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MEINE EIGENE GESCHICHTE DES SELBSTVERLUSTES

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Als ich Anfang zwanzig war und in besagte Beziehung rutschte, kannte ich das Spiegelprinzip noch nicht. Mir waren weder Co-Abhängigkeit noch Aufopferung oder Muster unsicherer Bindung ein Begriff. Ich hatte keine Ahnung davon, wie viele Lasten wir von unserem Gegenüber übernehmen können, ohne uns dessen bewusst zu sein, dass es nicht unsere Lasten sind. Die Unfähigkeit, loslassen zu können, hing für mich damit zusammen, dass es nun halt mal Liebe war und wir füreinander bestimmt waren. Dass diese Unfähigkeit, loszulassen, sehr oft auf energetischen Verstrickungen und Co-Abhängigkeiten basiert, die wir mit sicherer Bindung verwechseln, kam mir nicht mal ansatzweise in den Sinn. Ich war damals überzeugt, diese Beziehung wirklich zu wollen, und ich war bereit, dafür alle erdenklichen Opfer zu bringen. Und während ich diesen Menschen heute noch – auf einer anderen Ebene – wirklich liebe und wertschätze, war ich damals weit davon entfernt, ihn wirklich als das zu sehen, was er ist. Damals war ich wie besessen, da ich mit allen Mitteln geliebt werden wollte.

Ich will es nicht beschönigen: Diese Beziehung vereinte alle Symptome unsicherer Bindung und war – wie ich später erst in aller Tiefe herausfand – eine totale Retraumatisierung für mein System. Das heißt, sie aktivierte Verletzungen und Wunden in mir, von denen ich nicht mal wusste, dass sie existierten. Dabei war ich meiner Wahrnehmung nach niemand, der sich in Beziehungen einfach so wegwerfen würde: Ich wollte gesehen werden. In meinem Wert erkannt werden. Wollte, dass mein Gegenüber zärtlich zu mir war und zu mir stand. Gleichzeitig wollte ich für mein Gegenüber da sein, zärtlich, helfend und heilend.

Dennoch war ich nach ein paar Monaten in einer Beziehungsdynamik gefangen, in der ich verbissen um Liebe und Wertschätzung kämpfte, die mir mein Gegenüber nicht zu geben bereit war. Anstatt damals loszulassen und zu erkennen, dass ich hier Liebe offensichtlich mit einem Kampf um Liebe verwechselte, versuchte ich stattdessen, nur noch mehr zu beweisen, wie liebenswert ich war. Ich brachte immer mehr Opfer und stellte meine Bedürfnisse immer mehr hintan, stets mit der Bemühung, ja nicht zu viel, ja nicht zu fordernd und ja nicht zu kompliziert zu sein, um keine weitere Ablehnung und Distanz zu riskieren. Kurzum, ich hatte meine Identität verloren, die Verbindung zu meinen eigenen Grenzen und Bedürfnissen. Und ich begriff dabei die eine Sache nicht, die eigentlich offensichtlich war: In meinem Kampf um Liebe und in der Bemühung, mich ganz den Erwartungen und Bedürfnissen meines Gegenübers anzupassen, setzte ich mein Gegenüber energetisch noch mehr unter Druck, mir etwas zu geben, was nicht gegeben werden konnte. Wer sich selbst so sehr verliert, wie ich es damals getan habe, der rutscht zwangsläufig in eine Bedürftigkeit, die keine gesunde Beziehung jemals in der Lage ist, wirklich aufzufangen.

Ich selbst befand mich in einem Teufelskreis: Je mehr sich mein Gegenüber von mir distanzierte, desto panischer wurden meine Bemühungen, mich seinen Bedürfnissen anzupassen. Und je mehr ich mich verstellte, mich selbst aufgab und versuchte, etwas zu sein, was ich nicht war, desto fragiler wurde mein Selbstwert und desto unattraktiver wurde ich für mein Gegenüber. Sein ständiges »Jein!« hatte meinerseits stets ein »Ich mache alles, damit du mich liebst!« zur Folge. Je abhängiger und bedürftiger ich wurde – und mein Gegenüber spürte das genau, obwohl ich alles daransetzte, so autonom wie möglich zu wirken –, desto mehr stieß mein Gegenüber mich weg. Niemand von uns beiden sprach das Offensichtliche aus. All dies geschah auf einer subtilen energetischen Ebene von Angst, Schuld, Aufopferung, Ablehnung und Retraumatisierung, über die wir uns gegenseitig spiegelten und in der ich die Rolle des undankbaren Abhängigen einnahm, der alles machte, um sich den Bedürfnissen des Gegenübers anzupassen, und statt Liebe und Wertschätzung immer nur wieder Ablehnung erntete.

Ich hatte vollständig die Kontrolle über mein Leben verloren und lebte das Musterbeispiel einer völlig entgrenzten Beziehung. Wie konnte es nur so weit kommen?

Wir alle kennen die Redewendung »Die Chemie stimmt«. In unserem Fall traf das auch zu. Die Körperchemie stimmte. Unser jeweiliges Traumaprofil und die dahinterliegenden Verletzungen passten zueinander. Auch unsere höheren Potenziale und Fähigkeiten waren in gewisser Hinsicht ähnlich, aber eben zu sehr von den Verletzungen gedeckelt, die wir in der Beziehung ausagierten. Wir waren wirklich der optimale Spiegel füreinander und verwoben uns in dieser Beziehung hauptsächlich über unintegrierte verletzte Anteile, die in dieser Beziehung irgendwie versuchten zu überleben und die alle zur Verfügung stehenden Bewältigungsstrategien aktivierten. In meinem Fall waren das Aufopferung, Anpassung und ein aussichtsloser Kampf um Liebe, den ich nicht gewinnen konnte. Im Fall meines Gegenübers waren das Distanz, Nähevermeidung und Zurückweisung. Was war ich damals wütend auf mein Gegenüber. Allzu oft hatte ich Gedanken wie: Ich reiße mir hier ständig den Arsch auf und niemand sieht es. Ich versuche, alles für diese Beziehung zu geben, und niemand sieht es. Ich versuche, genau so zu sein, wie man es von mir erwartet, und niemand sieht es. Ich fühlte mich ohnmächtig und in der Rolle des Opfers, das alles machte und trotzdem nicht gesehen wurde. Allein daran hätte ich eigentlich erkennen müssen, dass ich dabei war, altbewährte Programme meines Familiensystems zu wiederholen. Damals allerdings hatte ich noch nicht die Kapazitäten, dies zu erkennen, geschweige denn es zu heilen.

Damals war ich extrem wütend – sowohl auf mein Gegenüber als auch auf mich selbst. Heute sehe ich: Wir führten diese unsichere, instabile Beziehung nicht, weil es uns an Willensstärke fehlte, etwas Besseres für uns einzufordern, oder weil wir manipulative Menschen waren, die Spaß daran hatten, Spielchen miteinander zu spielen. Nein: Wir führten diese Beziehung aus verwundeten, traumatisierten inneren Anteilen heraus. Jeder von uns beiden war ein zersplittertes Selbst, dem es an einer sicheren Bindung mit den eigenen Grenzen und Bedürfnissen fehlte. Unsere Körperenergiesysteme kannten keine Muster sicherer Bindung und wiederholten kindliche Beziehungsdynamiken von Überanpassung, Aufopferung und gleichzeitiger Panik vor wirklicher Intimität, weil wir uns beide für nicht liebenswert genug empfanden, für das geliebt zu werden, was wir wirklich sind. Wir hatten beide nie eine sichere Bindung erfahren, in der sich zwei Individuen miteinander verbinden und gleichzeitig mit sich selbst verbunden bleiben. Wir kannten es nicht, dass man für sich selbst Verantwortung übernimmt – für die eigenen Emotionen, Bedürfnisse und Grenzen.

Stattdessen lebten wir die unsicheren, ambivalenten Bindungsmuster unserer verletzten Inneren-Kind-Anteile, die ausschließlich am emotionalen Ruder dieser Beziehung saßen. Weil ich abhängig war, konnte mein Gegenüber nur unabhängig sein. Weil ich mich aufopferte, konnte mein Gegenüber nur egoistisch und abweisend sein. Weil ich so viel hineinprojizierte und um Zuwendung kämpfte, konnte mein Gegenüber nur flüchten vor all den Erwartungen und Rollen, die ich überstülpte. Weil ich mich selbst so sehr hinterfragte, konnte mein Gegenüber nicht anders, als an mir und der Beziehung zu zweifeln. Und weil ich eifersüchtig war, konnte mein Gegenüber nicht anders, als vollkommen gleichgültig zu sein. Wir lebten das Prinzip unsicherer und ambivalenter Bindung.

In solch einer Bindung gibt es immer nur Extreme, sei es in den Rollen, die die beteiligten Individuen in der Beziehung als Kontrast zum Gegenüber einnehmen, oder in der eigenen Gefühlswelt, im eigenen Selbstbild und der Wahrnehmung der Beziehung zum Gegenüber. Es existiert kein Fundament von nährender Vertrautheit, auf dem man sich nicht nur über Leidenschaft und Projektion, sondern auch über ehrliche Freundschaft miteinander verbindet. Es ist wie eine Droge, die dem Körperenergiesystem eine absolut verdrehte Version von Liebe suggeriert, die zu einer destruktiven Gewohnheit werden kann. Denn Verlustangst, Aufopferung, Sehnsucht und der Rausch der Verschmelzung haben eines gemeinsam: Sie sind intensiv! Sie wühlen auf – ins Positive wie ins Negative. Sie suggerieren einen permanenten Zustand von Ungewissheit und Angst.

Ich brauchte viele Jahre, um vollständig zu begreifen, was in dieser Beziehung eigentlich mit mir geschehen war. Doch irgendwann fügten sich alle Informationen wie ein Puzzle zusammen. Da erst war ich in der Lage, den Mythos »toxische entgrenzte Beziehung« auf emotionaler, energetischer und körperlicher Ebene zu entschlüsseln und meinen selbstheilerischen Prozess in eine Richtung zu lenken, die mir half, diese Muster zu transformieren.

Doch welche Ursachen liegen dieser instabilen Form von Bindung zugrunde? Und wie können wir sichere Bindung in unserem Leben etablieren?

Liebe kennt deine Grenzen

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