandte sich dann nach rechts, um in der Dunkelheit des Grundstücks zu verschwinden.
Vickis Atem hatte die Scheiben beschlagen. Sie wischte das Fenster auf der Beifahrerseite frei und behielt die Bäume im Auge. Eine hochgewachsene Gestalt trat aus der Dunkelheit, mit einer kleineren Gestalt. Wegen des dünnen Dachs des Cabrios kühlte sich das Auto schnell ab. Vielleicht gab es doch einen guten Grund dafür, dass VW aufgehört hatte, Cabrios zu produzieren. Sie sah auf die Uhr – 18:15. Sie wartete ... 18:40. Wann würde Reheema aus dem Gefängnis kommen? Würde sie nach ihrer Mutter sehen? Vicki steckte ihre kalten Hände in die Taschen ihrer Daunenjacke. Ihr Nacken tat weh, weil sie so angestrengt nach rechts sah.
Der Himmel wurde blauschwarz, aber Mrs Bristow blieb verschwunden. Ein paar Leute, fünf oder sechs, betraten nach ihr das Grundstück und kamen wieder heraus. Es gab hier mehr Aktivität als irgendwo sonst im ganzen Block. Es musste der Drogenumschlagplatz sein, aber wo war Mrs Bristow? Was, wenn sie verletzt worden war oder irgendeinen Anfall bekommen hatte? Oder hatte sie das Crack gleich geraucht und war auf dem Boden eingeschlafen? In einer solchen Nacht, bei diesen Temperaturen, würde sie draußen nicht überleben.
Vicki versuchte, die Teile des Puzzles zusammenzusetzen, und entwickelte eine Arbeitshypothese. Vielleicht war es nicht Reheema gewesen, die sich in den Waffenhandel hatte einspannen lassen; vielleicht hatte sie die Waffen ihrer Mutter gegeben, die sie für Crack eintauschte. Drogendealer akzeptierten Waffen gern als Bezahlung ihrer Waren. Diese Theorie würde Reheemas Verhalten im Aussageraum erklären, und sie widersprach auch nicht Cavanaughs Äußerungen. Es war durchaus möglich, dass Reheema keine Namen nennen wollte, weil sie ihre Mutter schützte.
Plötzlich hämmerte jemand an das Fenster auf der Fahrerseite. Vicki drehte sich erschrocken um. Die Faust schlug unbeirrt weiter auf das Fensterglas, so hart, dass der Wagen leicht schwankte. Ein paar Zentimeter vor ihr tauchte das Gesicht eines Mannes mit einer schwarzen Kapuze auf.
»Hau bloß ab hier, du Schlampe!«, brüllte er, aber Vicki hatte schon den Zündschlüssel umgedreht und drückte aufs Gaspedal.
Sie raste die Straße entlang und nahm den Fuß erst wieder vom Gaspedal, als ihr Herz fast wieder im normalen Takt schlug. Irgendwann stand sie vor einer roten Ampel, aber sie wusste nicht, ob sie noch in Philadelphia war oder vielleicht schon in Atlantic City, vielleicht sogar in Maine. Es war ihr auch egal. Es gab jedenfalls keine furchterregenden Männer in Kapuzen mehr. Aber sie hatte Mrs Bristow zurückgelassen, und das machte ihr Sorgen.
Nach dem nächsten Block erspähte sie eine Tankstelle. Auf dem Beifahrersitz lag noch eine Packung Kaugummi. Genau das, was sie jetzt brauchte. Den Kaugummi im Mund, stieg sie aus und machte sich auf den Weg zur Telefonzelle. Die kalte Luft schlug ihr wie eine Faust ins Gesicht; sie merkte erst jetzt, was für eine gemütliche Höhle ihr Cabrio gewesen war. Die Falttür der Zelle quietschte gellend, als sie sie aufzog, aber es gab ein Münztelefon. Sie wählte die Nummer ihres Handys. Nach zweimaligem Läuten nahm jemand ab.
»Wer ist da?«, sagte eine Männerstimme. Vicki war wütend. Hatte Mrs Bristow das Handy so schnell verkauft?
»Das ist mein Telefon, Kollege! Wer sind Sie?«, schrie sie, aber da hatte er das Gespräch schon beendet. Sie drückte auf Wiederholung, und als er sich wieder meldete, rief sie: »Wo ist Arissa –«
Schon war er wieder weg. Vicki verließ die Zelle, atmete tief durch, und weißer Dampf wie der eines Kettenrauchers stieg in die Luft. Sie sollte die Polizei anrufen, aber wenn sie das tat, würde sie ihnen verraten müssen, dass sie bei Mrs Bristow gewesen war. Es war unwahrscheinlich, dass Bale dahinterkam, aber man sollte kein unnötiges Risiko eingehen. Und was konnte die Polizei schon tun? Brieftaschen wurden ständig geklaut. Und schicke schwarze Handtaschen auch.
Die Lichter der Stadt funkelten weit weg in der kalten Luft. Vicki war immer noch in West Philly, auf halbem Weg zu gutbürgerlichen weißen Vorstädten wie Main Line. Sie hatte keine Brieftasche, kein Handy, kein Geld und keine Kreditkarten. So schnell wie möglich musste sie sie sperren lassen. Sie war erschöpft, hungrig und wie erstarrt. Ein wenig Trost wäre jetzt nicht das Schlechteste. Benzin hatte sie noch genug, weil sie, auf den Rat einer Frauenzeitschrift hin, den Tank nie ganz leer werden ließ. Sie schob den Ärmel zurück, um auf die Uhr zu sehen – 19:30.
In Nullkommanichts konnte sie da sein.