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ОглавлениеSven Temming hatte bis spätabends in seinem Büro gearbeitet, E-Mails gelesen und dabei immer wieder den Gedanken an diesen jungen Mann verdrängt. Adam Jarowski war kein sehr angenehmer Zeitgenosse. Aufsässig, egoistisch und unberechenbar. Temming hatte den Umgang mit Personal nie gelernt und kompensierte fehlende Menschenführung mit Arroganz. Zwar hatte er erst ein Jahr lang das Sagen, aber spürte längst, wie ihm von Seiten der Mitarbeiter ein Unbehagen entgegenschlug. Sein Vater Walter war zwar auch herrschsüchtig und polternd gewesen, hatte aber eine natürliche Autorität ausgestrahlt, die ihm Respekt verschaffte. Er, der notgedrungen in dessen Fußstapfen treten musste, verscherzte tagtäglich ein Stück mehr an Sympathie und wurde zur beliebten Zielscheibe eines – wie er es empfand – geradezu militanten Betriebsratsgremiums, das von den Gewerkschaften unterlaufen war.
Jarowski würde gewiss alle Register ziehen, um die Entlassung hinauszuzögern und womöglich eine Abfindung zu erstreiten. Denn die Vorwürfe, die gegen ihn erhoben wurden, fußten auf einer Reihe von Behauptungen anderer Mitarbeiter. Habhafte Beweise, dass Jarowski mit einer aggressiven Aktionsgruppe von Umweltschützern zusammenarbeitete, gab es hingegen nicht. Und Jarowski war gewiss clever genug, um zu behaupten, er pflege rein aus beruflichem Interesse enge Kontakte zu jenen Kreisen, die in der Chemieindustrie die Giftmischer der Nation sahen.
Temming überkam plötzlich ein ganz anderer Gedanke: Typen wie Jarowski war es auch zuzutrauen, dass sie zu ganz anderen Mitteln griffen. Die Gewaltbereitschaft in der Bevölkerung hatte in den vergangenen Jahren erheblich zugenommen. Und womit Politiker jederzeit rechnen mussten, das galt für die Wirtschaftsführer erst recht. Temming junior war von diesem Szenario verunsichert. Er musste an seine junge Frau Sylvia und den vierjährigen Sohn Felix denken. Nicht selten waren in der Vergangenheit die Angehörigen von Inhabern großer Firmen entführt worden. War so etwas auch von Jarowski zu befürchten? Temming versuchte, sich zu beruhigen. Dass er jetzt übernervös und gereizt reagierte, lag ganz gewiss an dem stressigen Tag, den er heute durchzustehen hatte.
Kurz nach 21 Uhr entschied er, den Computer in den Ruhemodus zu schicken und nach Hause zur Familie zu fahren. Er knipste die Lichter im Büro aus und verließ das weiträumige Firmenareal. Wenige Minuten später rollte sein nagelneuer dunkler Mercedes GLC aus der Tiefgarage, vorbei am Pförtner, dem Temming freundlich zuwinkte.
Der Herbstabend war unwirtlich und längst dunkel. Für einen Moment trauerte Temming den hellen Sommertagen nach, die unendlich lang zurückzuliegen schienen. Die Fahrt führte ihn aus dem Ulmer Stadtrandgebiet hinaus auf die B 30, auf der in Richtung Friedrichshafen nur wenig Verkehr herrschte. Bereits zwei Ausfahrten weiter verließ er sie bei Laupheim wieder, um ein beschauliches Wohngebiet in der Nähe des dortigen Flugplatzes anzusteuern. Der Asphalt der kleinen Nebenstraße glänzte feucht, vereinzelt flatterte Laub durch die Oktobernacht. Der Nieselregen schien das Licht der Straßenlampen zu neutralisieren.
In Sichtweite zu seinem geräumigen Einfamilienhaus schwenkte das Garagentor auf, sodass er den SUV-Mercedes auf der breiten Hofeinfahrt mit einem weit ausholenden Bogen ins Trockene chauffieren konnte. Sofort ließ er hinter sich das Tor nach unten gleiten – aufmerksam prüfend, dass sich niemand ungesehen hereinschleichen konnte. Und wieder spürte er das Unbehagen, das ihn seit dem Zusammentreffen mit Jarowski heute beschlichen hatte.
Nie zuvor war ihm die schlechte Beleuchtung dieser Nebenstraßen aufgefallen. Nie zuvor hatte er befürchtet, jemand könnte sich über die Garage Zugang zum Haus verschaffen. Heute hingegen hatte er gelauscht, ob das Tor auch tatsächlich in die automatische Verriegelung fiel. Erst danach öffnete er die Verbindungstür zum Haus, knipste im Flur das Licht an, zog hinter sich die Tür nicht nur ins Schloss, sondern verriegelte sie auch mit dem Schlüssel. Seine Frau, die ihm mit dem ungestümen Felix im Schlepptau entgegenkam und ihm einen Kuss auf die Wange drückte, war irritiert: »Was ist’n heute los? Warum schließt du die Garagentür ab?«
Temming war für einen Moment verlegen und nahm Felix auf den Arm, der ihm sogleich ein bunt bemaltes Blatt Papier vor die Nase hielt. »Hab ich gemacht«, sagte der Bub stolz, während sein Vater ernst zu seiner Frau Sylvia blickte.
»Nichts Besonderes, kein Grund zur Beunruhigung. Aber in diesen Zeiten sollte man vorsichtig sein.«
»Vorsichtig?« Aus Sylvias hellem, jugendlichen Gesicht war das Strahlen verschwunden. »Ist was passiert?«
»Nein, nein. Aber ich hab heut einen Artikel über Einbrüche gelesen. Die Kripo rät mit Beginn der dunklen Jahreszeit dringend dazu, Türen nicht nur ins Schloss zu ziehen, sondern richtig zu verschließen«, log er, um vor den Ohren von Felix nichts Besorgniserregendes zu sagen. Die Seele eines Kindes war leicht zu verletzen. Er zwinkerte deshalb seiner Frau zu und deutete ihr damit an, dass er später mehr dazu berichten werde.
Temming setzte seinen Sohn wieder ab, der mit ihm stolz Hand in Hand in die großzügig gestaltete Diele ging, während Sylvia hinter ihnen herkam und Felix davon zu überzeugen versuchte, dass es Zeit fürs Schlafengehen wurde. Erst nachdem Temming zum wiederholten Male das gemalte Kunstwerk gelobt hatte, ließ sich Sohnemann nach oben ins Bett bringen.
Zufrieden stellte Temming fest, dass Sylvia mit dem Abendessen auf ihn gewartet hatte. Er hing sein regenfeuchtes Jackett an die Garderobe, wusch sich die Hände und ließ sich am Esszimmertisch nieder. Sylvia hatte ihm ein kühles Pils eingeschenkt. Sie schaffte es perfekt, ihm nahezu jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Er nahm einen kräftigen Schluck, lehnte sich zurück und stoppte den Film, der ihm in seinem Kopf den abgelaufenen Arbeitstag vorspielen wollte. Nein, er wollte jetzt nicht mit Problemen konfrontiert werden, mit denen er sich als geschäftsführender Gesellschafter eigentlich gar nicht auseinandersetzen musste. Er war doch selbst schuld gewesen, dass er diesen Kerl überhaupt bis zu sich hatte vordringen lassen. Es wäre ein Leichtes gewesen, ihn an den Personalchef zu verweisen. Aber noch war das Unternehmen überschaubar geblieben – und noch musste er sich mit Strukturen abfinden, die einst von Großvater Georg auf Vater Walter übergegangen waren und die nicht von heute auf morgen geändert werden konnten. Aber er arbeitete daran.
Noch während er Sylvias Schritte in der Diele näherkommen hörte, streifte sein Blick gedankenversunken über das Sideboard, auf dem ein Herbstblumenstrauß stand. Doch neben der Vase entdeckte er ein Objekt, das er nie zuvor gesehen hatte: kegelförmig und auf der Grundfläche stehend, knapp drei Zentimeter hoch, die Seiten aufgeraut und grau, dazwischen filigrane Öffnungen. Wie ein Spielzeugmodell, dachte Temming.
Seine Frau lächelte ihn aufmunternd an. Sie hatte sich für ihn schick gemacht, trug eine enge Jeans und einen dünnen Wollpulli. Wer sie so sah, hätte sie auf knapp 30 geschätzt. In Wirklichkeit war sie zehn Jahre älter.
»Felix ist hundemüde«, sagte sie und holte aus der Küche die heiße Fertigpizza, die sie nach seiner telefonischen Ankündigung, er werde Feierabend machen, in die Backröhre geschoben hatte.
»War er denn lieb?«, fragte er interessiert.
»Ja, natürlich, er ist ganz der Vater«, stichelte sie und verteilte die Schnitten. »Aber jetzt sag mir bitte, warum du die Garagentür abgeschlossen hast.«
Sie wünschten sich einen guten Appetit und machten sich über die Pizza her. Temming sah die Chance, Zeit für eine Antwort zu gewinnen. »Sag du mir zuerst, was das für ein seltsames Ding ist, das da drüben neben der Vase liegt. Neues Spielzeug von Felix?«
Sie drehte sich schnell um. »Ach das.« Ihre Stimme klang seltsam. »Das hab ich heut Vormittag aus unserem Briefkasten geholt.«
»Wie bitte?« Temming nahm das Objekt ins Visier. »Aus dem Briefkasten?«
»Ja, es war in ein altes Kuvert gewickelt, ging wohl gerade so durch den Briefkastenschlitz. Kam aber nicht mit der Post, sondern hat wohl jemand im Laufe der Nacht reingesteckt.«
Sylvia stand auf und holte das Objekt, das aus Plastik bestand, an den Tisch. »Weißt du, was das sein soll?«
»Keine Ahnung.« Er nahm es in die Hand, um es aus der Nähe betrachten zu können. »Doch«, beeilte er sich zu sagen. »Das ist ein Modell der Apollo-Kapsel, mit der die Amerikaner 1969 zum Mond geflogen sind.«
»Ah«, staunte Sylvia. »Tatsächlich. Da hätte ich auch draufkommen können.«
Temmings Stimmung veränderte sich. »War da etwas dabei? Ein Brief, ein Schreiben?«
Sylvia verstand seine plötzliche Aufregung nicht. »Kennst du das Ding? Hat das was zu bedeuten?«
Er hatte sein Besteck beiseitegelegt, um die Mini-Raumkapsel mit beiden Händen untersuchen zu können. Es war ein ziemlich primitives Modell, an dessen Spitze sich eine winzige Öse befand. Vielleicht war es ein Schlüsselanhänger gewesen – ein besonders originelles Stück für die Zeiten des Mondflugs. Damals, so dachte Temming, war sicher ein wahres Mondfieber ausgebrochen – auch wenn angesichts der noch spärlichen Medienlandschaft keine solche Euphorie angeheizt wurde, wie dies heute der Fall wäre. Nähme man das heutige Spektakel, das für jedes zweitklassige Fußballspiel im Fernsehen inszeniert wurde, als Maßstab für eine Mondlandung, dann wären zweifelsohne tagelange Sondersendungen und Liveschaltungen in die Apollo-Kapsel, wenn nicht gar ganze Talk-Shows mit den Astronauten zu vermuten.
Diese Gedanken jagten ihm plötzlich durch den Kopf – nur ausgelöst von diesem winzigen Objekt.
»Suchst du was?«, riss ihn die Stimme Sylvias in die Realität zurück.
»Nein, ich bin nur fasziniert, mit welch primitiven technischen Mitteln die Amerikaner zum Mond geflogen sind«, lenkte er ab. »Aber wer uns dieses Ding geschickt hat, weißt du nicht?«
»Nicht wirklich.« Sylvia stand auf und griff in eine Ablage, in der unerledigter Schriftverkehr lag. »Ein Zettel war dabei, aber möglicherweise hat der gar nichts mit dem Ding zu tun. Oder sagt dir der Name Barbara etwas?«
»Barbara?«, wiederholte Temming reflexartig. »Wieso Barbara?«
»Hier«, Sylvia reichte ihm das zerknitterte Papier, auf dem ziemlich kleingedruckt nur ein einziger Satz stand: »Barbara hat’s gefunden – W. wird sich freuen.«
Temming spürte, wie sämtliches Blut aus seinen Gliedern wich. Noch während er den Text ein zweites Mal überflog, wollte Sylvia wissen: »Kannst du dir darunter was vorstellen?«
»Ich …« Er räusperte sich. »Ich geh mal davon aus, dass das gar nichts mit uns zu tun hat. Das hat sicher irgendjemand nur so in unseren Briefkasten gesteckt. Oder war da eine Anschrift drauf?«
»Nein, nichts. Es ist möglicherweise mit dem Stapel der üblichen Werbeprospekte reingeschoben worden.«
»So sieht es wohl aus, ja«, pflichtete ihr Sven erleichtert bei.
»Es sei denn …«, gab Sylvia zu bedenken und schob ein Stück Pizza in den Mund, »… es sei denn, mit ›W-Punkt‹ ist dein Herr Papa gemeint.«
»W-Punkt?«, wiederholte Sven, als sei er bei einer Lüge ertappt worden. »Du meinst, das könnte Walter heißen? Aber warum bringt man’s dann zu uns?«
»Weil für den Absender vielleicht Laupheim näher liegt als Kuchen«, erwiderte Sylvia spontan, um noch anzufügen: »Oder man will auch uns etwas wissen lassen, was bisher nur dein Vater weiß?«