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PROLOG: LIEBEN, OHNE SICH DABEI ZU VERLIEREN
ОглавлениеVor Kurzem bat mich eine Freundin, die freie Trauung bei ihrer Hochzeit abzuhalten – Ringtausch und Eheversprechen inklusive. Auch wenn mich die Aufgabe zunächst etwas überforderte, sagte ich zu, weil ich die Vorstellung aufregend und irgendwie auch berührend fand. Jene Freundin vertraute mir und ich wusste, dass ich der Zeremonie meine ganz persönliche Note verleihen dürfte. In den kommenden Wochen schaute ich mir Youtube-Videos von freien Trauungen an und beobachtete Hochzeitspaare dabei, wie sie sich einander Eheversprechen gaben, von denen manche mehr, manche weniger aufrichtig klangen. Letztendlich ging nahezu jedes Gelübde in die gleiche Richtung: »Ich verspreche dir, auch in schlechten Zeiten immer für dich da zu sein.« Zu Recht: Wir alle wünschen uns eine Beziehung, in der wir uns auf unsere Partner*innen verlassen und darauf bauen können, dass sie auch in Krisen zu uns halten. Dieser Wunsch ist völlig unabhängig davon vorhanden, wie selbstliebend wir bereits sind. Als menschliche, verletzliche Wesen dürfen wir einander brauchen! Bedingungslos.
Trotzdem war für mich das Ehegelübde in der Form nicht ausreichend. Ich wollte ein weiteres Commitment in die Zeremonie integrieren. Ein Commitment für sich selbst, eines, in dem sich beide Partner*innen individuell den eigenen Zielen, Wünschen, Bedürfnissen und Potenzialen verpflichten sollten. Etwa so: »Ich stehe zu mir in schlechten Zeiten. Ich sorge für mich und meine Bedürfnisse. Ich verpflichte mich mir selbst gegenüber, meine Bedürfnisse und Werte zu wahren und ein Leben zu leben, das mich zutiefst erfüllt.« Spielverderber, mag der ein oder die andere nun denken. Selbstliebe hat doch auf einer Hochzeit nun wirklich nichts zu suchen!
Ich gebe den kritischen Stimmen teilweise recht. Sprüche zur Selbstliebe werden mittlerweile recht inflationär verwendet, was teilweise dazu führt, dass jegliche Form von »etwas brauchen« mit Scham assoziiert wird und wir die ganz natürliche Sehnsucht nach sicherer Verbundenheit gerne hinter einer Nähe vermeidenden Autonomie verstecken, die wir uns als Selbstliebe verkaufen. Dies jedoch soll die Bedeutung von wahrer Selbstliebe nicht schmälern, die uns in gesundem Maße ermöglicht, uns echt auf jemanden einzulassen, weil wir gelernt haben, uns auf uns selbst einzulassen: Wie wollen zwei Menschen füreinander da sein, wenn sie nicht gelernt haben, für sich selbst da zu sein? Wie wollen sich zwei Menschen grenzenlos lieben, wenn sie dabei vergessen, wer sie wirklich sind? Wie können zwei Menschen voneinander verlangen, in ihren Schwächen, ihren Fehlern und ihrer Unvollkommenheit geliebt zu werden, wenn sie sich selbst ständig kritisieren und verurteilen?
Wir können als Paar – egal, ob romantisch, freundschaftlich oder im Arbeitskontext – nur so grenzenlos aus dem Vollen schöpfen, wie wir voll und erfüllt in uns selbst sind – in unserem Licht und unserem Schatten. Und voll und erfüllt in uns selbst können wir wiederum nur sein, wenn dieses Potenzial mit sicheren Grenzen versehen ist, die genau definieren, was wir wollen, was wir nicht wollen, was stimmig für uns ist, was nicht stimmig für uns ist, worauf wir uns einlassen wollen und worauf eben nicht. Ein starkes, verbundenes Wir braucht ein starkes, verbundenes Ich. Es braucht eine gesunde Ich-Stärke, die – weil sie erfüllt aus sich selbst schöpfen kann – weder durch Aufopferung noch durch narzisstische Selbsterhöhung ihren Mangel an Selbstwert kompensieren muss.
Was passiert, wenn uns an dieser gesunden Ich-Stärke fehlt? Es ist wie ein Sprung in den Ozean der Liebe, ohne im Besitz eines intakten Rettungsbootes zu sein und ohne richtig schwimmen zu können. Wir sind ständig abhängig von einem Menschen, der uns retten soll. Wir fühlen uns nur sicher, wenn der Wellengang ruhig ist, und beginnen, panisch um die Beziehung zu fürchten, wenn ein Sturm aufkommt und wir durch Beziehungskrisen gehen. Unser Gegenüber kann uns jederzeit damit drohen, uns den Rettungsring wegzunehmen, wenn wir nicht so sind, wie es von uns erwartet wird, was uns manipulier- und kontrollierbar macht. Und vor allem: Weil wir kein funktionelles Rettungsboot haben und nicht richtig schwimmen können, glauben wir insgeheim, wir würden es nicht verdienen, geliebt zu werden.
Doch das Boot, in dem wir wirklich sicher durch den Ozean der Liebe navigieren können, sind unsere Grenzen. Grenzen, die selbst dann Stabilität gewährleisten, wenn die emotionalen Wellen unserer Mitmenschen gegen den Schiffsbug prallen. Wenn wir unsere Grenzen kennen, sind wir quasi mit einem Navigationssystem ausgestattet, das uns ganz klar einen notwendigen Richtungswechsel signalisiert, sobald wir sie und unsere Bedürfnisse umgehen. Wenn wir unsere Grenzen kennen, sind wir die Kapitän*innen auf unserem Boot – nicht die Erwartungen und Bedürfnisse anderer Menschen. Welch schönes Abenteuer, wenn zwei Kapitän*innen miteinander aufbrechen können auf eine gemeinsame Expedition der Liebe, an der sie miteinander reifen, wachsen und sich immer tiefer verbinden können.
Wir alle verdienen Beziehungen ohne Aufopferung, Co-Abhängigkeit und das ständige Gefühl, nicht gut genug zu sein. Wir alle verdienen jemanden, der sich wirklich auf uns einlässt und uns in unserem wahren Wesen und Wert zu erkennen bereit ist. Wir alle verdienen, dass unser Herz die Kapazitäten zurückgewinnt, sich zu öffnen, ohne uns ständig durch panische Bindungsangst zu warnen, weil es wieder verletzt werden könnte.
Dafür brauchen wir ein sicheres Boot, gebaut aus in unserer menschlichen Natur völlig natürlichen angelegten Ressourcen von Selbstliebe, Selbstfürsorge, Selbstrespekt und dem Kleber, der alles zusammenhält: einem gesunden Selbstwert. Bei den meisten Menschen hat dieses Boot ein Leck, das durch irgendeine Form von Mangel an Geborgenheit, Sicherheit, Vertrauen, Wertschätzung oder auch Autonomie und Unabhängigkeit irgendwann in unserem Leben entstanden ist und dazu geführt hat, dass wir Teile unseres Selbst in seiner reinen Essenz verloren haben. Wo wir uns selbst verloren haben, mussten wir Schutzpersönlichkeiten von Aufopferung, Abhängigkeit und Bindungsangst im Außen entwickeln, die das Leck hätten reparieren sollen, aber es in Wahrheit nur provisorisch geflickt haben. Und irgendwann geraten all die wundervollen, selbstermächtigenden Ressourcen, die wir in uns tragen, in Vergessenheit, weil der Flicken sie immer mehr überdeckt.
Was braucht es also, um dieses Leck zu reparieren, um dieses Boot als sichere Grenze in unserem Leben wieder vollständig fahrtüchtig zu machen? Nein, es braucht keine Kalendersprüche von Selbstliebe. Es braucht einen emotionalen, körperlichen, spirituellen Rückverbindungsprozess mit uns selbst, aus dem heraus wir keine Selbstliebe trainieren müssen, sondern wir diese Selbstliebe – samt einer friedvollen Verbundenheit mit unseren Grenzen und Bedürfnissen – einfach sind. Wir müssen unseren Körper, unsere Emotionen und unseren »Spirit« wieder in Besitz nehmen. Reparieren wir die Lecks in unserem Boot und holen uns die Lebensenergie, die in den alten Verletzungen gebunden ist, wieder zu uns zurück!
»Liebe kennt deine Grenzen« bedeutet: Wo wir uns sicher in der Liebe und Verbundenheit zu uns selbst fühlen, sind sichere Grenzen ein ganz natürliches Nebenprodukt, das wir fühlen, verkörpern und ausstrahlen. »Liebe kennt deine Grenzen« bedeutet, Ja zu dem zu sagen, was du bist, und Nein zu dem, was du nicht bist. Es bedeutet, selbst jeden Tag so für dich da zu sein und deine Grenzen und Bedürfnisse zu würdigen, wie du es dir von der Person wünschen würdest, mit der du durchs Leben gehen willst. Es bedeutet, weich, erlaubend und mitfühlend zu sein, selbst mit jenen Aspekten deines Selbst, die noch nicht heil, nicht vollständig, nicht verbunden sind.
Es bedeutet, du zu sein in deiner reinsten Essenz.