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10.

Im Gen-Kabinett

Die Schichtleiterin des Gen-Kabinetts erwies sich als eine Kolonnen-Anatomin namens Targya Zegeff. Ihr Totenschädel hing von einem unnatürlich langen Hals herunter. Hatte sie etwa einmal ihren Kopf abnehmen und zusätzliche Halswirbel einfügen lassen? Die Operation schien ihr nicht gut bekommen zu sein. Ein Auge war vollkommen von Geschwüren überwuchert.

»Du bist das Urbild Dantyrens?« Mit unverhohlenem Interesse betrachtete die Kolonnen-Anatomin Danton von oben bis unten, als wolle sie ihn zu ihrem Bräutigam machen – oder zum Gegenstand medizinischer Experimente.

»Ich bin Kalbaron Danton«, entgegnete Danton steif. »Ich erinnere an meine uneingeschränkte Vollmacht auf diesem Schiff. Zeig uns dein Kabinett!«

Targya Zegeff streifte die anderen Solaner mit einem beiläufigen Blick und ging knackend und knirschend voran. »Folgt mir, ehrwürdiger Kalbaron.«

Als sie in die gewölbte Halle traten, in die Zegeff sie führte, hielt Anchi den Atem an. Ein fauliges Aroma lag in der Luft, eine Mischung aus Chlor und Ruß. Vor ihnen streckten sich bis ans Ende der Halle Reihen von sargähnlichen Tanks, in mehreren Etagen übereinander. Sie sahen, anders als man es auf einem Medoschiff erwartete, schmutzig aus, verbraucht.

Anchi schätzte, dass es Hunderte waren, nein, sogar Tausende.

Die Becken waren mit einem zähen Fluid gefüllt, einer Konservierungsflüssigkeit, die manchmal farblos war, manchmal in einem hässlichen Grünton fluoreszierend schimmerte. Von irgendwoher ertönte das Geräusch ständig fallender Tropfen.

Das Fürchterlichste war, dass in all diesen Tanks Lebewesen schwammen, zum Teil unfertig wirkende, manchmal bizarr verformte Organismen, die nur teilweise am Leben schienen, obwohl einige von ihnen offenbar sogar bei Bewusstsein waren. Es waren viele verschiedene Spezies, von fisch- und amphibienartigen Wesen bis zu solchen, die Menschen ähnelten.

Am Ende der Halle ließen Roboter Versorgungsflüssigkeit aus einigen der Tanks ab, entfernten die Schläuche, die mit den Geschöpfen im Innern verbunden waren, hoben die Überreste der Insassen aus den Tanks und schafften die Kadaver auf Antigravkarren hinaus. Wahrscheinlich kamen sie zur Entsorgung in den Schiffskonverter, nahm Anchi an. »Genmüll« hatte Krefferk das Haldukass gegenüber genannt.

Anchi näherte sich dem ersten der Särge. Bei dem Geschöpf darin handelte es sich nur um eine amorphe Masse. Dennoch öffnete es ein Auge und starrte Anchi an. Flehend, um Erlösung bittend. So zumindest interpretierte er den Blick.

Mit einem Aufschrei schreckte Anchi zurück.

Crompton und Matabiau waren bleich geworden.

Ebenso Danton. Doch er machte einen eigenartig gefühllosen Eindruck. Ohne eine merkbare Regung ging er durch die Reihen und inspizierte die Behälter auf beiden Seiten. Er wirkte wie ein strenger Oberbefehlshaber, der nach dem kleinsten Fehler suchte, den er seinen Untergebenen vorhalten konnte. Die lebenden, fühlenden und leidenden Wesen in den Tanks schienen ihm egal zu sein.

Zegeff eilte mit nach links und rechts pendelndem Kopf vor ihnen her und richtete ihre Worte ausschließlich an Danton, den hochwichtigen Kalbaron. »Mein Kabinett, bitte sehr! Wir haben insgesamt vier davon, aber dies ist das mit Abstand effektivste. Wir haben bereits fünf Kompanten hervorgebracht.«

Anchi unterdrückte mit Mühe, dass sein Mageninhalt die Speiseröhre emporstieg. Zegeffs Worte machten den Anblick der Probanden nicht erträglicher. Wenn in diesem riesigen Saal gerade einmal fünf Kompanten erzeugt worden waren – wozu dienten all die anderen Wesen, die an Maschinen angeschlossen und so schrecklichen Experimenten ausgesetzt waren, dass der Tod für sie eine Erlösung sein musste?

Mit unbewegtem Gesicht und beinahe beiläufig erkundigte sich Danton: »Wie viele Kompanten hat die Skapalm-Bark insgesamt erschaffen?«

»Ein Dutzend.« Die Kolonnen-Anatomin klang stolz auf diese Leistung. »Leider erweist sich nur einer von etwa zwanzigtausend Kandidaten als geeignet.«

Zwanzigtausend ungeeignete Körper! Zwanzigtausendmal »Genmüll«! Dabei waren das lebende, fühlende Wesen!

Danton blieb vor einer Reihe aufrecht stehender Glaszylinder stehen, die in regelmäßigen Abständen zwischen den Särgen aufgestellt waren. Mit distanziertem Interesse betrachtete er das Wesen, das darin schwamm.

Es war nackt, entfernt menschenähnlich, mit großem Kopf und kleinen Extremitäten – die Proportionen eines Embryos! Jedoch war der Embryo einen Meter groß – und er war bei Bewusstsein. Als der kleine, sirrende Roboter, der an dem Tank operierte, eine längliche Injektionsnadel in seinen Kopf bohrte, öffnete das Embryowesen den Mund zu einem lautlosen Schrei.

Danton, anscheinend völlig ungerührt angesichts der grausamen Handlungen, die sich überall um sie abspielten, hob eine Augenbraue. »Welche Spezies ist das?«, fragte er gleichgültig, als würde ihn die Nebeninformation nicht sonderlich interessieren.

»Ein Rokolofoke aus dem Tyramidsystem«, antwortete Zegeff mit ebensolcher Sachlichkeit. »Die Rokolofoken verfügen über ausgezeichnetes Gen-Material. Sie haben die komplexesten Biomoleküle der Völker Yahounas, und ausgewachsene Exemplare bringen angeblich eine überragende Intelligenz hervor. Dennoch ist es uns bislang nicht gelungen, aus ihnen einen Kompanten zu züchten. Ist wohl doch nicht so weit her mit dieser Spezies.«

Das Wesen im Glaszylinder verzog das Gesicht in unendlichem Schmerz.

Danton kümmerte sich nicht um das Wesen im Zylinder, sondern nutzte die Gelegenheit, die Kolonnen-Anatomin zu maßregeln. »Unterlegene Spezies interessieren mich nicht. Die Kolonne braucht Ergebnisse. Warum experimentiert ihr überhaupt mit den Rokolofoken? Was habt ihr über die Eigenschaften herausgefunden, die ein Wesen aufweisen muss, damit wir es zum Kompanten machen können?«

Zegeff knackte nervös mit den Knochenplatten. »Das ist es ja gerade: Bislang konnten wir den entscheidenden Faktor nicht isolieren, der ausschlaggebend dafür ist, ob die Prozedur gelingt oder tödlich endet.«

Fast zärtlich strich sie mit dem knöchernen Finger über den Zylinder, in dem der Roboter eine weitere Nadel in den Körper des Rokolofoken trieb. »Einige Kompanten, die wir erschaffen haben, arbeiten perfekt. Andere erweisen sich erst nach Wochen als Fehlzüchtungen. Die Anzahl der Fehlversuche bleibt ungefähr konstant, egal mit welcher Spezies wir arbeiten und welchen Intelligenzgrad diese hat. Auch, ob wir ausgewachsene Wesen verwenden oder Kinder, scheint keine Rolle zu spielen.«

Kinder! Sie machten Experimente mit Kindern! Anchi musste sich zusammenreißen, die Kolonnen-Anatomin nicht zu erwürgen, die Tanks zu zerschlagen und alle Gefangenen freizulassen. Danton dagegen schien das alles nicht zu berühren. War er es nicht gewesen, der einst die Kinder der SOL einem ungewissen Schicksal preisgegeben hatte?

Das Knochenwesen sprach in widerlich neutralem Tonfall weiter. »Wir sind Wissenschaftler, und wir können nur präzise Ergebnisse liefern, wenn wir eine ausreichend große Zahl von Belegen zur Verfügung haben. Die Zahl der gelungenen Schöpfungen ist noch zu gering, um daraus eine Regel abzuleiten. Aber keine Sorge: Je mehr wir experimentieren, desto näher kommen wir einer Lösung. Und dann werden wir nicht nur ein Dutzend Kompanten schaffen, sondern Hunderte. Unsere Einheiten sind unentwegt in Yahouna unterwegs, um mehr Gen-Material heranzuschaffen. Aus dem da wird nichts!«

Sie klopfte mit dem Finger auf den Glaszylinder.

Das Embryowesen hatte die Augen geschlossen und trieb leblos im Tank.

Der Roboter verstand den Wink der Kolonnen-Anatomin, zog seine wertvollen Nadeln aus dem leblosen Körper zurück und begann damit, die Versorgungsflüssigkeit abzupumpen. Der Körper des Wesens fiel plump zu Boden.

Ungerührt fuhr Danton mit dem Verhör der Kolonnen-Anatomin fort. »Ist aktuell ein Kompant an Bord?«

»Kein fertiger«, gestand Zegeff mit sichtlichem Widerwillen. »Es gibt einen weit fortgeschrittenen Kandidaten, der bisher auf alle Tests positiv reagiert hat. Und er lebt noch! Wir glauben, dass er die kritische Phase überstanden hat, haben ihn isoliert und in einen Heilschlaf versetzt. Er wird in den nächsten Tagen zu Bewusstsein kommen.«

Wie fürsorglich!, dachte Anchi hasserfüllt.

»Den wollen wir ...«

Dantons Befehl wurde unterbrochen, als ein gongähnliches Signal aus Zegeffs Funkarmband klang.

»Priorität!«, erklärte sie zu Dantons Missfallen. Nach ein paar geflüsterten Worten wandte sie sich an ihn: »Es wird dich freuen zu hören, dass du deine nächsten Fragen direkt an den Hoch-Medokogh richten kannst. Krefferk kehrt in diesem Moment an Bord der GRAGRYLO zurück. Du willst sicher mit ihm persönlich sprechen!«

Danton zögerte. Was hatte er vor? Krefferk, der Kommandant der Skapalm-Bark, wäre vermutlich sofort in der Lage, die Solaner mit ihren angeblichen Überrangvollmachten als Hochstapler zu enttarnen. Er brauchte nur Rücksprache mit Haldukass zu halten, um sie als die Wesen zu identifizieren, die ein fengolyonisches Schiff gestohlen und sich als Hyperphysiker an Bord des Dunkelzentrums geschlichen hatten.

Wie konnten sie von diesem grauenhaften Ort entkommen? Was würde mit den erbarmungswürdigen Lebewesen in den Tanks geschehen?

»Gewiss«, antwortete Danton mit gepresster Stimme. Zu aller Überraschung fügte er hinzu: »Ich werde Krefferk in der Zentrale erwarten!«

Damit drehte er sich um und ließ die Kolonnen-Anatomin einfach stehen.

Die Solaner folgten ihm verblüfft.

*

Danton schritt schnell aus. Hinter ihm eilten die Solaner durch die gewölbten Gänge der Skapalm-Bark. Ihr Ziel war die Hauptzentrale, die sich im exakten Zentrum des Achteckschiffs befand.

Die Gänge waren nur schwach beleuchtet, und das Ricodin verwirrte die Sinne, sobald Anchi seinen Blick zu lange darauf richtete. Aber das war ihm egal. Zu froh war er, Zegeffs Horror-Kabinett entkommen zu sein. Er bedauerte nur, dass sie damit all die bemitleidenswerten Geschöpfe in den Tanks im Stich ließen.

»Als Nächstes wird Folgendes passieren«, informierte Danton sein Team. »Wir werden die Skapalm-Bark kapern und entführen!« Er sagte das spröde und ohne besonderen Nachdruck, gerade so, als sei es die Einladung zu einem kleinen Picknick im Park am Nachmittag.

Matabiau und Crompton, die während der ganzen Führung durch das Gen-Kabinett nichts gesagt hatten, stießen hörbar die Luft aus.

»Wir sind nur leicht bewaffnet«, erinnerte Crompton. »Und gegen uns stehen ... wie groß ist doch gleich die Besatzung einer Skapalm-Bark?«

»Zwei- bis zweieinhalbtausend Mediziner, Genetiker und Wissenschaftler«, vermeldete Matabiau alarmiert. »Dazu kommen die Ganschkaren-Techniker und die Roboter.«

»Ist euch nicht aufgefallen, wie dünn besetzt diese Bark ist?«, entgegnete Danton unbeirrt. »Ich schätze die Besatzungsstärke auf höchstens achthundert.«

Noch immer hetzten sie durch die Gänge.

»Wir vier gegen achthundert ...«, keuchte Matabiau. »Ist das dein Ernst?«

Abrupt blieb Danton stehen, sodass sein Erster Offizier fast gegen ihn geprallt wäre. Auch die anderen stoppten.

Danton antwortete eindringlich und mit ernster Stimme: »In dieser Bark werden schätzungsweise zwanzigtausend intelligente, fühlende Wesen gefangen gehalten. Sie werden grauenhaften Experimenten unterzogen, sie leiden, und sie werden sterben, wenn wir nichts für sie tun. Das werden wir auf keinen Fall zulassen! Weder dass sie sterben, noch dass sie weiter gequält werden! Wir sind nur vier Menschen und können nicht die ganze Terminale Kolonne TRAITOR niederringen. Aber wir sind in dieser Bark. Und wir werden der Kolonne nicht erlauben, noch einmal Hand an eine einzige der Kreaturen dort in den Tanks zu legen!«

Anchi stockte der Atem. Das also war es, was Danton wirklich gedacht hatte, als er der Anatomin den gefühllosen Kolonnen-Inspekteur vorgespielt hatte. Er hatte das nur getan, damit sie am Leben blieben, und so verdammt gut, dass sogar Anchi es ihm abgekauft hatte.

Danton blieb an einer Art Depot stehen, einem mannshohen quaderförmigen Schrank, von denen Anchi schon einige in regelmäßigen Abständen über das Schiff verteilt gesehen hatte. Danton öffnete eine holografische Schaltfläche und gab eine Kennung ein.

»Ich habe schon einmal eine Skapalm-Bark erobert«, sagte er hektisch. »Zugegeben, mit ein wenig Hilfe der Mikro-Bestien, die ich vorher befreit hatte. Aber es muss auch so gehen. Schließlich habe ich ein paar Erfahrungen mit Kolonnen-Einheiten. Ich verfüge immer noch über Dantyrens Kennung, den persönlichen Überrangcode eines Dualen Kapitäns. Der gilt in allen Universen, in denen TRAITOR operiert, und verschwindet nicht so leicht aus dem System. Und was unsere fehlende Bewaffnung angeht, seht her ...«

Geräuschlos schwangen die Türen des Schrankes zur Seite. Dahinter waren an Wandhalterungen die Kolonnen-Ausführungen von Impulsstrahlern, Desintegratoren, Thermostrahlern und Paralysatoren der unterschiedlichsten Größen aufgehängt.

Matabiau und Crompton bedienten sich prompt. Jeder griff nach mehreren der Kolonnen-Waffen, checkte ihre Funktion und verstaute sie sorgfältig an ihren SERUNS.

Anchi griff ebenfalls nach einer Impulswaffe und wiegte sie in der Hand.

Nun zogen sie also in den Krieg. Vier Menschen gegen eine ganze TRAITOR-Einheit.

Mission SOL 2020 Paket (1 bis 12)

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