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Sie hatte nach dem unerwarteten Zusammentreffen im Aktenkeller nicht mehr darüber gesprochen. Gisela Temming, voller Elan und auf eine gute Figur bedacht, war schweigend in die Wohnung hochgegangen, jedoch fest entschlossen, das Thema heute noch anzusprechen. Nachdem sie ihren Schriftverkehr erledigt hatte und Walter von einem Spaziergang an dem Flüsschen Fils zurückgekehrt war, trafen sie sich zum Abendessen, das ihre gelegentliche Haushaltshilfe, eine ältere Dame aus der Nachbarschaft, zubereitet hatte. Es gab heute Urschwäbisches, nämlich Maultaschen und Kartoffelsalat. Walter Temming, der trotz allen unternehmerischen Erfolges bodenständig geblieben war, schätzte die regionale Küche. Zwar war er weit in der Welt herumgekommen, aber jedes Mal hatte er sich bei der Rückkehr auf ein heimisches Essen gefreut.

Seine Wurzeln hatte er hier im Filstal, hier, zwischen Stuttgart und Ulm. Sein Vater Georg war im benachbarten Geislingen an der Steige aufgewachsen und dort zum Unternehmer geworden. Dass er nach den ersten Erfolgen mit seinem Betrieb ins jenseits der Alb gelegene Ulm umgesiedelt war, war für ihn ein schwerer Entschluss gewesen, zumal er bereits diese herrschaftliche Villa in Kuchen erworben hatte. Aber zum einen hatte er in der Donaustadt ein brachliegendes Firmenareal, das seinen Bedürfnissen gerecht wurde, günstig erwerben können – und zum anderen war ihm Ulm als Standortadresse vorteilhaft erschienen. Außerdem gab es dort bereits in den 50er-Jahren relativ gute Fernverkehrsverbindungen sowohl auf der Schiene als auch auf der Straße. München war nur etwa eineinhalb Autostunden entfernt – ein entsprechendes Fahrzeug und günstige Verkehrsverhältnisse vorausgesetzt.

Die Haushaltshilfe war bereits gegangen, als sie sich an den runden Eichentisch setzten und sich einen guten Appetit wünschten. Walter Temming hatte sich sein geliebtes Weizenbier eingeschenkt, seine Frau bevorzugte Rotwein.

»Es tut mir leid, wenn ich dich erschreckt habe«, begann Gisela, nachdem sie sich während des Essens über Belanglosigkeiten unterhalten hatten, das Zusammentreffen im Aktenkeller anzusprechen. »Aber ich bin wirklich in Sorge, es könnte etwas geschehen sein. Jahrelang bist du nicht da unten gewesen.«

Walter wich ihren Blicken aus und aß weiter.

»Es wird nicht besser, wenn wir nicht drüber reden«, blieb sie hartnäckig.

Er wischte sich den Mund ab, nahm einen Schluck Bier und sah zu einem Glasschrank hinüber, während im Wohnzimmer nebenan die antike Standuhr mit ihrer Mechanik hörbar die Sekunden abhakte. »Es …«, begann er langsam, »es hat sich tatsächlich etwas ereignet.« Er hatte sich die Worte während seines Spaziergangs am nahen Fluss entlang wohl überlegt. »Es ist ein Brief gekommen.«

Giselas feine Gesichtszüge versteinerten sich. Die wenigen Worte hatten sie das gute Essen vergessen lassen. »Ein Brief? Von wem?«

Walter schob seinen leer gegessenen Teller ein Stück von sich weg. »Wenn du mich so fragst, Gisela, dann gibt’s nur eine Antwort: von Siegfried.«

»Von …?« Sie wagte es nicht auszusprechen. Für einen Moment überlegte sie, ob ihr Mann einen schlechten Scherz gemacht hatte. Aber bei diesem Thema war ihm ganz gewiss nicht danach. Ihr schnürte irgendetwas die Kehle zu. »Siegfried?«, wiederholte sie fassungslos und ungläubig gleichermaßen.

Er hatte sich während des Spaziergangs durchgerungen, ihr von dem anonymen Brief zu erzählen.

»Sag, dass das nicht wahr ist«, hörte er ihre Stimme, während er ins angrenzende Wohnzimmer hinüberging, um hinter dem Klapptürchen des Schranks den versteckten Brief zu holen.

»Ist heute gekommen«, sagte er ernst und zog das Papier aus dem weißen Kuvert. »Es liest sich, als habe Siegfried geschrieben.«

Gisela war blass geworden. »Weißt du auch, was du da sagst?« Sie nahm das Schreiben in die Hände und überflog den da­rauf gedruckten Text. Den Zusatz am Ende las sie mit zitternder Stimme laut vor: »›Schönen Gruß von Barbara. Ich hab sie inzwischen getroffen. Es geht ihr gut.‹« Sie starrte ihren Mann mit unsicheren Augen an. »Barbara«, widerholte sie. »Mein Gott, was hat das zu bedeuten?«

Walter schwieg. Ein paar stille Sekunden später zitierte Gisela einen weiteren Satz, der ihr eine trockene Kehle bescherte: »›Aber das Schicksal hat es so gewollt, dass sich unsere Wege in deinem Leben noch einmal kreuzen. Auch wenn du es nicht für möglich halten wirst, aber ich bin gekommen, um das, was vor 49 Jahren geschehen ist, nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.‹« Sie hob den Blick und starrte ihren Mann erneut fassungslos an. »Was will uns das sagen?«

Walter zuckte mit den Schultern und trank sein Weizenbierglas leer. »Dass es nicht in Vergessenheit gerät.«

»Erpressung? Soll das eine Erpressung sein?« Sie las eine weitere Passage vor: »Ich bin gekommen, meinen Teil zu holen oder dich der gerechten irdischen Strafe zuzuführen. Das klingt doch nach Erpressung. Da will jemand Geld.«

»Geld und für mich die gerechte irdische Strafe, so könnte man das deuten«, flüsterte Walter, als habe er Angst, jemand könnte es hören. »Der Schreiber – oder die Schreiberin – ist mit den Ereignissen offenbar bestens vertraut. Daran besteht nicht der geringste Zweifel.«

Gisela konnte ihre Unruhe nicht verbergen, als sie einen weiteren Satz zitierte: »›Aber nun wurde mir die Gelegenheit geboten, ins Vergangene einzugreifen.‹ Das klingt unheimlich, Walter. Fast so, als habe es dein Bruder Siegfried selbst geschrieben.«

Ihr Mann musste diese Worte einige Sekunden lang verdauen, um dann sachlich anzumerken: »Tote schreiben keine Briefe.« Noch während er dies sagte, wurde ihm bewusst, dass Gisela ein Faible für Unerklärliches und Mysteriöses hatte. Ein Bücherregal war voll mit entsprechender Literatur über das, was nach dem Tode kommen könnte. Und dabei wehrte sie sich energisch dagegen, als Esoterikerin abgestempelt zu werden. Immerhin legte sie Wert auf Publikationen renommierter Autoren und Wissenschaftler, die dieses Thema kritisch angingen und entsprechende Erlebnisberichte unvoreingenommen prüften und untersuchten. »Die Welt ist voller Geheimnisse«, pflegte sie oft im Freundeskreis zu sagen.

Doch jetzt wollte Walter gleich gar keine Diskussion entfachen. Die Lage war viel zu ernst. »Wir sollten die Sache mit kühlem Kopf angehen«, entschied er. »Wahrscheinlich haben wir’s mit irgendeinem Verrückten zu tun, der all diese Gerüchte über die Sache mit Siegfried irgendwann gehört hat.«

»Mit all dem Detailwissen, das da drinsteht?«, fragte Gisela zweifelnd. »Die Haushaltsleiter, die umgefallene Farbdose beim Streichen des Gartenhauses …« Sie zögerte. »Und Barbara.«

»Da weiß jemand verdammt viel.«

»Und jetzt?«

»Nichts. Wir werden uns nicht verrückt machen lassen«, entschied Walter. »Vielleicht ein frustrierter Mitarbeiter aus früheren Zeiten.«

»Der jetzt im hohen Alter den Frust ablassen muss – über das, was er vor 49 Jahren gerüchteweise gehört hat?«, erwiderte Gisela fragend.

»Was anderes kann’s ja nicht sein – falls du nicht nur an ein Leben im Jenseits glaubst, sondern auch an ein Wiederkommen.«

»Du meinst Reinkarnation?«, gab sich Gisela informiert. Die Fachbegriffe dazu kannte sie aus dem jahrelangen Studium ihrer Fachbücher.

»Wenn man so dazu sagt, ja«, gab er zurück. »Aber wir haben’s nicht mit Buddhismus und Hinduismus zu tun, liebe Gisela. Sondern mit einem handfesten Problem.«

Gisela jagten Tausend Gedanken gleichzeitig durch den Kopf. »Vielleicht gibt es gravierende Ereignisse, die das Gefüge von Raum und Zeit durchdringen.«

Walter hob eine Augenbraue und vermied ein müdes Lächeln. »Entschuldige, Gisela, aber du solltest auf dem Boden der Realität bleiben. Gerade jetzt.«

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