Читать книгу Die Staatsanwältin - Lisa Scott - Страница 9
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ОглавлениеIm Erdgeschoss waren inzwischen noch mehr Leute versammelt, und Vicki steuerte durch alle Uniformen und Rangabzeichen hindurch geradewegs auf Bale zu, der seine Manschetten mit den glänzenden goldenen Manschettenknöpfen in der Luft herumwirbeln ließ, während er mit dem Leitenden Bundesstaatsanwalt Ben Strauss sprach. Strauss, ein einst blonder, jetzt ergrauter Mann mit dem Gardemaß von einem Meter dreiundachtzig, stand in seinem dunkelblauen Anzug ohne Mantel, den Kopf leicht gebeugt, neben ihm. Vicki hatte Strauss das erste und letzte Mal gesehen, als er sie als eine von fünf neuen Bundes-Assistenzstaatsanwälten bei der offiziellen Einführungsveranstaltung begrüßt hatte. Er hatte eine beeindruckende Karriere hinter sich, fünfundzwanzig Arbeitsjahre im Dienst der Justiz, auch wenn er, verglichen mit Bale, nur eine ganz triviale arische Abstammung vorweisen konnte; wenn man die beiden Männer nebeneinander sah, dachte man an eine Tüte mit Schokoladen- und Vanilleeis.
Bale sah Vicki zuerst. »Wie geht’s unserem Mädchen?«, fragte er, umschlang sie mit einem Arm und zog sie in ihre Mitte.
»Ich versuche durchzuhalten«, antwortete Vicki, und Strauss nickte ernst.
»Tut mir leid wegen Morty. Ich weiß, Sie beide waren befreundet.«
»Danke.«
»Er war ein großartiger Agent, einer der besten. Ich wollte Ihnen beiden schon eine E-Mail schreiben wegen des Edwards-Falles. Alle Achtung. Das war gute Arbeit.«
»Danke.«
»Und Sie beide waren ein gutes Team. Ich bin sicher, er hat Ihnen alles beigebracht, was Sie wissen, oder?«
»Und noch ein bisschen mehr.«
»Morty hat mich nie gemocht, das sollten Sie wissen.«
Vielleicht ist er doch nicht so charakterlos. »Mir gegenüber hat er so etwas nie erwähnt«, sagte Vicki, obwohl es nicht stimmte. Morty hatte Strauss wegen seiner großspurigen Art und seiner Effekthascherei den Medien gegenüber nie gemocht. Strauss heckte ständig Projekte aus, die er mit großem Pomp der Presse präsentierte und auf der Website des Justizministeriums publik machte: Projekt Sichere Straße, Projekt Sichere Schulen, Projekt Sichere Nachbarschaft. Mortys Spitzname für Strauss lautete, wie nicht anders zu erwarten: »Mr. Sicher«.
»Das freut mich. Na ja, vielleicht habe ich mich getäuscht. Das denke ich manchmal.« Ein wenig steif tätschelte Strauss Vickis Arm. Seine Augen waren rasierklingenblau.
»Vicki hatte eine harte Nacht«, sagte Bale in dem Bestreben, ihr viel positives Feedback zu geben.
»Das hatte sie ganz sicher, eine harte Nacht«, wiederholte Strauss, ins gleiche Horn stoßend. »Ich würde sagen, es war eine Feuertaufe, nicht? Vielleicht sollten Sie sich ein paar Tage frei nehmen. Morgen und das Wochenende.«
»Eigentlich frage ich mich die ganze Zeit, ob das hier etwas mit dem Fall zu tun hat, den ich gerade bearbeite. Illegaler Waffenhandel. Ich weiß, wir haben das Kokain gefunden, aber ich glaube, das Haus hier war ein Versteck. Jackson war keine Dealerin, jedenfalls hat sie bestimmt nicht mit solchen Mengen gehandelt. Ich glaube, sie hat das Zeug einfach gebunkert, um –«
»Ich bin auch zu diesem Schluss gekommen, und das ATF ebenfalls«, unterbrach Bale. Strauss’ blasse Augenbrauen hoben sich.
»Der Name ihres Freundes ist Jamal Browning.« Vicki wusste, dass sie vorlaut war, aber das fiel jetzt nicht mehr ins Gewicht. »Ich glaube, er hält sie aus, und vielleicht ist er der Vater ihres Kindes, weil auf der Kommode Rechnungen mit seiner Adresse lagen. Dass sie umziehen wollte, finde ich allerdings rätselhaft. Sie wollten nicht zusammenziehen, sonst hätte sie ihm die Rechnungen nicht per Post geschickt. Und wenn sie sich trennten –«
»Sie haben sich schon in die Ermittlungen gestürzt, hm?« Bales Lächeln signalisierte ihr, dass sie gefälligst den Mund halten sollte, aber Vicki kümmerte sich nicht darum.
»Ich glaube nicht, dass noch ein anderer Mann im Spiel ist. Erstens war sie ja schwanger, und da lernt man nicht so leicht jemanden kennen. Zweitens kleben die Fotos von ihrem Freund noch an ihrem Spiegel und –«
»Vick, wir diskutieren später über diese Sachen«, sagte Bale mit leiser Stimme. In seinen teuren Schuhen trat er unruhig von einem Fuß auf den anderen. »Hier ist nicht der richtige Ort dafür.«
»Finde ich auch.« Strauss sah sich um, ob irgendjemand ihnen zugehört hatte. »Hier gibt es zu viele Leute, die bei so etwas die Ohren spitzen.«
»Aber wir müssen uns beeilen.« Vicki senkte unwillkürlich die Stimme. »Jetzt ist alles noch ganz frisch, und im Grunde ist das hier ja ein Mordfall. Als ich noch beim Bezirksstaatsanwalt gearbeitet habe, haben wir immer –«
»Sie spielen jetzt in einer höheren Liga.« Bale runzelte die Brauen. »Wir sind Anwälte, keine Polizisten. Morty ist in sehr guten Händen, den besten. Die Mordkommission von Philadelphia hat schon die Arbeit aufgenommen, und sowohl das FBI als auch das ATF sitzen ihnen im Nacken. Sie werden alles tun, um die nötigen Erkenntnisse zu sammeln.«
»Das Büro des Bürgermeisters hat ebenfalls Interesse angemeldet.« Strauss sah auf die Uhr. »Ich werde ihn gleich unterrichten. Morgen früh gibt es eine Pressekonferenz.« Er wandte sich um und sah aus der offenen Tür. Vor dem Haus war alles hell erleuchtet von den starken Lampen der Fernsehsender, die live vom Tatort berichteten. »Da draußen geht’s zu wie in einem Taubenschlag. Dreifacher Mord, und einer der Toten war ein Polizist!« Er sah Vicki an. »Ich muss Ihnen das nicht extra sagen, oder? Absolutes Stillschweigen der Presse gegenüber.«
»Selbstverständlich.«
»Gut.« Strauss gab ihr einen Klaps auf die Schulter und nickte dann Bale zu. »Und wir reden morgen.«
»Wann immer es Ihnen recht ist.« Bale und Vicki sahen Strauss nach, wie er, eingerahmt von der offenen Tür, als schlanke, hochgewachsene Silhouette ins gleißende Lampenlicht hinausschritt. Sein Atem stieg als kleine Wölkchen in die kalte Luft. Ohne zu zögern ging er an der Stelle vorbei, wo Morty niedergeschossen worden war.
»Mögen Sie ihn, Chief?«, fragte Vicki, in Strauss’ Rückenansicht vertieft.
»Ich habe einem Beamten gesagt, er soll Sie nach Hause bringen«, erwiderte Bale. Seine dunklen Augen reflektierten das Fernsehlicht und die sich eilig bewegenden Schatten.
Kaum war Vicki aus der Tür getreten, traf sie die Neugier der Reporter wie ein Schwall eisiger Luft. »Vicki, bitte einen Kommentar!« »Vicki, können Sie uns den Killer beschreiben?« »Ms Allegretti, was hatten Sie hier zu tun?« »Wo waren Sie, als der Agent erschossen wurde?« »Vicki, was waren Mortons letzte Worte?«
Morty. Vicki eilte mit gesenktem Kopf durch die Menschenansammlung und winkte bei jeder Frage ab. Sie hatte auch früher schon hin und wieder dieses Spießrutenlaufen erlebt, wenn ihre Fälle das Interesse der Medien geweckt hatten, aber Strauss hatte Recht, das hier war eine andere Liga. Die Zahl der anwesenden Polizisten war doppelt so hoch wie bei normalen Fällen, es waren sogar Hunde und Pferde da, und die Medien waren von nationaler Größenordnung, was sie keinesfalls angenehmer machte.
»Stimmt es, dass die Frau schwanger war?« »Sollte heute Abend ein Drogendealer verhaftet werden?« »Warum war bei dem Einsatz keine Polizei dabei?« »Warum waren Sie am Tatort?« »Victoria, sehen Sie hierher! Nur ein Foto, bitte!«
Die Reporter drängten sich so dicht um sie, dass sie fast über das schwarze Kabel stolperte, das die grellen Lampen, die Mikrofone und surrenden Videokameras mit Strom versorgte. Auf einem Monitor erhaschte sie einen Blick auf sich selbst, ihren schwebenden, wie losgelösten Kopf vor dem Hintergrund des winterlich schwarzen Himmels. Es sah aus, als sei sie sogar noch kleiner als ihre tatsächlichen eins achtundfünfzig: eine Zwergin.
Ein uniformierter Polizist stand vor einem großen Wagen und winkte ihr zu. Der Verkehr auf der viel befahrenen, breiten Straße war auf die inneren Fahrbahnen umgeleitet worden, und hinter dem Polizeiwagen hielt eine Barriere aus Leichtmetallböcken Nachbarn und Gaffer auf Abstand, die, ungeachtet der frostigen Temperatur, schwatzten, rauchten und den wachhabenden Beamten Fragen zuriefen. Vicki wünschte, sie könnte erfahren, was diese Leute über Jackson, Jamal Browning und die Geschehnisse in diesem Haus wussten, aber in Hörweite der Medien konnte sie nicht mit Befragungen anfangen.
Die letzten Meter zum Wagen legte sie im Laufschritt zurück. Sie begrüßte den Polizisten, stellte sich vor und schlüpfte auf den warmen Rücksitz. Der Wagen fuhr los, die Menge wich zur Seite, und bald hatten sie die offene Straße erreicht und fuhren durch die Dunkelheit. Vicki schwieg. Sie versuchte, den Schmerz in ihren Flanken zu ignorieren. Und den schlimmeren Schmerz in ihrer Brust.
Nach einer Weile bog der Wagen rechts ab und folgte einer Straße, die sich am Wissahickon River entlangschlängelte. An hübschen alten Tudor-Häusern vorbei führte der Weg in ihre Siedlung, East Falls Mews, die sich stilistisch angeblich an den alten Häusern orientierte, in Wahrheit aber nur von moderner Einfallslosigkeit kündete. Ein Konglomerat von niedrigen Betonbauten mit falschen Ziegelfassaden und kitschigen Tudor-Türmchen säumte die neu gepflasterten Straßen; es war keine schicke Adresse, aber die Miete war niedrig, und das Haus befand sich gerade noch innerhalb der Stadtgrenze, was für den Job Bedingung gewesen war. In letzter Zeit hatte Vicki immer wieder über einen Umzug ins Stadtzentrum nachgedacht, damit sie sich öfter mit ihren Freunden treffen konnte, aber heute Abend war die Pflege ihres Freundeskreises das Letzte, was sie beschäftigte. Das heißt – bis zu dem Zeitpunkt, als der Polizeiwagen vor ihrem Haus hielt.
Denn zu ihrer Überraschung saß dort auf der Vortreppe, in der Kälte fröstelnd, genau der Mann, den sie zu sehen wünschte.