Читать книгу Die Staatsanwältin - Lisa Scott - Страница 17
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Оглавление»Sie wollen Anwältin sein?«, fragte der Manager skeptisch, was Vickis Sorge zerstreute, er könnte sie aus dem Fernsehen wiedererkennen. Er hieß Mike Sowieso, war etwa fünfunddreißig und hatte Aknenarben im Gesicht. Über seinen Jeans trug er einen lumpigen blauen Pullover, und sein kurzes dunkles Haar war zu Stacheln gegelt, die aussahen wie eine verunglückte Krone. Seine Augen waren schmal und blau, seine Zähne nikotingelb. Vicki stand in der Tür seines winzigen fensterlosen Hinterzimmer-Büros, und er brauchte ziemlich lang, um sie von oben bis unten zu mustern.
»Ja, ich bin Anwältin«, antwortete Vicki.
»Sie sehen nicht wie eine Anwältin aus. Sie sind so klein.«
»Ich bin eine kleine Anwältin.«
Mike lächelte hinterlistig. »Haben Sie mal Kanzlei und Kaviar gesehen? Ich hab’s mir damals jede Woche angeschaut. Keine Ahnung, warum sie das aus dem Programm genommen haben.« Sie befanden sich im rückwärtigen Teil des Bennye’s, eines heruntergekommenen Schnellrestaurants in West Philly. Die getäfelten Wände waren mit alten Werbeplakaten, dem Kalender einer Heizölfirma aus dem Jahr 2001 und einem obszönen Pin-up-Poster bedeckt, das genau genommen das Dezemberbild des Heizölkalenders war. Es roch nach ranzigem Fett, und Vicki konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sogar die Luft klebrig war. Mike saß hinter einem kleinen, mit alten Zeitungen übersäten Schreibtisch. »Diese Blonde in Kanzlei und Kaviar war echt geil. Wissen Sie, wen ich meine?«
»Ja, die fand ich auch gut.« Vicki hatte nicht genug Zeit, um sich in tiefergehende Debatten über Seifenopern einzulassen. »Sagen Sie mir etwas über Reheema Bristow. Sie war hier Bedienung, oder?« Sie hatte es in der Akte gelesen.
»Wegen Reheema sind Sie hier?« Mike wurde plötzlich ganz heiter und straffte sich auf seinem schwarzen Plastikstuhl. »Warum haben Sie das nicht gleich gesagt? Wie geht’s ihr denn so?«
»Gut.« Nur weil sie mich davon abgehalten haben, sie zu erwürgen.
»Ich habe sie ein paar Mal besucht. Im Knast. Sagen Sie ihr einen schönen Gruß, ja?«
»Aber – ich bin nicht ihre –« Dann unterbrach sie sich. Mike glaubte, sie sei Reheemas Verteidigerin. Na gut, und wenn schon? »Okay, das mache ich. Ich richte es ihr aus.«
»Danke. Und viele Grüße auch an ihre Mom. Wie geht’s ihr?«
»Ihrer Mom? Gut.« Hoffe ich. »Also Sie sind ein Freund von Reheema, ja?« Vicki richtete sich nach den Vorlagen ihres Gesprächspartners, wie ein Fernseh-Psychiater. »Sie hat mir schon von Ihnen erzählt. Sie sagte, Sie würden mir gern Auskunft geben, wenn es ihr helfen würde.«
»Natürlich. Jederzeit. Fragen Sie nur.«
»Mir geht es vor allem um Hintergrundinformationen.« Vicki dachte einen Moment nach. »Ich glaube nicht, dass sie außer Ihnen sonst noch einen Kollegen erwähnt hat. Hatte sie denn keine anderen Freunde hier? Leute, die sie besser kannten. Sie kämen eventuell als Leumundszeugen in Frage.«
»Nein, eigentlich nicht. Wir haben immer nur eine Bedienung hier. Ich stand ihr als Chef wahrscheinlich am nächsten. Ich würde auch gern für sie aussagen.«
»Gut. Dazu kommen wir gleich.« Vicki kritzelte etwas auf ihren Notizblock. »Hatte sie übrigens einen Freund, wissen Sie das? Sie brauchen keine Hemmungen zu haben, was das betrifft.«
»Ein Freund? Reheema? Bestimmt nicht. Tagsüber arbeitete sie hier, und nachts putzte sie im Presby, dem Krankenhaus. Sie hatte keine Zeit für einen Freund. Und überhaupt war sie wie eine Nonne, wissen Sie.« Eine Nonne? Vicki blinzelte überrascht. »Ich weiß, das ist ja gerade das Ungerechte an dieser Anklage. Sie soll zwei Pistolen gekauft und sie weiterverkauft haben, um Geld zu verdienen.«
»Das ist wirklich das Letzte.« Mike schnaubte. »So was würde sie nie tun. Reheema war so eine Frau, wissen Sie, die sich um andere kümmerte. Ihre Mutter, die ganzen Gäste hier. Reheema war nicht so eine Ghettofrau wie andere Schwarze.«
Vicki äußerte sich nicht dazu. »Ich möchte noch etwas Wichtiges wissen. Warum hat sie so viel gearbeitet, hier und im Krankenhaus, obwohl sie doch studiert hat? Entschuldigen Sie die Frage.«
»Kein Problem. Ich weiß, das hier ist kein Vier-Sterne-Hotel. Ich glaube, früher hat sie bei der Stadt gearbeitet, als Sozialarbeiterin oder so, aber dann ist ihr gekündigt worden. Ich wusste auch die ganze Zeit, dass sie hier aufhören würde, wenn sich etwas Besseres fand.« Mike schüttelte den Kopf. »Dann wurde sie festgenommen. Was immer die ihr vorwerfen – sie hat es nicht getan.«
»Woher wissen Sie das? Ich meine, wie kann ich das beweisen?«
»Sie hat nie irgendetwas Schlechtes getan. Das beschwöre ich. Ich sag’s Ihnen. Reheema war die Beste.« Mike schob die Lippen vor, und Vicki las seine Gedanken. Er war in sie verliebt gewesen.
»Was würden Sie im Einzelnen sagen, wenn ich Sie in den Zeugenstand rufen würde?«
»Ich würde sagen, sie hat die Frühschicht gehabt, als ich hier anfing, hat jeden Morgen aufgemacht und das Lokal picobello sauber gehalten. Es war Verlass auf sie. Und sie hat sich um die Gäste gekümmert. Alle Gäste haben sie gemocht. Sie fragen heute noch nach ihr. Sie hat jeden Tag gearbeitet, sieben Tage die Woche, war immer pünktlich. Nur einmal hat sie gefehlt, als ihre Mutter krank war. Das waren vier Tage in zwei Jahren.«
»Was für eine Krankheit hatte ihre Mutter?«
»Krebs. Ihre Mutter war auch irgendetwas Hohes in der Kirche.« Mike legte seinen stachligen Kopf schief. »Haben Sie das nicht gewusst, dass sie Krebs hat?«
Achtung! »Natürlich, sie hat es mir gesagt, aber sie hat keine Einzelheiten erwähnt. Reheema spricht nicht gern über private Dinge.«
»Ja, sie hält den Mund, sie ist wirklich ein Schatz. Sie ist ein wunderbarer Mensch, innerlich und äußerlich.« Mike hing seinen Gedanken nach, und für Vicki war es nicht schwer zu erraten, in welche Richtung diese Gedanken gingen, aber dorthin wollte sie ihm nicht folgen. »Und alle Gäste waren von ihr begeistert.«
»Ja.«
»Und wenn sie den Männern einen Korb gab, war sie nicht grob, nicht verletzend. Und wenn welche mal handgreiflich wurden oder betrunken hierherkamen, damit konnte sie auch umgehen.« Mike straffte sich noch einmal. »Sie müssen sie da rausholen. Und sagen Sie ihr, sie kriegt ihren alten Job wieder, wann immer sie will. Ich hab prima verdient, solange sie hier war. Niemand kam wegen des Essens hierher.«
»Sehr gut, danke. Hat sie Ihnen gegenüber jemals von einer Freundin namens Shayla Jackson gesprochen?«
»Nein.«
»Es war ihre beste Freundin«, sagte Vicki zunehmend verwirrt.
»Den Namen habe ich nie gehört.«
Verdammt. Waren Jackson und Bristow befreundet oder nicht? Irgendjemand log oder wusste nicht, was stimmte. »Und Jamal Browning?«
»Nein.«
»Jay-Boy oder Teeg?«
»Nein. Sie hat nie über irgendjemand anderen als über ihre Mom geredet. Sie war eine Einzelgängerin.«
»Wie ist sie dann Ihrer Meinung nach in das alles hineingeraten? Haben Sie irgendeine Idee dazu? Hat die Anklage überhaupt nichts mit ihr zu tun?«
»Manchmal denke ich tatsächlich darüber nach. Ganz sicher hat sie das nicht verdient, was ihr da zugestoßen ist. Ich glaube, es ist eine Verschwörung.« Mike sog an seinen Zähnen. »Wahrscheinlich braucht irgendjemand einen Sündenbock. Das hab ich ihr auch geschrieben, auf meiner letzten Weihnachtskarte. Hat sie nichts davon gesagt?«
»Von Ihrer Weihnachtskarte? Doch, davon hat sie gesprochen. Sie sagte, das sei sehr aufmerksam von Ihnen gewesen.«
»Ich habe auch ihrer Mom eine geschickt. Wie jedes Jahr.«
Vicki kniff die Augen zusammen. Er sah kaum aus wie jemand, der eine Weihnachtskartenliste führt, vor allem keine, auf der auch kranke Mütter Platz fanden. Er musste wirklich sehr in Reheema verliebt gewesen sein. Vielleicht mehr als ich in Dan. Erst seit sie in diesem Fall ermittelte, war ihr aufgefallen, wie lächerlich ihre Liebe zu Dan eigentlich war.
»Hat sie die auch erwähnt? Meine Karte an ihre Mom?« Mikes Brauen hoben sich hoffnungsvoll. »Ich frage nur, weil ich ein paar Dollar dazugelegt hatte, na ja, als Weihnachtsgeschenk.«
Vicki hatte eine Idee. »Sie hat nie etwas von der Karte an ihre Mutter gesagt. Das kommt mir komisch vor. Sind Sie sicher, dass Sie die richtige Adresse hatten? Wenn Sie Bargeld an eine falsche Adresse schicken, wird sie es nie bekommen.«
»Hm, das stimmt wahrscheinlich«, sagte Mike und beugte sich vor, um in einer schmutzigen, altmodischen Rollkartei zu blättern. Er arbeitete sich durch die weißen, mit Kugelschreiber beschrifteten Karteikarten, bis er die richtige Karte fand. Vicki machte einen Schritt nach vorn, um ihm über die Schulter zu sehen. »Hier ist sie«, sagte er. »Arissa Bristow. 6847 Lincoln Street. Das ist in West Philly.«
»Klingt in Ordnung.« Vicki merkte sich die Adresse. »Ich werde Reheema noch mal danach fragen.«
»Das wäre gut.«
»Noch etwas«, sagte Vicki, in Gedanken vertieft. Nichts von all dem ergab einen Sinn. Reheema verdiente nicht viel in diesem schäbigen Lokal, sie hatte also offensichtlich ein Motiv, sich durch den Waffenverkauf zusätzlich Geld zu verschaffen. Aber die Einzelheiten passten nicht ins Bild. Reheema konnte als Waffenverkäuferin durchgehen, aber es war schwer zu glauben, dass eine sozial engagierte Frau mit kirchlichem Hintergrund mit dem Mord an einer Informantin zu tun hatte. »Ist schon einmal jemand hier gewesen, der sich nach Reheema erkundigte?«
»Nein.«
»Keine Polizisten, Detectives?«
»Nein.«
»Oder Beamte des FBI?«
»Nein.«
»Oder ein anderer Anwalt? Ein Mann namens Melendez, oder jemand, der für ihn arbeitet?«
»Nein.«
»Na gut, danke«, sagte Vicki. Rätsel über Rätsel. Wie würde Melendez Reheemas Verteidigung aufbauen? »Ich bin Ihnen für Ihre Hilfe sehr dankbar. Und Reheema natürlich auch.«
»Kein Problem.« Mike stand ritterlich auf. »Wissen Sie, ich glaube nicht, dass Reheema überhaupt wüsste, wie man mit einer Waffe umgeht.«
Und eine Minute lang glaubte Vicki das auch, obwohl sie Beweise dafür hatte, dass Reheema zwei Pistolen gekauft und weiterverkauft hatte.
Es gab offenbar noch eine Menge Arbeit zu erledigen.