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Walter Temming fühlte sich an diesem neblig-tristen Herbsttag wie gerädert. Seiner Frau gegenüber hatte er beim Frühstück von seinen nächtlichen Sorgen und Ängsten nichts erzählt. Sie war nach der abendlichen Diskussion sanft entschlummert. Ihm kam es so vor, als wäre sie sich der Tragweite des Geschehens nicht bewusst. Oder ihre Beschäftigung mit dem Spirituellen gab ihr in dieser Situation Zuversicht und Halt. Temming hatte ihr nach dem Frühstück erklärt, an die frische Luft gehen zu wollen. Dass er entgegen seiner Gepflogenheit nicht in den Betrieb nach Ulm fuhr, um dort – wie in alten Zeiten – in seinem Büro zu residieren, kam ihr jedoch trotzdem seltsam vor. »Ich verschieb meinen Ulm-Tag auf morgen«, hatte er gesagt und ironisch angefügt: »Die werden sich morgen auch noch freuen, wenn ich vorbeikomme.«

Dann war er aus dem Haus gegangen und mit seinem schwarzen BMW ins benachbarte Geislingen gefahren. Er hatte bereits in der Nacht das Bedürfnis verspürt, das Familiengrab seiner Eltern zu besuchen. Sie hatten darauf bestanden, nicht an ihrem Wohn-, sondern an ihrem Geburtsort die letzte Ruhe zu finden – was zwar einige bürokratische Hemmnisse nach sich gezogen hatte, aber schließlich doch ermöglicht worden war, weil die Familie dort ein altes, inzwischen denkmalgeschütztes Grabmal eines vor über 150 Jahren verstorbenen Urahnen pflegte. Der Friedhof lag in dem engen und schattigen Tal der Rohrach, am Stadtrand direkt an der stark befahrenen B 10. Ein kleines Mausoleum hob sich aus dem Bestand mächtiger Kastanienbäume hervor, deren Blätter sich bereits bräunlich verfärbt hatten. Die für hiesige Verhältnisse ungewöhnliche Grablege hatte der örtliche Industriepionier Daniel Straub seinem Sohn Heinrich angedeihen lassen, der 1876 bei Kairo im Alter von erst 38 Jahren verstorben war.

Temming parkte seinen Wagen an der Straße, die zwei Friedhofsbereiche trennte. Als er ausstieg, schlug ihm die raue Herbstluft entgegen. Nebel hüllte die Hänge der Schwäbischen Alb ein, und von dem hoch aufragenden Geiselstein auf der anderen Talseite war nichts zu sehen. Unablässig rauschte der Verkehr auf der nahen B 10, ein paar Höhenmeter weiter oben ratterte ein Güterzug die bewaldete Geislinger Eisenbahnsteige hinab. Wie automatisch, als sei es allein sein Unterbewusstsein, das ihn trieb, lenkte Temming seine Schritte zum eisernen Tor des ersten Friedhofteils, das von der außergewöhnlichen Architektur des Mausoleums dominiert wurde. Der feine Kies knirschte, während er an den ersten Gräberreihen vorbeikam, bei denen sich auch die letzten Ruhestätten einiger Geislinger Ehrenbürger befanden. Ein paar Meter weiter, direkt an der Begrenzungsmauer, hatte Temming sein Ziel erreicht. Er blieb ehrfurchtsvoll vor dem großen Grab mit dem wuchtigen, längst verwitterten Naturstein stehen, in den mit Metallbuchstaben die Namen und Sterbejahre all derer festzementiert waren, die hier ihren Lebensweg beendet hatten: seine Eltern und seine Großeltern – und natürlich Siegfried mit der Jahreszahl 1968. Und irgendwann würde auch sein Name hier zu lesen sein.

Der sommerliche Blumenschmuck, den die mit der Grabpflege beauftragte Gärtnerei eingepflanzt hatte, war bereits verwelkt. Die Natur führte den Menschen alljährlich das Kommen und Gehen vor Augen, das Werden und Vergehen. Ein ewiger Kreislauf. Ein Kreislauf, der Vergangenes und Neues gleichermaßen beinhaltete. Gab es eine Verbindung zwischen dem, was vergangen war, und dem, was gerade ist – und sein wird?

Immer, wenn er hier stand, versank er tief in solche finsteren Gedanken, die er dann vergeblich zu verdrängen versuchte. Er wollte dankbar sein für die Tage und Wochen, die er seit seinem letzten Friedhofsbesuch erleben durfte. Und doch war er damit selbst dem Grabe wieder ein Stück weit nähergekommen.

Jeder Tag sei ein Geschenk, hatte er mal irgendwo gelesen – und es gelte, sorgfältig mit dieser Zeit umzugehen. Streit, Hass und Zorn waren hingegen dazu angetan, dieses wunderbare Geschenk zu zerstören. Manchmal, wenn er sich im Bekannten- und Freundeskreis umhörte und von den Zerwürfnissen innerhalb der Familien erfuhr, überkam ihn ein Gefühl des Mitleids mit jenen, die einen Tag nach dem anderen nur damit verbrachten, sich gegenseitig zu zerfleischen. Und dies meist wegen Lappalien und Lächerlichkeiten. Dabei war nichts für die Seele schädlicher und schlimmer als Disharmonie. Da musste er sogar den Philosophien seiner Frau recht geben, die in diesem Zusammenhang von ›gestörten Wellen‹ sprach. Sie verglich dies mit den gleichmäßigen Wellen, die der Wind auf einem ruhigen Teich zauberte und die sofort in ein wildes Chaos umschlugen, wenn etwas von außen ihr harmonisches Bild störte.

Aber wahrscheinlich lag es im Wesen des Menschen, sozusagen einprogrammiert in die Gene, dass es vielen so schwerfiel, tolerant und kompromissbereit zu sein. Temming hatte während seines Berufslebens oft erkennen müssen, dass viele Menschen nur das, was sie selbst durchsetzen wollten, für das einzig Richtige hielten – und jedwede Kritik daran nicht gelten ließen. Die Neigung, auch auf Kompromisse einzugehen, war heutzutage nicht mehr weit verbreitet. Alle predigten Toleranz, meinten damit aber, dass nicht sie selbst, sondern gefälligst der andere sie walten lassen sollte.

Diese falsch verstandene Art des Durchsetzungsvermögens wurde insbesondere in den unseligen Doku-Soaps der privaten Fernsehstationen propagiert: nichts gefallen lassen, aufmucken, Flagge zeigen. Beschweren, meckern, einfordern, draufhauen. Inzwischen war eine ganze Generation unter dem Einfluss solcher ›Vorbilder‹ herangewachsen. Oder besser gesagt: herangezogen worden. Denn jede Gesellschaft, so durchzuckte es Temming, produziert ihre Nachfolger ja selbst.

Temming, dessen Blick seit Minuten auf die Namen seiner Vorfahren gerichtet war, überkam wieder jenes Schuldgefühl, das ihn an jedem Tag seines Lebens verfolgt hatte. War er nicht auch auf seinen Vater zornig gewesen, der ihm das Erbe hatte versagen wollen? Neidisch auf Siegfried, der ganz andere Talente und Neigungen hatte? Und nun war alles wieder aufgebrochen. Eine nie richtig geheilte Wunde hatte seit gestern wieder zu schmerzen begonnen. Der Vater hatte ein Geheimnis mit ins Grab genommen – und er, der Nachkomme, musste noch immer damit leben, jetzt im Alter von 70 Jahren. Auch er würde ein Geheimnis mit ins Grab nehmen. Sogar zwei.

Und was noch schlimmer war: Es gab da jemanden, der genau so viel wusste. Jemand, der sich anmaßte, sich als Siegfried auszugeben. Als Toter. Geschmackloser ging es nicht mehr. Aber woher konnte dieser Unbekannte die ganzen Details wissen? Temming musste an die Leiter denken, an die Farbe – und an Barbara.

Barbara?, schoss es ihm durch den Kopf. Barbara war auch tot. Wenige Tage nach dem schrecklichen Ereignis war sie bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Hochschwanger war sie mit ihrem Fahrrad von einem unbekannten Pkw erfasst worden. So stand es im Polizeibericht. Was war eigentlich aus diesem Kind geworden, das die Ärzte hatten lebend zur Welt bringen können? Temming musste sich eingestehen, niemals etwas darüber erfahren zu haben. Allerdings hatte er sich auch nicht darum gekümmert. Dass von einem Vater nirgendwo die Rede gewesen war, hatte er damals zur Kenntnis genommen. Aber, so wurde es ihm nun bewusst, dieses Kind müsste jetzt 49 Jahre alt sein. Aufgewachsen ohne Mutter – aber wo?

»Auch schon wieder drei Jahre her«, holte ihn eine Frauenstimme in die Realität zurück. Er hatte niemanden kommen hören. Oder er war so sehr in seine Gedanken versunken, dass die Schritte auf feinem Kies gar nicht in sein Bewusstsein dringen konnten.

Temming drehte sich ruckartig um und sah in das von Sorgenfalten durchzogene Gesicht einer kleinen älteren Dame. Er kannte sie, doch wollte ihm ihr Name nicht einfallen. »Der Senior ist auch schon drei Jahre tot«, wiederholte sie und deutete mit der Hand auf die Jahreszahl 2014, die hinter dem Namen Georg Temming stand.

»Ja, da sieht man, wie schnell die Zeit vergeht«, erwiderte Walter Temming charmant und bedrückt gleichermaßen.

»Ihr Herr Vater war bis zuletzt gut drauf. Immer auch zu einem Späßchen bereit«, lächelte die Frau. »Und wie man so hört, hat er auch Ihnen viel Gutes getan.«

Temming zuckte innerlich zusammen, ließ es sich aber nicht anmerken, sondern bückte sich, um einen Löwenzahn aus der Blumenreihe zu zupfen. »Ich hab so gut es ging, sein begonnenes Lebenswerk fortgeführt«, sagte er bescheiden.

Sie antwortete mit einem Zitat, das er allerdings nicht zuordnen konnte: »Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen.«

Er erhob sich und sah sie fragend an, weshalb sie klarstellte: »Ist von Goethe. Hat er dem Faust in den Mund gelegt – bevor der sich mit dem Gedanken zum Selbstmord auseinandersetzt.«

Temming war nicht so bewandert in der Literatur, als dass er damit etwas hätte anfangen können. »Selbstmord?«, entfuhr es ihm stattdessen. »Was hat das mit einem Erbe zu tun?«

»Na ja«, sah ihn die adrett wirkende Dame an, die längst das Rentenalter erreicht hatte, »ein Erbe kann auch zur Last werden, wenn man unter dem Druck steht, es zu bewahren und weiterzuentwickeln.«

Temming wusste nicht, worauf sie hinauswollte. Er hätte am liebsten das Gespräch beendet, denn ihm stand der Kopf nicht nach einer solchen Diskussion. Schon gar nicht hier auf dem Friedhof, am Grab seiner Vorfahren und seines Bruders.

Doch die Dame ereiferte sich mit weiteren Bemerkungen, die ihn nervten: »Oftmals gibt es in den Familien wegen des Erbes Zwietracht und Unfrieden.« Noch während sie dies sagte, schwirrte ein schwarzer Vogel im Tiefflug an ihnen vorbei und landete auf dem Grabstein.

Es war ein Rabe, der mit zuckenden Kopfbewegungen die Umgebung beobachtete. Temming blieb regungslos stehen, die Frau neben ihm wandte sich ab. »Ein schwarzer Vogel«, sagte sie im Weggehen, »das ist kein gutes Zeichen. Manchmal ist es gut, die Zeichen des Himmels nicht zu missachten.«

Temming spürte einen Kloß in der Kehle. Während er sich umdrehte und der Frau hinterhersah, die sich eilig zwischen den Gräbern entfernte, flog der Rabe wild krähend davon.

Temming war es für einen Moment, als habe er die letzten Minuten nur geträumt. Hatte er sich diese Szene nur eingebildet? War er hierhergekommen, um Teil eines geradezu gespenstisch anmutenden Dialogs zu werden? Quatsch, mahnte er sich. Das war Realität gewesen. Das Geschwätz einer alten Dame, das rein zufällig auf fatale Weise zu seiner heutigen Stimmungslage passte. Doch mit einem Schlag – als sich am nahen Steilhang ein schneeweißer ICE die Steige hinaufschlängelte – überkam ihn ein Gedanke, über den er selbst erschrak: dass eine ererbte Last unerträglich sein könnte. So unerträglich, dass es keinen Ausweg mehr geben würde. Weil sich etwas anbahnte, vor dem er panische Angst hatte. Vergangene Nacht war sie ins Unermessliche gestiegen. Denn sie würden ihn einsperren, ganz sicher. In Handschellen abführen, einkerkern. Wie einen Schwerverbrecher. Ihm den Prozess machen, vor aller Öffentlichkeit. Eine Schande für die Familie und für das Unternehmen. Dass er bereits 70 war, das würde ihm keine mildernden Umstände einbringen.

Er sog die feucht-kühle Herbstluft in sich hinein, warf noch einen Blick auf das Grab und wünschte sich plötzlich, diese grausame Welt verlassen zu dürfen.

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