Читать книгу Liebe kennt deine Grenzen - Ludwig Schwankl - Страница 20

Wenn unser System nur Referenzerfahrungen kennt, in denen wir uns verlassen, abgelehnt, unterdrückt oder nicht gesehen gefühlt haben, dürfen wir geduldig und liebevoll mit uns sein, wenn es darum geht, neue Bindungsmuster zu entwickeln. Wer sich jahrelang in toxischen Beziehungen verwickelt hat, wird erstaunt sein, wie geerdet, sicher und solide sich eine Beziehung anfühlen mag, die auf sicherer Bindung beruht. Vielleicht wird diese Sicherheit sogar zunächst mit Langeweile und Leidenschaftslosigkeit verwechselt.

Ich möchte Menschen, die immer wieder ungesunde Bindungsmuster bedient haben, dazu animieren, das Beziehungshopping – also von einer Beziehung direkt in die nächste zu gehen, wie es sehr oft praktiziert wird – für eine Weile einzustellen und sich wirklich einer Phase des Alleinseins zu verpflichten, in der sie komplett ausnüchtern, heilen und die Beziehungsdroge loslassen können, an der sich ihr System immer und immer wieder berauscht hat. Gib dir die Zeit, integrer, heiler, ganzer und vollständiger zu sein, bevor du dich auf weitere Beziehungsabenteuer einlässt, und gib deinem System die Zeit, sich in Sachen Beziehung neu zu kalibrieren.

Wer lange Jahre in ungesunden Beziehungen war, wird feststellen, dass das System sogar noch nach Monaten oder Jahren immer wieder neue unverarbeitete Emotionen ans Tageslicht holt, die erst jetzt verarbeitet werden können, weil es auf dem Tretminenfeld ungesunder Beziehungen damals schlichtweg an den notwendigen Kapazitäten fehlte. Das ist vollkommen normal und dient einem organischen, gesunden Prozess des Loslassens, in dem Emotionen einfach gefühlt und verarbeitet werden dürfen. Wir dürfen uns dabei daran erinnern, wie viel Schmerz wir teilweise unterdrücken mussten, um in ungesunden Beziehungen irgendwie zu funktionieren, und wie viele emotionale Energie die Muster bedient haben. Diese Energie kann jetzt endlich entladen werden.

Je mehr wir uns diesem Gesundungsprozess verpflichten, je mehr Raum und Weichheit wir uns dabei schenken, desto mehr werden wir feststellen, dass auch die Menschen, die wir in unser Leben ziehen, selbstreflektierter, weicher und liebevoller mit uns umgehen – ganz einfach aus dem Grund, weil wir es selbst mit uns tun. Indem wir eine weiche, sichere, liebevolle Bindung mit uns selbst eingehen, kreieren wir einen Resonanzboden dafür, dass solche Beziehungen auch in unser Leben kommen können. Unser System gewinnt dann mehr und mehr Kapazitäten der Empfänglichkeit für wirkliche Nähe, die wir zuvor mit Aufopferung und Kampf verwechselt haben.

Natürlich heißt das nicht, dass uns jegliche Form negativer Erfahrung vollends erspart bleibt. Trotzdem – und das ist das Wichtigste – werden wir immer größere Kapazitäten darin entwickeln, NEIN zu sagen zu Partner*innen und Mustern, die uns nicht guttun. Wir bemerken, dass wir mehr für unsere Bedürfnisse und Grenzen einstehen und uns nicht mehr offensichtlich toxischen Beziehungsmustern einfach so hingeben. Unser emotionaler Beziehungskompass wird klarer, unser Bindungsverhalten solider und anstatt von Tag eins an mit unserem Gegenüber zu verschmelzen und zwischen »Love Bombing« und Liebesentzug hin und her zu schwanken, wie wir es früher getan haben, werden wir Gefallen an »Slow Dating« finden und daran, eine Beziehung in dem Tempo reifen zu lassen, das es braucht, um sich miteinander sicher und solide jenseits irgendwelcher Verschmelzungsfantasien zu fühlen.

Werden dir Enttäuschungen erspart bleiben? Nein. Wirst du nur noch Partner*innen fürs Leben anziehen? Nein. Aber – und das ist das Allerwichtigste: Du erreichst ein Stadium der Selbstverbundenheit, das dir dabei hilft, die Finger von allem zu lassen, was dir schadet, und ganz natürlich mit dem zu resonieren, was dir guttut. Und je stabiler diese Integrität in dir wird, desto größer ist die Chance, wirklich eine Person zu finden, mit der du dich über eine höhere »Spirit-Ebene« auf einem grundsoliden Fundament verbinden kannst.

Ich selbst verstehe unter Spirit-Beziehung eine Seelenpartnerschaft (»Soulmates«), die den Beziehungskleber in uns verwundeter Anteile transformiert hat und in der sich die Partner*innen nun in weiten Teilen über höhere Bewusstseinsqualitäten miteinander verbinden. Dabei müssen wir weder perfekt noch übernatürlich bedürfnislos sein. Wir fühlen uns zunehmend vollständig, auch in der Verbindung mit unseren ureigenen Bedürfnissen, die wir im Zustand der Abspaltung vor uns selbst und unseren Partner*innen oft noch verstecken. Wir haben erkannt, dass kein Partner und keine Partnerin dieser Welt uns innerlich vervollständigen kann, und können trotzdem keinen Beziehungskontext mehr akzeptieren, in dem wir uns nie gesehen oder unterstützt fühlen. Durch den Weg der Selbstheilung, den wir beschritten haben, resonieren wir automatisch in einer höheren Frequenz von Erfüllung und können demnach auch nur noch Beziehungen führen, die in ihrer Qualität ein Spiegel unserer eigenen inneren Ganzheit sind. Bei all dem Hype um Seelenpartnerschaften und Zwillingsflammen im spirituellen Jargon: Eine Beziehung muss lebbar sein. Sie muss möglich sein. Und sie bedarf eines Menschen, der bereit ist, diesen Weg mit uns zu gehen.

In Spirit-Beziehungen treten wir mit einer Person also den Weg eines gemeinsamen Wachstums an, um miteinander eine Form von Verbundenheit zu kreieren, die größer ist als nur die Liebe zwischen zwei Menschen. Spirit-Beziehungen haben für mich die spirituelle Note einer höheren Vision, die beide Akteur*innen miteinander teilen. Vielleicht denkst du nun: Ich brauche keine höhere Vision. Ich will einfach nur jemanden, mit dem ich glücklich sein kann.

Lass mich diesbezüglich ein paar Worte sagen. Vor vielen Jahren saß ich im Rahmen einer Mitfahrgelegenheit mit einem jungen Pärchen in einem Auto und wurde zum ersten Mal mit der Energie dessen konfrontiert, was es heißt, sich wirklich über höhere Spirit-Qualitäten zu verbinden. Im Falle dieses Paares war es die Leidenschaft für Musik, eine gemeinsame kreative Vision, es war ein Raum des Seins, über den sie miteinander musizierten und kreativ waren. Bei Spirit-Beziehungen – und dabei ist es egal, ob sie romantischer oder freundschaftlicher Art sind – existiert als Nebenprodukt der Verbindung zweier Menschen ein kreativer Output für die Menschheit als Ganzes. Das kann Musik sein, wie im Falle des Pärchens aus dem Auto. Es kann aber auch eine spirituelle Mission sein oder irgendetwas anderes Heilendes oder Schöpferisches, über das sich zwei Menschen in ihrer reinen Präsenz verbinden und es der Welt zum Geschenk machen.

Ich kann das wirklich aus eigener Erfahrung sagen: Wenn wir die Stadien der inneren Leere und des inneren Mangels weitgehend durchschritten und einen gewissen Grad innerer Ganzheit erreicht haben, haben wir kein Interesse mehr daran, Beziehungen zu führen, nur damit unsere unerfüllten Bedürfnisse der Kindheit endlich erfüllt werden. Wir führen dann Beziehungen im Einklang mit unserem wahren Selbst und kommen immer mehr auf den Geschmack, wie schön es sein kann, Beziehungen auf Basis von gemeinsamen Visionen anstatt von innerem Mangel zu führen.

Es gibt tausend verschiedene Wege, erfüllte Beziehungen zu führen. Mit zunehmender Integrität fühlen wir immer mehr, welcher Weg unserer Natur entspricht. Hier mag die eine Person mehr Raum und Freiheit für sich brauchen und die andere mehr räumliche Nähe mit dem Partner oder der Partnerin beanspruchen, doch eines ist gewiss: Wir fühlen uns miteinander verbunden. Vertraut. Sicher. In einer höheren Vision vereint – auch wenn sie nicht immer greifbar sein mag.

In Spirit-Beziehungen, über die wir uns über unsere höheren Bewusstseinsanteile, Potenziale und schöpferischen Fähigkeiten verbinden, ist immer ein Fluss von Energie vorhanden. Es mag Phasen von Langeweile geben, in denen wir uns nach dem guten alten Liebesjunkie-Endorphinkick der alten Zeiten sehnen. Doch schlussendlich erschafft sich immer wieder Neues aus uns, aus der Beziehung und aus unserem Miteinander, was uns und die Beziehung lebendig und frisch hält. Wenn der Druck von »Mach mich vollständig!« von den Akteur*innen abfällt, kann so viel grenzenlose Liebe gegeben und empfangen werden. Wir verbinden uns wie unschuldige Kinder in einem Raum der Präsenz, in dem wir miteinander spielen, kreieren und einfach sind.