Читать книгу Die Staatsanwältin - Lisa Scott - Страница 18
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ОглавлениеVicki war noch nie in dieser Gegend gewesen, und dennoch kam sie ihr seltsam vertraut vor. In ihrem wunderbar geheizten Cabrio war sie immer noch in West Philly. Sie hatte keine Ahnung, warum VW aufgehört hatte, diese Autos herzustellen, ihrer Meinung nach war es ein Fehler. Erst die Cabrios, dann der Kaviar. Eins nach dem anderen ging den Bach hinunter.
Sie war zwanzig Blocks in westlicher Richtung gefahren und hatte sich Millionen Dollar weit von der Universität und sogar von Bennye’s Sandwich Shop entfernt, um in diese verwahrloste Gegend zu gelangen. Die für Philadelphia charakteristischen zweistöckigen Reihenhäuser säumten die Straße, aber hier waren sie halb zerfallen und über und über mit Graffiti besprüht. Die hölzernen Veranden standen schief, die Farbe blätterte ab, und nicht wenige Fenster waren mit Brettern vernagelt. An der Ecke fuhr Vicki zum dritten Mal nach rechts, ohne zu wissen, wo sie sich eigentlich befand, weil das Straßenschild abmontiert worden war. Dann bog sie noch einmal rechts und dann links ab, kam an einem unbebauten Grundstück voller Schutt, Bierdosen und anderem Abfall vorbei und befand sich endlich in der Lincoln Street.
Sie fuhr langsam, um die Nummern an den Häusern lesen zu können, die meistens direkt auf die Ziegel gemalt und kaum noch zu erkennen waren. 6837, 6839. Wenigstens war sie auf der richtigen Straßenseite. Als sie für den Bezirksstaatsanwalt gearbeitet hatte, war sie des Öfteren in solchen Vierteln gewesen, mit und ohne Polizeischutz. Sie hatte gelernt, dass man sich am besten so gab, wie man war. Und sie war nun einmal eine sehr weiße Frau in einem sehr weißen Cabrio, nicht gerade unauffällig in einem schwarzen Viertel, das schon bessere Tage gesehen hatte.
Sie ließ die Washington Street hinter sich, dann die Jefferson Street; als Profi, die sie war, hatte sie bald das Muster heraus. Die Querstraßen waren nach den Präsidenten benannt. Aber das war nicht der Grund dafür, warum sie so vertraut klangen. Dann, plötzlich, wusste sie es. Es fiel ihr ein, wo sie von dieser Gegend schon einmal gehört hatte. Zu Hause. Es war das alte Viertel ihres Vaters, Devil’s Corner. Sie war nie zuvor hier gewesen, aber der Name hatte sie schon früher fasziniert. Es gab Hunderte von solchen Quartieren in Philly, und alle hatten Namen, aber nur wenige klangen, wie sie aussahen.
Sie betrachtete die Häuser mit anderen Augen. Ihr Vater hatte immer nur widerstrebend von seiner Kindheit erzählt. Damals war es das Viertel italienischer und jüdischer Einwanderer gewesen, die von hier aus die besseren Straßen der Innenstadt ins Auge fassten oder, wenn sie Glück hatten, irgendwann sogar nach Main Line ziehen konnten, eine der teuersten weißen Vorstädte.
Sie erinnerte sich, dass das Ziegelhaus an der Ecke der Washington Street der Familie ihres Vaters gehört hatte. Nachdem sie einen Block umfahren hatte, fand sie das Haus und trat auf die Bremse wie beim Anblick eines Leichenzugs. Ja, der Vergleich passte, denn das alte Eckhaus der Familie ihres Vaters, zweistöckig und stabil, stand offenbar leer. Es sah aus wie ein leeres Gehäuse. Die Fenster waren mit billigem Blech vernagelt, einzelne Ziegel schon aus der Fassade gefallen. Es kam ihr traurig vor, obwohl sie nie im Inneren des Hauses gewesen war. Und wahrscheinlich würde auch ihr Vater bei dem Anblick keine Träne vergießen; er sprach nie mit Wärme von seiner Herkunft oder von dieser Gegend. Er sagte nur, dass sie sich verändert habe, was bedeutete, dass Schwarze in die alten Häuser gezogen waren. Aber Vicki bemerkte nicht, dass die Straße verändert war; sie sah nur die Verwahrlosung.
Es war niemand unterwegs. Sie sah auf die Uhr – 16:23. Natürlich war es kalt draußen, und es würde bald dunkel sein, aber Kinder waren um diese Zeit nicht mehr in der Schule und konnten draußen spielen. Und Erwachsene hatten ebenfalls Dinge draußen zu tun, Mütter, die Kinder abholten oder einkauften, Leute, die von der Arbeit kamen. Aber hier war kein Mensch zu sehen. Die Straßen waren geisterhaft leer. Sie entdeckte die Hausnummer 6847, fuhr rechts heran, nahm ihre Handtasche und verließ den Wagen. Auf dem Weg zum Haus zog sie den Reißverschluss ihrer Jacke zu und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar; eine Frau, die mit der Kirche zu tun hatte, würde auf ein ordentliches Äußeres Wert legen. Mit Mrs Bott und Mrs Greenwood war es einfach gewesen. Das hier würde ihr auch gelingen.
Die Betonstufen, die zur Tür hinaufführten, brauchten dringend einen neuen Belag. Die rote Farbe der Tür hatte sich teilweise abgelöst, und das Glas in dem winzigen Fenster im oberen Teil war mit Paketband in den Rahmen geklebt. Reheemas Mutter, Arissa Bristow, hatte offenbar nicht viel Geld. Vielleicht gab sie alles der Kirche. Oder sie brauchte teure Medikamente.
Vicki klopfte mehrmals und wartete geduldig auf der von der Sonne beschienenen obersten Stufe. Die Tür hatte drei Riegel, es würde seine Zeit dauern, bis sie alle geöffnet waren. Doch sie hörte nichts. Sie wartete noch eine Minute, klopfte dann erneut und rief: »Hallo? Mrs Bristow?«
Auf einmal öffnete sich die Tür, die offenbar gar nicht verriegelt gewesen war, und es erschien eine hochgewachsene, aber gebrechlich aussehende schwarze Frau. Wie beim Anblick ihrer Tochter war Vicki auch jetzt völlig überrascht.
»Was ist los?«, sagte die ältere Frau. Sie sprach undeutlich, als sei sie schläfrig oder halb betäubt. Die kalte Luft, die ihr entgegenwehte, schien sie kaum zu bemerken, obwohl sie nur ein dünnes geblümtes Hauskleid trug. Ihr grau-weißes Haar stand ungekämmt von ihrem Kopf ab. In ihren Mundwinkeln stand Speichel, und ihre Lippen waren trocken und voller Bläschen.
»Mrs Bristow?«, fragte Vicki verblüfft.
Die braunen Augen ihres Gegenübers zeigten keine Reaktion. Sie waren tief in ihre Höhlen gesunken. In den Augen- und Mundwinkeln hatten sich Falten in die Haut gegraben. Gesicht und Körper sahen abgezehrt aus. Die Frau schwankte leicht und stützte sich mit ihrer knochigen Hand am Türknauf ab, um nicht umzufallen. Die dünnen Beine in Nylonkniestrümpfen schienen im nächsten Augenblick unter ihr nachzugeben. Vicki konnte nicht erkennen, ob dieser Körper vom Krebs, von Drogen oder von beidem zerstört worden war. Wenn diese Frau Mrs Bristow war, musste sie um die fünfundfünfzig sein, aber sie sah zwanzig Jahre älter aus. Vicki fragte sich, ob es sich um die richtige Adresse handelte.
»Sind Sie Arissa Bristow?«
»Ja, haben Sie was für mich?«, murmelte die Frau. Ihre Pupillen waren nur stecknadelkopfgroß und starrten Vicki an, ohne sie zu sehen. »Ich brauch was zu rauchen, was zu rauchen, ich brauch Stoff. Haben Sie nichts für mich, gar nichts?«
Also Drogen. »Ich wollte mit Ihnen reden. Über Reheema.«
»Reheema? Reheema?« Es klang, als hätte Mrs Bristow den Namen noch nie gehört.
»Ja, Ihre Tochter, Reheema. Darf ich reinkommen?«
Mrs Bristow öffnete die Tür und ging voran. Sie ließ die Tür offen stehen und schlurfte dann weiter, als ob Vicki nicht da wäre.
»Mrs Bristow?«, rief Vicki der verschwindenden Gestalt nach, ohne eine Antwort zu erhalten.
Ein kalter Zugwind wehte herein. Sie schloss die Tür und sah sich mit einem schnellen Blick in dem kleinen Wohnzimmer um. Da es keine Vorhänge gab und es nach Süden lag, beleuchtete die helle Sonne das traurige Bild, das es bot. Sie schien auf ein zerschlissenes braunes Sofa und einen blauen Liegestuhl mit Plastikbezug. Abfall, Zigarettenpapier und alte Zeitungen lagen auf dem dunkelroten Teppich verstreut, und in der Luft hing ein penetranter Geruch nach Zigarettenrauch und Müll. Es gab keinen Fernseher, keine Musikanlage, nicht einmal ein Radio, und es war fast so kalt wie draußen. Der altmodische weiße Heizkörper hatte mehrere Sprünge, aus denen schwärzliches Wasser auf den Boden sickerte. Die Heizung musste abgedreht worden sein, dann waren wahrscheinlich die Rohre geborsten. Vicki ging ins nächste Zimmer. Der Atem stockte ihr.
Mrs Bristow lag auf einer schmutzigen Matratze ohne Bezug. Ihre Augen waren geschlossen, der Unterkiefer hing herab.
Bitte stirb jetzt nicht. Vicki lief hastig zu ihr hin, betrachtete prüfend ihr Gesicht und hob ihr Handgelenk, um nach dem Puls zu suchen, als die Frau ein tiefes Schnarchen hören ließ. Vicki fuhr auf. Aber sie war erleichtert.
»Mrs Bristow?«, fragte sie leise und schüttelte sanft ihre Schulter. Aber sie erhielt keine Antwort. Wie konnte man eine solche Frau befragen?
Verdammt! Immer noch fassungslos sah sie sich im Zimmer um. Auf dem Boden lagen leere Flaschen, und das kleine Tischchen neben der Matratze war voller Crack-Utensilien: eine orangerote Glaspfeife, eine weitere Pfeife, Streichhölzer. Rosafarbene und violette leere Tütchen aus transparentem Papier.
Vicki hob eines der Tütchen hoch, und der süßliche Crack-Geruch stieg ihr in die Nase; sie hatte schon in etlichen Drogenfällen ermittelt, deshalb war ihr der Geruch vertraut. Ihr Blick wanderte automatisch zu Mrs Bristows Händen, die mit den Handflächen nach oben auf der Matratze lagen. Verbrannte Fingerspitzen, wo sie die heiße Glaspfeife gehalten hatte, bestätigten, was sie schon wusste: Diese Frau war seit langem von Crack abhängig; ob sie jemals Krebs hatte oder die Krankheit überwunden hatte oder ob das nur die Lügen waren, die Reheema ihrem Chef erzählt hatte, blieb vorerst unklar.
Vicki hatte viele Fragen, aber keine Antworten. Sie sah auf die Uhr – 16:45. Sehr bald würde Reheema aus der Haft entlassen, und vielleicht würde sie hierherkommen, um nach ihrer Mutter zu sehen. Vicki ließ die schlafende Mrs Bristow, wo sie war, und ging ins nächste Zimmer. Eine Viertelstunde später hatte sie sich im ersten Stock umgesehen, ohne etwas gefunden zu haben, was irgendeine Beweiskraft haben könnte. Überall lagen leere Schnapsflaschen herum, manche waren zerbrochen. Im Kühlschrank gab es nur Fast Food und Überbleibsel von geliefertem Imbiss-Essen. Die Schränke waren bis auf eine Konservendose mit Erbsen, ein paar einzelne Zigaretten, eine geöffnete Schachtel Cornflakes und eine Backmischung für Kürbiskuchen leer. Der klebrige Schmutz hatte Heere von Kakerlaken angezogen, die keine Anstalten machten, das Weite zu suchen, nicht einmal vor einer leibhaftigen Assistentin des Bundesstaatsanwalts.
Vicki vergewisserte sich, dass Mrs Bristow noch immer tief schlief, bevor sie sich noch einmal den ersten Stock vornahm. Neben der Treppe war ein kleines Badezimmer. Als sie hineinsah, überwältigte sie der Gestank menschlicher Exkremente, obwohl der Toilettendeckel geschlossen war. Der Boden war nass von Schmutz und Urin, aber es war glücklicherweise zu dunkel, um Genaues erkennen zu können. Im Waschbecken waren Rostflecken, und ein gefrorener Wassertropfen hing wie eine überdimensionale Träne vom Hahn herab. Der weiße Plastikabfalleimer voller Abfall und Toilettenpapier quoll über. Vicki überlief ein Schauder, und sie ging die Diele entlang zu dem Zimmer, das sich an der Rückseite des Hauses auf der Nordseite befand.
Hier war es dunkel und kalt wie überall, aber das Zimmer war leer und offenbar unbenutzt. Der Heizkörper war in zwei Teile auseinandergebrochen, und auch hier sickerte schwarzes Wasser auf den Boden. Bett und Matratze wie auch das Bettgestell fehlten, aber auf den Holzdielen zeigte ein dunkles Viereck, wo das Bett einmal gestanden hatte. In einer Ecke stand ein abgenutzter Couchtisch. Es gab keine Lampe, keine Kommode. Vicki verließ das Zimmer und ging in die Diele zurück. Wie in jedem typischen Reihenhaus musste es hier noch ein Zimmer geben, zur Vorderseite des Hauses gelegen.
Als sie die Tür öffnete, stellte sie fest, dass auch hier alles, was irgendeinen Wert hatte, fehlte und wahrscheinlich verkauft worden war. Auf dem Boden vor der Wand zeichnete sich ein großes Viereck ab, wo, dem sonnigen Fenster gegenüber, einmal ein Doppelbett gestanden hatte. Es gab keinen Teppich mehr, der Schrank war leer, und ein einsamer, schief stehender alter Sessel war die einzige Sitzgelegenheit. An der Wand daneben hatte wahrscheinlich einmal ein Schreibtisch gestanden, denn dort hing noch immer ein Korkbrett mit darangepinnten Gegenständen, die von besseren Zeiten kündeten.
Sie stammten offenbar von einer High School. Eine Urkunde der National Honor Society lautete auf den Namen REHEEMA BRISTOW. Ein großes rotes W, an dem Schleifen in Rot, Weiß und Blau angebracht waren, hing daneben. Auf einer Schleife stand in goldenen Lettern: PENNSYLVANIA JUGENDLAUF; und neben den Schleifen stand in kindlicher Handschrift: PERSÖNLICHE BEST-ZEIT: 800 Meter 2:15, 71. 1 Meile 5:02. Darunter, in derselben Handschrift: MEIN ZIEL: 800 Meter 2:11,1. 1 Meile 4:53.
Vicki begriff nicht. Reheema war eine gute Schülerin und ein As in den Laufwettkämpfen gewesen. Wann war sie von ihrem Weg abgeirrt? Wie hatte es so weit kommen können, dass sie schließlich im Gefängnis landete? Eingehend betrachtete sie ein Foto von Reheema in einem schwarzen Lauftrikot; ein anderes zeigte sie im Kreis ihrer Sportkameradinnen. Auf ihren Trikots stand »Willowbrook Lady Tigers«, und Vicki erinnerte sich: Willowbrook High war auch die Schule ihres Vaters gewesen! Er sprach nie von seiner Zeit dort, außer um zu berichten, dass er im Schachklub der Schule gewesen war, aber sie wusste, dass er seinen Abschluss an der Willowbrook High School gemacht hatte.
Ein weiterer Schnappschuss zeigte eine hübsche, lächelnde Reheema im Kreis von anderen Mädchen. Sie standen im Halbkreis vor einem alten Ford, über dem ein Bettlaken mit der Aufschrift: WIR SIND DIE BESTEN hing. Im Fahrersitz des Wagens saß eine hochgewachsene Frau mit einer reiferen Version der fotogenen Reheema-Züge und einem ebenso strahlenden Lächeln. Das musste Mrs Bristow gewesen sein, bevor sie zu einem Gespenst ihrer selbst geworden war.
Das Bild bewegte Vicki. Sie hatte geglaubt, etwas über Drogensucht zu wissen, aber ihr Wissen stammte aus den Fällen, mit denen sie es vor Gericht zu tun gehabt hatte, es war juristisches Wissen. Sie hatte die Sucht nie aus der Nähe gesehen, hatte nie gesehen, wie sie in eine Familie eindrang und sie zerstörte. In diesem Fall war nicht die Tochter die Süchtige, sondern die Mutter. Und für Vicki war ein Beschuldigter oder eine Beschuldigte immer der oder die »Angeklagte« gewesen; persönliche Nähe zu diesen Menschen war nie entstanden. Doch jetzt war plötzlich Nähe da. Sie ermittelte gegen eine junge Frau, die nur ein Jahr vor ihr selbst die High School verlassen hatte und die Mitglied der National Honor Society gewesen war, wie sie selbst. Eine junge Frau, die hart gearbeitet hatte und äußerst verlässlich gewesen war, wie sie selbst. Eine Leichtathletin, die aufgewachsen war unter Umständen, die Vicki nie hatte kennen lernen müssen; zum Beispiel hatte sie nie eine Mutter gehabt, die langsam, aber sicher zu Staub zerfiel. Und vielleicht ging es Mrs Bristow überhaupt erst so schlecht, seit ihre Tochter wegen eines illegalen Waffenverkaufs hinter Gitter gekommen war?
Was war hier los? Hatte Vicki Recht, oder irrte sie sich gründlich? War Reheema schuldig oder nicht? Konnte Vicki Mrs Bristow in irgendeiner Weise helfen? Noch immer ratlos, wandte sie sich von dem Korkbrett ab und verließ das Zimmer. Als sie die Treppe hinunterlief und von oben ins Erdgeschoss sah, wusste sie, dass die Antworten, die sie hatte, nicht die richtigen sein konnten.
Genau genommen hatte sie nicht einmal die richtigen Fragen.