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Nach seinem Heim und dem, was Alice Parker sonst gesehen, hatte sie sich ein äußerst würdevolles Bild von dem Herrn des Hauses gemacht, aber der Mann, der ihr mit ausgestreckten Händen und etwas befangenem Blick entgegenkam, entsprach diesem Bilde auch nicht in einem Zuge. Alice war nicht klein, aber Mr. Norman überragte sie mit seiner breitschultrigen Männlichkeit noch um einen guten Kopf. Diese Stattlichkeit war aber auch das einzig Gesetzte an ihm. Sein frisches, offenes Gesicht hatte bei aller Energie, die daraus sprach, einen fast jungenhaften Zug, der durch das schalkhafte Licht in den lebhaften grauen Augen noch verstärkt wurde.

Luke Norman umfaßte das verwirrte junge Mädchen mit einem raschen besorgten Blick, dann griff er auch schon nach dem Arm, den die bisherige Führerin mit einem strahlenden Lächeln freigegeben hatte, und geleitete Alice zu einem Sessel an einem gedeckten Teetisch, wo er sie mit so zarter Rücksicht niederdrückte, als ob es sich um eine äußerst schonungsbedürftige Rekonvaleszentin handelte.

Alice Parker war noch immer so benommen, daß sie alles widerstandslos geschehen ließ und kein Wort hervorbrachte. Das war auch nicht notwendig, denn zunächst hatte der so jugendlich wirkende Herr des Hauses das Bedürfnis, sich den Schreck der letzten Stunden völlig vom Herzen zu reden.

»Gott sei Dank, daß es so glimpflich abgelaufen ist«, sagte er mit einem tiefen Atemzuge und versuchte ein Lächeln, das aber nicht recht gelingen wollte. »Ich – ich« – er tupfte sich mit dem Taschentuch die Stirne – »wäre nie darüber hinweggekommen, Miß, wenn Ihnen etwas geschehen wäre …«

Das klang so ehrlich, daß Alice sich der ganzen Schwere ihrer Schuld bewußt wurde und endlich die Sprache wiederfand. »Verzeihen Sie«, sagte sie kaum hörbar und mit gesenkten Lidern. »Ich habe Ihnen durch meine Unvorsichtigkeit große Unannehmlichkeiten bereitet.«

Er sah sie einen Augenblick seltsam forschend an, dann schüttelte er den Kopf. »Ich habe Ihnen nichts zu verzeihen, Miß, sondern einzig und allein Sie mir. – Der Fahrer muß mit allen Möglichkeiten rechnen. Nun habe ich zwar nicht selbst am Steuer gesessen, aber es war mein Wagen, und ich war mit dabei.« Er machte eine erledigende Geste. »Aber sprechen wir nicht mehr davon. Sie sitzen ziemlich wohlbehalten vor mir, und das ist die größte Freude, die ich in meinem Leben je empfunden habe …«

Er legte in einem jähen Impuls seine gepflegte Männerhand auf die zarten Mädchenfinger, die unruhig am Tischtuch nestelten, und auch darin lag so viel warmes Empfinden, daß die Vertraulichkeit Alice nicht im geringsten unangenehm berührte.

»So, und nun werden wir rasch noch zusammen eine Tasse Tee trinken«, fuhr der junge Mann fort. »Ich kann mir zwar denken, daß Sie heim wollen, aber diese Bitte müssen Sie mir erfüllen.«

Alice war eine derartige Verlängerung ihres Aufenthaltes in dem fremden Hause gar nicht willkommen, aber in diesem Augenblick wurde bereits serviert, und es hätte höchst albern ausgesehen, wenn sie nun weggelaufen wäre.

Mr. Norman verabschiedete den Diener durch einen Wink und ließ es sich nicht nehmen, seinen noch immer höchst verlegenen, aber allerliebst aussehenden Gast selbst zu bedienen. Dabei plauderte er in seiner frischen Art weiter und wurde immer befreiter und aufgeräumter.

»Ich bin Ihnen sehr dankbar, daß Sie mir noch ein Weilchen Gesellschaft leisten. Allein hätte es mir nach diesem furchtbaren Schreck gar nicht geschmeckt, obwohl ich seit dem Lunch noch nichts zu mir genommen habe. Und Sie müssen mir ja auch noch Ihren Namen und Ihre Adresse sagen.«

Alice, die bisher zerstreut in ihrer Tasse gerührt hatte, schrak jäh auf und hatte einen bestürzten und scheuen Ausdruck in den Augen. »Das ist doch wohl nicht von Bedeutung«, lispelte sie nach einigem Zögern und wurde noch verwirrter, weil sie sich der Unhöflichkeit dieser Antwort völlig bewußt war. Aber sie konnte nicht anders.

Ihr Gastgeber ließ sich jedoch damit nicht abfertigen. »O doch«, sagte er sehr ernst, »es ist von Bedeutung. Ich habe die Pflicht, mich darum zu kümmern, gegen wen ich derartige Verbindlichkeiten habe.«

»Verbindlichkeiten?« wiederholte Alice verwundert, und zum ersten Male trafen sich ihre Augen mit denen des jungen Mannes, in denen es ganz eigenartig leuchtete.

»Gewiß. Eine ganze Reihe sehr schwerwiegender Verbindlichkeiten.« Er zählte diese nachdrücklich an den Fingern auf. »Erstens habe ich Sie in Lebensgefahr gebracht. – Zweitens habe ich Ihnen schmerzhafte Verletzungen zugefügt und drittens namhaften Sachschaden verursacht. Man hat mir gemeldet, daß Ihr Mantel und Ihre Strümpfe zerrissen sind, und daß auch das Kleid und der Hut gelitten haben. – Für alle diese Dinge – soweit sie sich überhaupt gutmachen lassen – bin ich natürlich haftpflichtig. Nur die puritanischen Versicherungsleute sind der Ansicht, daß eine Dame auch in gestopften Sachen herumlaufen könne, obwohl keiner dieser filzigen Gentlemen sich getrauen würde, dies seiner eigenen Frau zuzumuten.«

»Von allem dem kann natürlich keine Rede sein«, erklärte das junge Mädchen abweisend, aber der sehr entschiedene und geradezu unfreundliche Ton machte gar keinen Eindruck.

»O doch, davon muß die Rede sein«, sagte der junge Mann wiederum noch entschiedener. »Wenn schon nicht um Ihretwillen, so um meinetwillen. Ich darf über diese ernste Sache nicht leichtfertig hinweggehen. Sie müssen nämlich wissen, Miß, ich bin Rechtsanwalt. Rechtsanwalt Luke Norman, und mein Büro ist II, Chancery Lane, erste Treppe rechts, Halbstock. Und wenn eine Dame, der das gleiche passiert wäre, wie heute Ihnen, zu mir käme, so würde ich dem rücksichtslosen Fahrer einen Prozeß anhängen, von dem er wenig Freude haben würde. Da darf ich natürlich in unserem Falle keine Ausnahme machen. – Und wenn Sie mir nicht Gelegenheit dazu geben, bleibt mir nichts anderes übrig, als einen Konstabler herbeirufen zu lassen und ihm zu sagen: ›Ich habe diese junge Dame umgefahren, bitte, stellen Sie ihre Persönlichkeit fest.‹ – Und dann werde ich nicht nur alles auf den Penny gutmachen müssen, sondern zum großen Vergnügen vieler Leute auch noch eingesperrt werden, denn in solchen Dingen verstehen unsere braven Richter keinen Spaß. – Und das werden Sie doch nicht wollen, Miß …??«

Es war schwer zu erraten, ob der beredte Mr. Norman alle diese Dinge ernst oder scherzhaft gemeint hatte, aber in Alices Ohren war nur die Bemerkung von dem Konstabler haftengeblieben, die sie derart in Angst versetzte, daß sie lieber auf die letzte stumme Frage Antwort gab.

»Parker – Alice Parker …« preßte sie hervor.

»Alice Parker …« wiederholte der junge Anwalt und wog den Klang des Namens mit sichtlichem Wohlgefallen ab. »Sehr nett – und weiter?«

»Ich – wir haben eine Schreibstube in Finch Lane – in der Nähe der Börse …«

»Oh – also selbständige Unternehmerin – bravo!«

Mr. Norman lächelte so gewinnend, daß Alice zwar die Angst verlor, aber nicht ihre Befangenheit. Sie kränkte sich darüber, denn man mußte sie für eine schrecklich einfältige Person halten, konnte jedoch die Hemmungen in sich nicht überwinden. Die letzten Monate hatten ihr alle Sicherheit geraubt, und jeder Verkehr außerhalb ihres Berufskreises flößte ihr derartiges Bangen ein, daß sie solchen Gelegenheiten ängstlich aus dem Wege ging.

Luke merkte die düstere Falte zwischen den seidigen dunklen Brauen und das immer nervöser werdende Spiel der zierlichen Finger, deutete diese Zeichen aber harmloser.

»Natürlich sind Sie sehr abgespannt, Miß Parker«, sagte er mit einem warmen Blick, »und es wäre unverantwortlich von mir, Sie noch länger aufzuhalten. – Wohin darf ich Sie also bringen?«

»Oh, ich fahre allein nach Hause«, wehrte das junge Mädchen erregt und abermals sehr entschieden ab, aber Luke Norman richtete sich zu seiner vollen Höhe auf.

»Daran ist nicht zu denken. Ich will sicher sein, daß Sie wenigstens so heil heimkommen, wie Sie jetzt vor mir sitzen. – Also wohin? – Finch Lane?«

»Nein«, hauchte Alice Parker nach kurzem Zögern, »Leadenhall Market …« und noch in den langen schlaflosen Stunden der folgenden Nacht beschäftigte sie die Frage, was es eigentlich gewesen war, was sie so nachgiebig gestimmt hatte …

Der Skorpion

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