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Die Akten von damals hatte er im Keller aufbewahrt. Eigentlich war er schon vor Jahren drauf und dran gewesen, sie zu beseitigen. Doch dann hatte er sich mit seiner Frau darauf geeinigt, sie im hintersten Kellerraum der Villa, zwischen einer Vielzahl von geschäftlichen Unterlagen, aufzubewahren, deren brisanter Inhalt es ebenfalls geraten erscheinen ließ, sie vorsichtshalber außerhalb der Firma zu deponieren.

Er wartete ungeduldig, bis sich seine Frau an diesem Nachmittag zu ihrem monatlichen Kaffeekränzchen mit Unternehmergattinnen verabschiedete, vergewisserte sich, dass ihr schwarzes Audi Cabrio aus der Grundstückseinfahrt hinausrollte, und machte sich voll innerer Unruhe und zitternden Beinen sofort auf den Weg in das Untergeschoss. Dort ließ er die Leuchtstoffröhren aufblitzen, durcheilte den Raum, in dem Waschmaschine und Trockner standen, und schloss auf der gegenüberliegenden Seite eine Metalltür auf. Er fingerte nach dem Lichtschalter, wo­rauf Aluregale sichtbar wurden, die in Dreierreihen bis zur Decke reichten und auf mehreren Zwischenböden dicht mit Aktenordnern beladen waren. Temming stieg trockene und staubige Luft in die Nase. Sein Interesse galt aber nicht den Tausenden Papierseiten, auf denen die Geschäftsbeziehungen vergangener Jahrzehnte dokumentiert waren. Stattdessen durchquerte er den Raum in einer der Regalgassen und erreichte an der Stirnseite einen hölzernen Aktenschrank aus alten Bürozeiten. Während der untere Teil aus Klapptürchen bestand, konnte im oberen Bereich die Vorderseite wie ein Rollladen nach oben geschoben werden.

Temming zögerte keinen Augenblick, sondern griff seitlich mit den Händen in den schmalen Spalt zwischen Schrankrückwand und der weiß gestrichenen Wand. Es war für ihn kein Problem, das Möbelstück nach vorne zu rücken. Er stemmte sich mit den Füßen gegen den Wandsockel und zog den Schrank mit drei kräftigen Bewegungen zu sich her, was jedes Mal ein kurzes, aber lautes Quietschen des Holzes auf dem gefliesten Boden zur Folge hatte.

Als eine Seite des Aktenschrankes weit genug von der rückwärtigen Wand weg war, fiel Temmings Blick auf eine beige Metalltür. Er zwängte sich in den entstandenen Freiraum, um mit dem Rücken das Möbelstück noch einen halben Meter weiter in den Raum hineindrücken zu können. Dann holte er einen Schlüssel aus der Tasche und entriegelte die Tür, hinter der sich verbarg, was niemals dem Finanzamt oder, noch schlimmer, irgendwelchen Juristen in die Hände fallen durfte.

Die Tür ließ sich hinter dem abgewinkelten Schrank jetzt gerade so weit öffnen, dass sich Temming in einen kleinen Raum zwängen konnte, aus dem ihm trockene, kühle und abgestandene Luft entgegenschlug, die den Geruch alten Papiers mit sich trug. Der Mann, der sich nicht entsinnen konnte, wann er das letzte Mal hier unten gewesen war, ließ auch hier eine Leuchtstoffröhre aufflackern. Ihn beschlich das Gefühl, einen Bunker zu betreten, in dem die Vergangenheit konserviert wurde. Der Boden bestand aus roh belassenem Beton, und an den ebenfalls betongrauen Wänden waren in Viererreihen Regalbretter an die Wände montiert. Nicht schön, aber zweckmäßig. Die meisten Regale, die in einer Ecke an einen halbhohen, verschrammten Aktenschrank stießen, waren leer. Auf einigen jedoch stapelten sich zusammengeschnürte Papierbündel. Dazwischen suchten prall gefüllte Aktenordner aneinander Halt. Ihre Rückseite war mit Zahlen und Buchstaben beschriftet, die vermutlich niemand außer der Verfasser selbst deuten konnte. Temming warf einen flüchtigen Blick darauf und stellte erleichtert fest, dass nichts verändert war.

Noch aber war er nicht am Ziel dessen, was er suchte. Mit ein paar Schritten erreichte er den Aktenschrank, besah sich den schmalen Zwischenraum, der sich beidseits der Regale bot, und überlegte für einen Moment, wie er dieses eingezwängt wirkende Möbelstück nach vorne wegrücken konnte. Hier war es nicht damit getan, es einfach an einer Seite bis zu einem bestimmten Winkel von der Wand zu lösen. Es würde sich an den Regalen verkanten.

Diese Konstruktion, das fiel ihm ein, war einst bewusst so gewählt worden. Nicht zweckmäßig sollte sie sein, sondern unauffällig. Immerhin waren dort Dinge verborgen, von denen er gehofft hatte, sie nie mehr im Leben jemals wieder brauchen zu müssen. Und nach menschlichem Ermessen waren diese Schriftstücke auch jetzt noch dort. Doch bevor er sich für irgendwelche Maßnahmen entschied, musste er Gewissheit haben.

Er beugte sich durch zwei Regaletagen und spürte plötzlich einen stechenden Schmerz im Rücken. Dies machte ihm mit einem Schlag bewusst, dass er vor Kurzem seinen 70. Geburtstag gefeiert hatte. Anstrengungen wie diese waren seiner Gesundheit alles andere als zuträglich. Trotzdem konnte ihn jetzt nichts davon abbringen, auch diesen Schrank zu bewegen. Seine Finger fanden den schmalen Spalt an der Rückseite, dann nahm er all seine Kraft zusammen, stemmte sich mit den Füßen ab und schaffte es, das Möbelstück auf der rechten Seite ein paar Zentimeter nach vorne zu ziehen. Mehr durfte es auch nicht sein, weil sich der Schrank ansonsten links an den Regalen verkantet hätte.

Temming atmete schwer und spürte sein schweißnasses Hemd an der Haut kleben. Er blieb für einen Moment stehen, wandte sich der linken Seite zu und zog auch dort den alten Holzschrank mit den Fingerkuppen so kräftig es ging heraus. Nachdem er dies einige Male wiederholt hatte, war es geschafft: Das Möbelstück hatte die Enge zwischen den Regalen überwunden und konnte nun vollends zur Seite geschoben werden. Dahinter zeigte sich auf Augenhöhe das stählerne Vorderteil eines Wandtresors, der die Fläche eines mittleren Fernsehgeräts umfasste. Temming besah sich das fest verankerte Türchen, auf dessen Mitte die Rasterrädchen eines Zahlenkombinationsschlosses angebracht waren. Alles schien seit Jahren unberührt zu sein. Keine Gewaltanwendung. Und die eingestellten Ziffern waren exakt jene, die Temming zuletzt hinterlassen hatte: sein Geburtsdatum. Hätte sich jemand daran zu schaffen gemacht, wäre vermutlich etwas anderes abzulesen gewesen. Er brauchte nicht zu überlegen, welche fünfstellige Kombination die richtige zum Öffnen war. Diese Zahl hatte er einstens gewählt, weil sich mit ihr jenes Ereignis verband, das ihn bis ins Grab verfolgen würde. Es war das Datum von damals: 51068. Als ob ein alter Film auf den Tresor projiziert würde, sah er vor seinem Auge, was sich damals abgespielt hatte. Die Leiter mit den roten Farbflecken. Sie stand am offenen Fenster im zweiten Stock, wo sein ein Jahr älterer Bruder Siegfried eine verklemmte Jalousie reparieren wollte. Ein trüber regnerischer Tag. Ein Samstag. Sie hatten geglaubt, nur zu dritt im Hause zu sein: er und Gisela, seine damalige Verlobte und heutige Ehefrau, sowie Siegfried, der den Eltern versprochen hatte, während ihrer Abwesenheit diese Jalousie wieder gangbar zu machen. Siegfried war handwerklich begabt, hatte damals in einem großen Maschinenbauunternehmen einige vierwöchige Ferienjobs absolviert und dann ein naturwissenschaftliches Studium begonnen. Er galt als ehrgeizig und hatte das Zeug, Vaters Betrieb eines Tages übernehmen zu können.

Ganz sicher wäre es auch so weit gekommen, dachte Walter Temming. Denn er selbst war damals anderen Dingen zugetan gewesen. Er hatte sich politisch engagiert und gespürt, dass sich seine Generation von den Fesseln der autoritären Väter lösen musste. Auch er hatte ein Studium begonnen, aber nicht der Chemie und auch nicht der Betriebswirtschaft, wie es der Vater gerne gehabt hätte, sondern der Philosophie. Eine Entscheidung, die er gegen den energischen Willen seines ›alten Herrn‹ durchsetzte, der sich eigentlich vorgestellt hatte, dass die beiden Söhne den Betrieb eines Tages fortführen würden.

Temming überkam jedes Mal ein Gefühl der Selbstzweifel, wenn er – wie jetzt – an die Wochenenden dachte, an denen er nach Hause gekommen war und es regelmäßig einen heftigen Krach gegeben hatte. Und die Drohungen, ihm eines Tages nur das Pflichtteil zu vererben und Siegfried als den eigentlichen Nachkommen einzusetzen, waren immer unüberhörbarer geworden.

Auch Siegfried vermochte nicht zu verstehen, dass sein Bruder linken Parolen nachhing, entsprechende Bücher und Zeitschriften las und über den Kapitalismus herzog, der doch gerade dieser Generation Wohlstand und Luxus beschert hatte.

Temming versuchte, diese rebellierenden Gedanken zu stoppen. Das waren doch nur Jugendsünden gewesen. Ausrutscher. Es war die Zeit Ende der 60er-Jahre, da lehnten sich die Jungen auf, gingen auf die Straße, skandierten linke Parolen, forderten ein Ende des Vietnamkrieges. Sie wollten Frieden und soziale Gerechtigkeit.

Aber nachdem, was an jenem verhängnisvollen 5. Oktober 1968 geschehen war, hatte sich sein Weltbild verändert. Seines und das seiner damaligen Verlobten und jetzigen Ehefrau Gisela. Es waren die schlimmsten Tage seines Lebens gewesen. Die Eltern schockiert und entsetzt. Dazu polizeiliche Ermittlungen, weil der Arzt einen nicht natürlichen Tod attestiert hatte – wie bei Unglücksfällen üblich. Der Vater zwischen tiefster Betroffenheit, Enttäuschung und Wut hin- und hergerissen. Dazu die Befürchtung, der Ruf der Familie und damit auch der des mühsam aufgebauten Unternehmens könnte beschädigt werden. Für den Vater hatte es nur ein Ziel gegeben: Schaden abwenden und nach vorne blicken, wie er dies als Firmenchef immer getan hatte. Sachlich und nüchtern, emotionslos.

Wenn in Walter Temming diese Tage wieder lebendig wurden, überkamen ihn all die Gefühle, die damit verbunden gewesen waren. Die panische Angst, die Verzweiflung, das energische Auftreten seines Vaters, die Vorwürfe, die Anschuldigungen – und die heißen Diskussionen.

Was war ihm letztlich anderes übrig geblieben, als auf Drängen des mächtigen Vaters in den elterlichen Betrieb einzusteigen – und die bisherige weltanschauliche Gesinnung über Bord zu werfen? Es war genau so gekommen, wie er es sich gewünscht hatte. Mit einem Schlag hatte er die Chance erhalten, alleiniger Erbe zu sein. Sehr schnell hatte er erkannt, dass damit ein Leben ohne finanzielle Sorgen auf ihn zukommen würde. Er entsagte sich revolutionärer Gedanken, gab sein Studium der Philosophie auf und ordnete sich zwangsläufig seinem dominanten Vater unter – auch wenn dies mitunter zu kräftigen und emotional aufgeladenen Auseinandersetzungen führte.

Dass er von der Chemiebranche nicht allzu viel verstand, räumte er nur für sich selbst ein. Nach außen hin versuchte er, den Fachkundigen zu mimen – und hatte außerdem ein Gespür dafür entwickelt, wann fehlende Kompetenz durch energisches Auftreten und Arroganz zu kompensieren war. Er hatte sich im Laufe der Jahre unter den 250 Mitarbeitern zum gefürchteten Juniorchef entwickelt, dem nachgesagt wurde, das Erbe des Firmengründers eines schönen Tages aus mangelndem Sachverstand an die Wand zu fahren.

Die personelle Fluktuation, die mit seiner Übernahme des Chefpostens 1987 begonnen hatte – als sein Vater beinahe so alt war wie er heute –, wertete er deshalb auch nicht als Folge seiner eigenen Defizite bei der Menschenführung, sondern als Zeichen dafür, dass die »verhätschelten Mitarbeiter« eben den heutzutage »flexiblen Anforderungen nicht gewachsen« seien. Er verschickte deshalb Abmahnungen zuhauf, sprach Kündigungen aus und lag mit Beriebsrat und Gewerkschaften im Dauerclinch. Sein Vater hatte ihm zwar, solange er noch lebte, zur Mäßigung geraten, aber das diplomatische Geschick dazu nicht seinem Nachfolger weitergeben können. Ohnehin lastete auf Walter Temming noch immer der Erfolgsdruck des Vaters – auch wenn der schon drei Jahre tot war.

Die Gedanken daran vermischten sich immer häufiger mit den Erinnerungen an jenen Tag im Oktober 1968. Sie zu unterdrücken oder zu ignorieren, war unmöglich. Sie blieben ein Trauma.

Sie kamen immer wieder aufs Neue. Nachts, wenn sie ihm den Schlaf raubten und er schwitzend erwachte. Tagsüber, wenn er im Büro über ein Problem nachsann. Dann gewannen sie Oberhand, blockierten ihm das Gehirn, lähmten seine Aktivitäten. Und wenn Oktober war, mied er es, dieses Dachzimmer im Giebel zu betreten. Er hatte Angst. Manchmal war es ihm so, als sei Siegfried noch im Haus. Als habe sich dessen Seele nicht wirklich von der Welt trennen können. Als schwebe die Seele noch immer unsichtbar durch die Räume.

Nur mühsam gelang es Walter Timming, sich auf sein Vorhaben zu konzentrieren. Hatte er eine Minute so dagestanden – oder zehn? Oder noch länger? Er vermochte sich selbst keine Antwort darauf zu geben. Aus dem Film, der vor seinen Augen abgelaufen war, zeichneten sich wieder diese Rädchen mit den Zahlenringen ab. Sie erinnerten ihn plötzlich an das runde Springbrunnenbecken im Garten, neben dem Siegfried aufgeschlagen war. An das viele Blut um seinen Kopf. Es war genauso rot wie die angetrocknete Farbe an der Holzleiter. Und dann der zweite Schock, als sie sich umgedreht hatten. Sie waren doch felsenfest davon überzeugt gewesen, dass niemand sonst im Hause sein würde.

Er schüttelte den Kopf, als wolle er diesen entsetzlichsten aller Gedanken endlich loswerden. Nein, er musste sich auf den Zahlenring vor sich konzentrieren. Nur deswegen war er heruntergekommen. Er griff an das kalte Metall und stellte mit unsicheren Fingern die richtige Kombination ein, worauf sich das schwer gängige Stahltürchen nach links aufklappen ließ. Ein Schwall modriger Luft zog an ihm vorbei.

Sofort erkannte er, dass alles noch da war: der Aktenordner mit den unzähligen anwaltlichen Schreiben, der Schnellhefter mit den Gutachten und Ermittlungsakten. Er nahm all diese Ordner nacheinander in die Hand, blätterte darin und empfand innere Beruhigung. Es war noch alles da – genau so, wie er es vor Jahrzehnten deponiert hatte. Zufrieden, aber angespannt legte er die Dokumente zurück. Er war gerade im Begriff, das Metalltürchen zu schließen, da drang ein Geräusch an sein Ohr. Er blieb regungslos stehen. Schritte. Es waren Schritte auf Steinboden. Schnell näherkommend. Sein Herz beschleunigte, der Puls raste. Er drehte sich vorsichtig zur Seite, um zwischen Schrank und Regalen einen Teil des Raums überblicken zu können. Doch die offene Tür, durch die die Schritte zu ihm hereinhallten, konnte er nicht sehen. Es würde nur noch ein paar Sekunden dauern, dann würde jemand auftauchen. Jemand, der sich nicht anschlich. Jemand, der ganz energisch näherkam. Der sich seiner Sache ganz sicher war, auf keinen Widerstand zu stoßen. Temming fühlte sich wehrlos. Wehrlos vor einem geöffneten Tresor, der all die Geheimnisse barg, die er ein Leben lang geheim gehalten hatte.

Nebelbrücke

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