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An der Schwelle zum Schlafzimmer im ersten Stock zögerte sie. Eine Gruppe Kriminaltechniker drängte sich um das Fußende des Bettes. Sie machten sich an Shayla Jacksons Leiche zu schaffen und versperrten die Sicht. Einer von ihnen fuhr mit einem Spezialstaubsauger über den Teppich, um Haare oder Fasern aufzusammeln, ein anderer suchte nach winzigen Partikeln unter ihren Fingernägeln. Ein Polizeifotograf in dunklem Mantel nahm den ganzen Tatort mit einer Videokamera auf, ein weiterer machte Fotos. Weißes Blitzlicht durchzuckte in regelmäßigen Abständen das Zimmer.

Vicki sagte sich, dass sie warten musste, bis die Techniker fertig waren, aber in Wahrheit brauchte sie Zeit, um sich an den fremden Geruch von frischem Blut zu gewöhnen und ihre Gefühle unter Kontrolle zu halten. Als Beauftragte des Bezirksstaatsanwalts hatte sie schon drei Schauplätze von Morden gesehen, aber bis jetzt hatte sie noch nie etwas erlebt, was an die Geschehnisse von heute Abend heranreichte. Die Morde an einem Bundesbeamten und an einer Zeugin trafen die Justiz ins Herz, und offenbar empfand das nicht nur Vicki so. Die Techniker verhielten sich ungewöhnlich diszipliniert, sprachen mit gedämpfter Stimme und konzentrierten sich mit mehr Eifer als sonst auf ihre Arbeit. Niemand wollte irgendetwas vermasseln.

Der Polizeifotograf, ein älterer Mann mit Brille, drehte sich um und fragte: »Entschuldigen Sie, bin ich im Weg?«

»Nein, die Spurensicherung kommt zuerst«, antwortete Vicki und hoffte, überzeugend zu klingen.

Mit schnellen Blicken versuchte sie, sich ein Bild von dem Raum zu machen. Selbst für städtische Verhältnisse war er klein; und er entsprach genau dem Muster der für Philadelphia typischen, aus roten Ziegeln gebauten Reihenhäuser mit jeweils zwei Zimmern im ersten Stock. Solche Häuser säumten die Straßen überall in der Umgebung des Roosevelt Boulevard. Dann sah sie das andere Zimmer am Ende der Diele, das an der Rückseite des Hauses lag, und sagte sich, dass sie die Gelegenheit nutzen könnte, es sich anzusehen.

Es war hell erleuchtet und stand voller aufeinandergestapelter Kartons, die offenbar aus einem Schnapsladen stammten. Zwei Kriminaltechniker in Gummihandschuhen waren dabei, das Klebeband aufzuschlitzen, das die Kartons verschloss, um den Inhalt zu überprüfen. Auf einem Karton stand neben den Wodka- und Whiskyaufklebern mit schwarzem Filzstift geschrieben: »CDs«, auf einem anderen: »Sommerkleider«.

»Sieht aus, als hätte sie gerade umziehen wollen«, sagte Vicki zu den Technikern.

»Außergewöhnlich, diese Beobachtungsgabe«, sagte der rothaarige Techniker. »Sie müssen Detective sein.«

»Nein, ich bin die Staatsanwältin.«

»Noch schlimmer.« Der Techniker lachte.

»Was haben Sie gefunden?«

»Es ist wirklich faszinierend. In dem Karton mit der Aufschrift ›Sommerkleider‹ sind Sommerkleider, und in dem mit der Aufschrift ›CDs‹ sind tatsächlich CDs.«

»Ich gehe jetzt«, sagte Vicki mit einem gezwungenen Lächeln. Als sie wieder an der Schwelle des Schlafzimmers stand, in dem die Techniker noch immer in ihre Arbeit vertieft waren, wurde ihr bewusst, dass hier noch nichts gepackt war. Wenn Jackson vorhatte, das Haus aufzugeben, stand der Umzug jedenfalls nicht unmittelbar bevor.

Sie ließ den Blick über Möbel und Wände schweifen. Die Eichenkommode und der Nachttisch waren durchwühlt worden, Schubladen standen offen. Das breite Bett befand sich gegenüber den Fenstern. Es war mit einer Steppdecke mit blauem Vergissmeinnicht-Muster bedeckt, die heruntergerissen worden war. Sogar die Matratze lag schief.

Einer der Techniker murmelte: »Lieber Gott. So viel Blut.«

»Nicht anders zu erwarten, oder?«, fragte ein anderer.

Vicki betrachtete das verwüstete Bett. Auf einem Kissen lag ein unordentlicher Haufen von Plüschtieren: ein rosafarbener Teddybär, ein wuscheliges Hündchen, das ein weißes Herz in den Pfoten hielt, und eine grünliche Schlange mit schwarzem Sechseckmuster. Unten im Haus war kein Spielzeug zu sehen gewesen; die Plüschtiere mussten Shayla Jackson gehört haben. Vicki spürte einen Stich in der Brust.

Gleich darauf wandte sie ihre Aufmerksamkeit den anderen Möbeln des Schlafzimmers zu, die ebenfalls demoliert worden waren; links war ein Wandschrank, dessen weiße Jalousientüren offen standen; Kleider quollen heraus. Sie ging in einem großen Bogen um die Leiche und die Techniker herum, um das Schrankinnere zu inspizieren. Ein Stapel Pullover und Sweatshirts war herausgezogen und auf den Boden geworfen worden. Leere Schuhkartons und Schuhkartondeckel lagen ebenfalls verstreut auf dem Boden, als seien sie hastig aus dem Schrank gezogen worden. Die Sandalen, die in den Schuhkartons gewesen waren, hatten die Einbrecher nicht mitgenommen. War auch das Kokain darin aufbewahrt worden?

Vicki drehte sich um und nahm noch einmal den Raum als Ganzes in Augenschein. Neben dem Wandschrank stand die Kommode, ein schlichtes, modernes Möbelstück aus Eichenholz, das von oben bis unten durchwühlt worden war. Als sie davorstand, sah sie sich selbst in dem großen Spiegel darüber. Ihre blauen Augen waren rot gerändert und geschwollen, ihre kleine Nase glänzte rosa vom Weinen, und ihr Haar, tiefschwarz und schulterlang, sah aus, als hätte sie es tagelang nicht gekämmt. Und auf dem Mantelkragen war immer noch Mortys Blut. Sie sah weg.

Über den Ecken des Spiegels hingen Ketten aus Plastikperlen, vielfarbiger Mardi-Gras-Halsschmuck und eine schwarze Mütze mit dem Aufdruck »Taj Mahal«. Im Spiegelrahmen steckten Fotos. Vicki sah sie sich an. Es waren fünf Bilder, und alle Leute darauf waren verkleidet. Die Schauplätze waren nicht alltäglich, wie die Werbeplakate im Hintergrund verrieten: Offenbar war ein Foto anlässlich eines NBA-Spitzenspiels, ein anderes bei der Verleihung des wichtigsten Preises für afroamerikanische Unterhaltungskünstler aufgenommen worden. Drei der Bilder zeigten einen etwa dreißigjährigen Schwarzen mit einem breiten Lächeln und großen Augen. Er hatte einen muskulösen, gedrungenen Körper, trug eine schwere Goldkette um den Hals, und sein Haar war so kurz, dass man eine unentzifferbare Schrift-Tätowierung an einer Seite seines Halses erkennen konnte.

Die anderen Fotos zeigten denselben jungen Mann, aber diesmal stand er an einer Mole, und hinter ihm sah man das Meer. Eine junge Frau mit ähnlich breitem Lächeln umarmte ihn. Sie konnte nicht älter sein als Mitte zwanzig, war stark geschminkt und trug ein weißes rückenfreies Top, Jeans-Shorts und Schuhe mit Plateausohlen. Jede Menge Goldschmuck, aber keinen Ehering. Der Wind vom Meer wehte ihr glattgezogenes Haar in die Höhe, und auf dem letzten Foto trug sie eine schwarze Baseballkappe schief auf dem Kopf. »Taj Mahal«. Die Mütze, die am Spiegel hing.

Vicki zuckte unmerklich zusammen. Die Frau musste Shayla Jackson sein. Der Mann war wahrscheinlich ihr Freund.

Ihr Blick fiel auf den Kommodenaufsatz, der von der Deckenlampe beleuchtet wurde. Dort stand eine offene Schmuckschatulle, in der es glitzerte und funkelte wie in einer Schatztruhe. Die Fächer flossen über von goldenen Kreolen, Armreifen und Ohrclips, diamantenbesetzten Tennisarmbändern und Goldketten; der Schmuck musste mehrere tausend Dollar wert sein, aber erstaunlicherweise war er von den jugendlichen Einbrechern nicht angerührt worden. Offenbar waren Teeg und Jay-Boy keine gewöhnlichen Diebe.

Die Sachen, die um die Schmuckschatulle herumlagen, hatten sie ebenfalls verschmäht. Es gab mehrere Flaschen teuersten Parfums, einen Füllfederhalter und eine Gucci-Sonnenbrille. Auf der Schreibplatte lagen außerdem mehrere Briefumschläge, die Vicki einer genaueren Prüfung unterzog. Es waren Strom- und Gasrechnungen für das Haus, und der Poststempel war von letztem Monat. Die Rechnungen waren an Jackson adressiert, aber sie hatte sie nicht geöffnet. Sie hatte ihren Namen und ihre Adresse durchgestrichen und daneben geschrieben: »Jamal Browning, 3635 Aspinall Street.«

Wenn man annahm, dass es sich um Jacksons Handschrift handelte, was wahrscheinlich war, konnte selbst Vicki sich zusammenreimen, was das bedeutete. Jackson schickte Browning die Rechnungen für das Haus. Er zahlte für sie. Er musste der Freund auf dem Foto sein. Vicki hatte nirgendwo Dinge gefunden, die auf Drogenhandel deuteten, weder eine Rechenmaschine noch Digitalwaagen, wie sie von Dealern gewöhnlich benutzt wurden. Jackson war wahrscheinlich keine Koks-Dealerin, und bestimmt handelte sie nicht mit Schuppenkoks; möglich war eher, dass ihr Haus als Versteck diente und sie die Drogen für jemand anderen aufbewahrte, für den sie damit ihr Leben riskierte; für jemanden, der ihr diese wertvolle Ware anvertraute. Jamal Browning, ihr Freund. Aber warum hatte sie umziehen wollen?

»Es ist wirklich eine Schande«, sagte einer der Techniker hinter Vicki. Sie versuchte, sich zu wappnen, als sie sich umdrehte. Doch auf einen so grauenhaften Anblick war sie nicht vorbereitet.

Shayla Jackson lag auf dem blauen Teppich zwischen ihrem vergissmeinnichtgemusterten Bett und der Wand. Sie lag auf dem Rücken. Ihre schlanken Arme waren ausgebreitet, die rosafarbenen Handflächen wiesen nach oben. Ihre braunen Augen – die gleichen hübschen Augen wie auf dem Foto – waren weit offen und starrten unverwandt an die Decke. Ihre Beine, lang und schlank und in Jeans, waren schrecklich verdreht, und sie war barfuß. Sie trug einen dunklen, lockeren Pullover mit V-Ausschnitt, von schwarzem Blut getränkt. Ihre Brust war von Kugeln durchlöchert. Die Kugeln hatten einen blutigen Streifen zwischen ihren Brüsten hinterlassen, rotes Muskelfleisch und weißes Brustbein waren zu sehen, und die Haut hatte sich wie ein Tuch nach oben gerollt, als der schlimmste Schuss sein Ziel getroffen hatte: Jacksons gewölbten Bauch.

»Sie war schwanger?«, fragte Vicki entsetzt, und einer der auf dem Boden knienden Techniker sah auf.

»Im achten Monat«, antwortete ein indischer Arzt, der mit seinem schwarz glänzenden Kopf über die Leiche gebeugt dastand und die Wunden bearbeitete.

»Mein Gott.« Vicki schüttelte den Kopf. Ihr Magen hob sich. Sie biss die Zähne zusammen, um gegen die Übelkeit anzukämpfen.

»Wer sind Sie?« Der Arzt sah auf; der Ärger war ihm anzumerken. Er trug eine dunkelrote Strickjacke unter seinem Kittel, und ein Namensschild gab an, dass er Dr. Mehar Soresh hieß.

Vicki stellte sich vor und sagte: »Ich bearbeite diesen Fall.«

Ein schwarzer Techniker fügte hinzu: »Sie ist die Staatsanwältin, die beinahe mit dem Special Agent zusammen erschossen wurde.«

Dr. Soresh führte seine Untersuchung fort. »Dann gehören Sie zu den Wenigen, die heute Abend Glück hatten.«

Vicki antwortete nicht. Sie konnte nicht. Sie hätte nicht gewusst, wo sie anfangen sollte. Ihr Partner war ermordet worden.

Dr. Soresh sprach weiter: »Auf die Frage, die Sie stellen wollten, kann ich Ihnen antworten, dass wir das Kind nicht hätten retten können. Mutter und Kind waren beide bereits tot, als sie auf dem Boden aufprallten.«

Vicki hatte keine Frage stellen wollen.

»Außerdem lautet meine Vermutung, dass der erste Schuss auf die Gegend des Uterus zielte, also starb das Baby zuerst.« Dr. Soresh holte eine lange, silberne Sonde aus einem schwarzen Sack. »Irgendjemand wollte, dass dieses Kind stirbt, so viel steht fest.«

Vickis Gedanken rasten. War es Brownings Kind? Oder war jemand anderes der Vater? Wer konnte ein Baby töten wollen? Und was hatte das Ganze, wenn überhaupt, mit dem Waffenkauf zu tun? Die Frage zwang sie, klar zu denken. »Dr. Soresh, wissen Sie, wer die Leiche identifizieren wird? Wer der nächste Angehörige ist?«

Soresh sah nicht auf. »Die Mutter kommt aus Florida. Tampa, glaube ich. Sie wird ins Leichenschauhaus fahren und es am Bildschirm erledigen. Wir machen es ihnen leicht, nicht wie im Fernsehen. Nicht das große Drama – das Leichentuch wird zurückgeschlagen, ta-ta-ta-ta.«

»Kommt nicht auch ein Freund?«

»Nicht dass ich wüsste.« ,

»Ein Mama-Drama«, warf der schwarze Techniker ein.

»Das hier ist nicht mein Bezirk. Ich weiß nur, dass die Mutter morgen um die Mittagszeit ankommt. Sie ist die nächste Angehörige, und das genügt mir.«

»Können Sie mir eine Kopie Ihres Berichts schicken, wenn Sie fertig sind?«

»Klar. Wie heißen Sie noch mal?«

»Allegretti. Ich bin Staatsanwältin.«

»Das hab ich schon kapiert.«

»Danke«, sagte Vicki, die langsam die Orientierung wiedergewann. Morty war tot, und eine schwangere Frau war tot. Und ein Baby. Sie wusste nicht, ob und wie das mit ihrem Waffenhandel-Fall zusammenhing, aber sie hatte die Absicht, es herauszufinden.

Von jetzt an.

Die Staatsanwältin

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