Читать книгу Die Staatsanwältin - Lisa Scott - Страница 6
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ОглавлениеVicki Allegretti hatte sich immer gefragt, wie es sich anfühlen würde, in den Lauf eines geladenen Revolvers zu blicken, und jetzt wusste sie es. Die Waffe war eine schwarze Glock, Kaliber neun Millimeter, und sie zielte genau auf ihr rechtes Auge. Vicki beobachtete die Szene wie abwesend, als ob das Ganze einer Frau zustoßen würde, die mehr Humor besaß als sie. Ich frag mich, ob schwarze Revolver einen dünner aussehen lassen, dachte sie.
Direkt vor ihr stand ein afroamerikanischer Teenager mit Rastalocken, der aussah, als sei er genauso erschrocken wie sie. Er war nicht älter als vierzehn Jahre, hatte einen kaum sichtbaren Anflug von Schnurrbart, und seine braunen Augen flackerten vor Angst. Er trat immer wieder von einem Bein aufs andere und scharrte mit seinen unförmigen Turnschuhen. Er trug weite Jeans und eine rote Baseballjacke. Gerade war er von oben heruntergekommen und stand nun wie angewurzelt auf der Treppe, als er Vicki am Fuß der Stufen sah. Sein geschockter Gesichtsausdruck bewies, dass er bis jetzt noch nicht viele Anwälte umgebracht hatte, aber vielleicht schon mal dabei gewesen war.
»Das ist nicht dein Ernst, Sportsfreund«, sagte sie mit erzwungener Ruhe. Die langen Finger des Jungen, die sich um den Griff des Revolvers krampften, schienen ein wenig zu zittern. Mit der anderen Hand schützte er etwas, das sich unter seiner Jacke bauschte. Offensichtlich hatte sie einen Grünschnabel bei einem Einbruch überrascht. Leider sah die Glock absolut funktionstüchtig aus. »Ich bin Staatsanwältin.« Na gut, ich habe nur eine Assistenzstelle beim Bundesstaatsanwalt. Aber diese Feinheit würde er doch nicht verstehen.
»W-was?« Der Junge schluckte, und seine Augen zuckten hektisch hin und her.
»Ich arbeite für die Justiz. Wenn du mich jetzt umnietest, ist es, als würdest du einen Polizisten umbringen.« Na schön, das stimmte nicht ganz, aber es sollte eigentlich so sein. »Wenn du mich erschießt, bist du dran. Und zwar nach Erwachsenenstrafrecht. Das heißt, sie werden die Todesstrafe für dich fordern.«
»Hände hoch, los!«, schrie der Junge und befeuchtete seine Lippen mit einer großen, trockenen Zunge.
»Okay. Gut. Ganz ruhig.« Vicki hob langsam die Hände. Sie kämpfte gegen den Impuls an, einfach wegzurennen. Wenn sie es täte, würde er ihr in den Rücken schießen; das Wohnzimmer war so klein, dass sie die Eingangstür nie erreichen würde. Vielleicht gelang es ihr, sich durch Reden zu retten. »Hör zu. Du willst doch nicht, dass aus einem Einbruch plötzlich Mord wird, oder? Das, was du da unter der Jacke hast, gehört dir. Nimm’s mit und sieh zu, dass du Land gewinnst.«
»Halten Sie den Mund!«
Vicki gehorchte, hielt die Hände oben und versuchte fieberhaft, sich irgendetwas einfallen zu lassen. Das hier durfte einfach nicht wahr sein! Sie war an diesem Abend in dieses unscheinbare Reihenhaus gekommen, um in einem unbedeutenden Fall von illegalem Waffenhandel eine Informantin zu kontaktieren. Das Treffen war reine Routine. Für Special Agent Bob Morton vom ATF (eine dem Justizministerium unterstellte Bundesbehörde zur Verfolgung von Vergehen im Bereich des Alkohol- und Tabakschmuggels sowie des illegalen Waffenhandels) war es sogar so unwichtig, dass er seine Zigarette draußen zu Ende rauchte, wo sein Auto stand. Würde sie den Jungen so lange hinhalten können, bis Morty wieder hier war? Und wo war die Informantin?
»Jay-Boy!«, schrie der Junge die Treppe hoch. Panik lag in seiner Stimme. »Jay!«
Vicki merkte sich den Spitznamen. Sie merkte sich jeden einzelnen Pickel auf dem Gesicht des Jungen. Sie würde hier nicht lebend rauskommen. Sie konnte nicht auf Morty warten. Sie musste irgendetwas tun.
»Jay! Wo bist du?«, rief der Junge und wandte sich halb zur Treppe, als Vicki ihre Chance erkannte. Sie packte den Lauf der Glock und drehte ihn nach oben. Im gleichen Moment kam Morty durch die Tür, und die ganze Welt explodierte.
»Morty, Achtung!«, rief Vicky. Die Glock bäumte sich auf und spuckte Feuer. Der Lauf versengte ihre Handflächen. Der Schuss zerriss ihr Trommelfell. Der Junge entwand ihr die Waffe, und sie verlor das Gleichgewicht. Gleichzeitig fiel ein weiterer Schuss. Nicht aus der Glock. Und nicht aus Mortys Waffe. Morty war zu nah. Vickis Schrei blieb ihr in der Kehle stecken, und sie sah an dem Jungen vorbei. Ein Mann mit Spitzbart und schwarzem Mantel schoss von der Treppe aus auf Morty.
»Nein!«, brüllte Vicki und stürzte sich auf die Glock. Aus dem Augenwinkel sah sie Morty, der mit schmerzverzerrtem Gesicht auf den Rücken fiel. Seine Arme öffneten sich wie die einer Puppe, und seine Waffe flog ihm aus der Hand.
»Nein!«, schrie Vicki noch lauter, als der Mann auf der Treppe weiterfeuerte. Ein zweiter Schuss, dann ein dritter und ein vierter schlugen in Mortys Brust ein, zerrissen den blauen Nylonstoff seiner Daunenjacke und ließen seinen Körper auf dem Boden zucken.
Vickis Herz klopfte unregelmäßig vor Angst, während sie mit dem Jungen um den Revolver rang. Er boxte sie in den Bauch, und sie krümmte sich vornüber und schnappte nach Luft. Sie ließ die Glock los und schlug zurück. Als sie seine Jacke zu fassen bekam, hielt sie sie so fest sie konnte.
»Loslassen!«, rief er und versetzte ihr einen weiteren und dann noch einen Schlag. Ihre Beine gaben nach, und sie fiel hin, atemlos vor Schwäche. Während sie fiel, hörte sie weit weg das Heulen einer Polizeisirene und den panischen Schrei des Jungen: »Jay, wir müssen weg! Jay!«
Gelähmt vor Schmerz, lag sie mit angezogenen Beinen auf der Seite. Tränen machten sie halbblind. Sie konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Sie hörte Schritte und keuchenden Atem, dann das Geräusch eines Schlaghahns, der gespannt wurde. Als sie ihre nassen Augen öffnete, fiel ihr Blick in die zwei tiefen schwarzen Löcher eines abgesägten Gewehrs. Eine heiße, gekräuselte Rauchfahne stieg von dem Lauf auf und füllte ihre Nase mit Brandgeruch. Es war der Mann mit dem Ziegenbart, der die Waffe auf sie richtete.
Mein Gott, nein. In einem letzten verzweifelten Versuch, sich zu retten, rollte sie sich zur Seite.
»Tu’s nicht, Jay, sie ist von den Bullen!«, brüllte der Junge. Dann: »Nein! Heb’s auf! Schnell!« Plötzlich bückten sie sich hastig, um Dinge aufzuheben, die auf dem Boden lagen. Die Beute musste dem Jungen aus der Jacke gefallen sein.
»Lass liegen, Teeg! Wir müssen weg!« Der Ziegenbart rannte schon, mit irgendetwas in der Hand. Der Junge lief in großen Sätzen hinter ihm her, sprang über Morty hinweg und aus der Tür hinaus, und plötzlich war es ganz still im Haus.
Morty. Vicki kam mühsam auf die Beine und stolperte quer durchs Wohnzimmer auf ihn zu.
»Morty!«, rief sie ängstlich, als sie ihn erreichte. Er lag mit immer noch weit ausgebreiteten Armen auf dem Rücken. Seine blauen Augen flackerten. »Morty, kannst du mich hören? Morty?«
Er gab keine Antwort. Sein Blick erreichte sie nicht. Seine klaren Gesichtszüge hatten sich aufgelöst, eine Schweißschicht bedeckte seine Stirn, und sein hellbraunes Haar war feucht. Blut kam glucksend aus seiner Brust und tränkte seine Jacke, deren Hellblau sich rasch in ein öliges Schwarz verwandelte, während das weiße Futter immer mehr rote Flecken bekam.
Nein, o Gott, bitte. Vicki kämpfte würgend gegen die Tränen. Sie legte die Handfläche auf die offene Wunde, wühlte in der Tasche ihres Regenmantels nach dem Handy, öffnete es und drückte die Schnellwähltaste für den Notruf. Als sich eine weibliche Stimme meldete, sagte sie: »Ich bin in der Maron Street 483, Nähe Roosevelt Boulevard! Ein Beamter ist bei mir. Jemand hat auf ihn geschossen.«
»Wie bitte?«, sagte die Frau am anderen Ende der Leitung. »Bitte, Miss, wie heißen Sie?«
»Allegretti! Machen Sie schnell, ein Ermittlungsbeamter ist hier angeschossen worden! Schicken Sie mir den Notarzt! Sofort!« Sie zog die Schultern hoch und drückte das Handy gegen ihr Ohr, während sie die Hand mit aller Macht auf Mortys Wunde presste. »Was soll ich tun? Man hat ihm in die Brust geschossen! Ich versuche, das Blut zu stillen, aber es kommt immer mehr!«
»Machen Sie weiter, und bewegen Sie ihn nicht«, antwortete die Frau. »Bleiben Sie ruhig. Ich rufe den Notarztwagen.«
»Danke! Machen Sie schnell!« Vicki drückte beide Hände auf Mortys Brust. Heiß und nass sprudelte das Blut zwischen ihren Fingern hoch. Mortys Lippen öffneten sich. Er versuchte, etwas zu sagen.
»Vick?« Seine Stirn legte sich in Falten. »Bist du’s?«
»Ja, ich bin hier. Ich bin’s.« Vicki spürte, dass ihr Herz schmerzte. Ihre Hände lagen auf der fürchterlichen Wunde. Wenn irgendjemand das hier überleben konnte, dann war es Morty. Er war fünfundvierzig und fit wie ein Turnschuh. Sein Training ging ihm über alles; er hatte sogar schon einen Marathonlauf mitgemacht.
»Was zum Teufel ... ist eigentlich ... passiert?« Eine wässrige pinkfarbene Blase bildete sich in seinem Mundwinkel. Vicki musste sich beherrschen, um nicht loszuheulen.
»Da waren zwei Jungen, als ich reinkam. Es war ein Einbruch. Die Tür stand offen, und ich dachte, jemand hätte gesagt, ich soll reinkommen –«
»Wie geht’s ... der Informantin?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht war sie gar nicht da.«
»Und du ... was ist mit dir?«
»Mir geht’s gut. Und dir wird es auch bald wieder gut gehen.« Die Blutblase platzte. Es war grauenvoll. Wenn sie ihm nur erlaubt hätte, im Auto zu rauchen. Wenn sie nur schneller nach der Waffe gegriffen hätte. Der Ziegenbart hatte sie nicht getötet, weil er geglaubt hatte, sie sei von der Polizei, dabei war Morty der Polizist. Das Handy klingelte, und die Frau sagte, dass der Notarztwagen noch zehn Minuten brauche. Vicki sagte: »Der Notarzt kommt gleich. Bitte halt durch. Bitte.«
»Komisch. Du hast immer gesagt, dass die Zigaretten ... mich umbringen würden.« Mortys Gesicht verzog sich zu einem schmerzvollen Lächeln.
»Du wirst es schon schaffen, Morty. Glaub mir, du kommst durch. Du musst es einfach schaffen.«
»Für eine Zwergin bist du ganz schön ... herrschsüchtig«, flüsterte Morty, und dann entspannte sich sein Lächeln plötzlich.
Und er hörte auf zu atmen.
Vicki hörte sich seinen Namen schreien. Dann ließ sie das Handy fallen und versuchte, ihn wiederzubeleben, bis die Polizei auftauchte.
Und alles nur noch schlimmer wurde.